Die Menschen in diesem Haus waren ständig am Herumbrüllen.

Transkript

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2 Kapitel 1 I ch will nicht, dass du dich aufregst, wenn ich dir das erzähle«, sagte Richard. Er atmete schwer ins Telefon.»Aufregen über was?«, fragte Joanie.»Du klingst jetzt schon aufgeregt, Joanie. Vielleicht sollte ich es dir lieber später erzählen.aufregen über was?beruhigst du dich?ich hasse es«, erklärte Joanie,»wenn jemand ein Gespräch so beginnt. Versteh das nicht falsch. Reg dich nicht auf. Es ist nichts Persönliches, aber Dann weiß man schon, dass es schlecht ausgeht.«schweigen. Joanie betrachtete ihre Nägel und lauschte Richards Atem. Sie konnte warten. Zum Teufel, sie konnte ewig warten. Das beherrschte sie inzwischen gut. Die Person, die das Schweigen kontrolliert, kontrolliert die Unterhaltung. Das hatte sie irgendwo gelesen.»aufregen über was?«, fragte sie erneut. Ihr Tonfall war unbeschwert, beiläufig. Es klang gut. Wie war noch mal das Wort? Ach ja. Nonchalant.»Also«, begann Richard,»B. J. ist schwanger. Ich dachte, du solltest es erfahren.«7

3 »D. J.? Wer ist das?b. J., Joanie. Du weißt schon, wer sie ist. Wir leben jetzt seit drei Monaten zusammen.oh. Wirklich? Der kleine Teenager?Sie ist neunundzwanzig, Joanie. Sie wird dreißig sein, wenn das Baby Du gottverdammtes Arschloch!«, schrie Joanie und knallte den Telefonhörer auf. Die Menschen in diesem Haus waren ständig am Herumbrüllen. Ivy hatte ihre neunundvierzigjährige Tochter deutlich schreien gehört. Sie hatte das Wort»Arschloch«gehört und einen weiteren, noch abstoßenderen Ausdruck. Ivys Mutter, die seit etwa dreißig Jahren tot war und der niemand besonders nachweinte, hätte ihrer Tochter den Mund mit Seife ausgewaschen, hätte sie jemals solche Wörter von sich gegeben.»habe ich dich etwa so schlecht erzogen?«, hätte ihre Mutter mit zusammengekniffenen Augen und geschürzten Lippen gefragt. Doch es war das einundzwanzigste Jahrhundert, und man wusch niemandem mehr den Mund mit Seife aus, wie Ivy sich öfter erinnerte. Außerdem wohnte sie im Haus ihrer Tochter und versuchte hilfsbereit, unauffällig und auf keinen Fall kritisch zu sein. Ihr stand es nicht zu, etwas zu bemängeln. Angestrengt spähte Ivy ins dunkle Wohnzimmer. Ihre Tochter saß zusammengesunken auf dem Sofa, die Arme verschränkt, die Fernbedienung an die Brust gedrückt. Das grelle Licht des Bildschirms erhellte ihr Gesicht. Ent weder die Fernsehschatten bewegten sich darauf, oder die Gesichtsmuskeln ihrer Tochter liefen Amok und zuckten wie wild gewordene Zeichentrickfiguren. Sie sah aus, als wäre sie kurz 8

4 davor, eine Schrotflinte hervorzuziehen und sie zu entsichern.»roxanne«, fragte Ivy,»habe ich dich eben schreien gehört?ich habe keine Ahnung, was du gehört hast, Mutter«, entgegnete Joanie missmutig.»na ja, vielleicht kam das Schreien ja aus dem Fernseher«, sagte Ivy entgegenkommend.»was schaust du dir gerade an?«joanie hob die Fernbedienung und schaltete den Fernseher mit einem energischen Klicken aus, worauf es im Zimmer dunkel wurde.»ich schaue gar nichts an«, erwiderte sie.»möchtest du einen heißen Tee?«, fragte Ivy.»Ich hasse Tee, Mutter. Und das weißt du.stimmt. Du hast Tee schon immer gehasst. Dein Bruder war der, der ihn mochte.«ivy blieb in der Tür stehen und dachte noch ein paar Sekunden nach.»willst du reden?«joanie zog ein Sofakissen an die Brust und schlang die Arme darum.»nein«, antwortete sie.»vielen Dank, Mutter. Ich möchte einfach nur allein sein.und dann«, sagte Joanie,»hat er, verdammt noch mal, den Nerv, mir zu erzählen, dass er und dieser kleine Albino ein Baby bekommen.sie ist ein Albino?«, fragte Mary Margaret.»Das hast du mir nie erzählt.«joanie seufzte, während sie sich mit dem Telefon am Ohr auf dem Sofa niederließ. Sie sollte lieber vorsichtig sein. Wahrscheinlich schlich ihre Mutter noch herum und versuchte sie zu belauschen. Immer bereit, sie zu kritisieren wie schon Joanies ganzes Leben lang. 9

5 »Na ja, vielleicht kein echter Albino«, sagte sie etwas leiser.»aber sehr blass. Wie ausgewaschen.hat sie rosa Augen?Mary Margaret, es ist ernst. Caroline kriegt wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch, wenn sie von dieser Schwangerschaft erfährt Du hast ihr noch nichts davon erzählt?nein! Natürlich nicht. Du bist die Erste, mit der ich darüber rede.und wie geht es Caroline zurzeit?«, wollte Mary Margaret wissen. Caroline war Joanies Tochter.»Wie soll es einem fünfzehnjährigen Mädchen schon gehen? Keine Ahnung. Und sie wird es mir sicher nicht erzählen. Sie hasst mich. Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit heimkomme, schließt sie sich in ihrem Zimmer ein.sie war so ein süßes Mädchen.Sie ist immer noch ein süßes Mädchen«, erwiderte Joanie rasch, auch wenn»süß«nicht ganz das richtige Wort war, um die Caroline dieser Tage zu beschreiben. Andere s-wörter wären passender gewesen: schlecht gelaunt, stur, süffisant, spöttisch, schweigsam, schadenfroh.»dabei hasst sie dich wahrscheinlich gar nicht«, vermutete Mary Margaret nach einer zu langen Pause.»Sie verhält sich, als würde sie mich hassen. Du solltest sehen, wie sie jedes Mal die Augen verdreht, wenn ich etwas sage.das sollte sie nicht tun. Das ist unhöflich.teenager sind nun mal unhöflich, Mary Margaret. Es ist ihre Art, ihre Unabhängigkeit zu beweisen.o Gott! Hör bloß auf damit. Du klingst ja wie eine Therapeutin.«Mary Margaret hatte nie eine Therapie gemacht. Sie war 10

6 auf einer Ranch in Westtexas aufgewachsen, wo die Menschen der Meinung waren, man solle nicht jammern, sondern den Mund halten und über seine Probleme hinwegkommen. Das Leben sei eben hart. Und ungerecht! Na und?»ich weiß, dass Caroline mich nicht hasst«, sagte Joanie langsam.»nicht wirklich. Aber sie denkt, dass sie mich hasst. Das ist schlimmer.woher weißt du, was sie denkt?ich bin ihre Mutter, Mary Margaret. Ich merke es.«11

7 Kapitel 2 D ein Vater hat mir am Telefon Neuigkeiten erzählt«, sagte Joanie zu Caroline, während sie mit ihr am nächsten Morgen zur Schule fuhr.»warum sagst du mein Vater?«, fragte Caroline. Sie strich sich das lange, glatte Haar über die Schultern zurück. Es hätte geschnitten werden müssen, aber sie ignorierte Joanies gelegentliche Hinweise, dass man es»nur ein bisschen stutzen«müsse, beharrlich und ließ ihr Haar weiterwachsen. Im Moment sah es aus wie schlaffes, nasses Garn.»Wie sollte ich sonst sagen?richard. Heißt er nicht so?«joanie hielt an der Ampel und blickte nach vorn. Neben ihr saß Caroline über ihr Handy gebeugt und schrieb eine SMS. Simsen, so nannten sie es. Caroline war ständig damit beschäftigt, SMS zu schreiben oder zu lesen. Dabei starrte sie auf jenes kleine rechteckige Lichtfeld, als erschiene dort der Sinn des Lebens. Der Rest der Welt unwichtig, langweilig, voller erwachsener Loser wie Joanie verschwand dabei völlig.»na gut. Richard. Ich wollte nur klarstellen, von wem ich spreche «12

8 »Ist mir klar. Warum sollte ich das durcheinanderbringen?«weiteres, intensiveres Simsen. Was Caroline wohl gerade eintippte? Ich hasse meine Mutter, ohne Zweifel. Doch wahrscheinlich gab es einen Code dafür wie bei dem Witz, den Joanie einmal gelesen hatte, in dem es um Komiker ging, die so vertraut mit den jeweiligen Programmen der anderen waren, dass sie bloß die Nummern ihrer Witze zu rufen brauchten, und schon lachten alle. Nummer eins: Ich hasse meine Mutter. Nummer zwei: Meine Mutter ist ein Miststück. Nummer drei: Mein Gott! Du solltest sehen, wie lächerlich sie heute angezogen ist! Ich will auf keinen Fall mit ihr zusammen gesehen werden.»caroline«, sagte Joanie.»Es ist nicht gerade hilfreich, wenn du in diesem Tonfall mit mir sprichst.«weiteres Simsen, wildes, intensives Simsen. Welche Nummer tippte sie jetzt ein? Joanie hatte gelesen, dass Simsen beim Autofahren sehr gefährlich war. Und der Versuch, die SMS seiner Teenagertochter beim Autofahren zu lesen, war sogar noch gefährlicher. Joanie war kurz davor, ihr Auto um einen Baum zu wickeln. Gut. Vielleicht wäre dann das widerliche kleine Handy kaputt, für das Joanie monatlich ein Vermögen zahlte. Joanie und Caroline würden aus dem Autowrack stei gen, unverletzt und heilfroh, am Leben zu sein. Zutiefst erschüttert durch diese Erfahrung würden sie einander wieder näherkommen und glücklich sein, wie in früheren Zeiten. Solche Dinge geschahen. Nicht sehr häufig. Aber ab und zu.»caroline«, bat Joanie.»Hör mir zu!ich höre ja zu.dein Vater ich meine, Richard und seine Freundin Freundin? Was für eine Freundin?Ach, du weißt schon. Die, mit der er seit ein paar Monaten 13

9 zusammen ist.«sei positiv, sagte Joanie sich. Untergrab unter keinen Umständen den anderen Elternteil deines Kindes durch deinen Tonfall oder den Inhalt deiner Worte. Das ist unfair gegenüber deinem Kind und schadet der reifen Beziehung, die du zu deinem ehemaligen Gatten aufzubauen versuchst.»b. J. Die die Blonde.Ach. Ja. Die.«Caroline zuckte mit den Schultern. Sie sah nach vorn. Wenigstens hatte sie jetzt aufgehört zu simsen.»also«, fuhr Joanie mit leicht unsicherer Stimme fort,»ich habe Neuigkeiten über sie. Richard und B. J. bekommen ein Baby.«Carolines Kopf neigte sich weiter nach vorn, über ihren Schoß. Sie starrte auf ihr Handy, das sie noch umklammert hielt. Sie sagte nichts, schrieb nichts. Aber Joanie konnte sehen, wie ihr eine verräterische Röte den Hals hochstieg. Caroline hatte dünne, fast durchscheinende Haut wie bei einem Vogeljungen, bevor ihm Federn wuchsen. Direkt unter der Oberfläche war stets zu erkennen, was sie fühlte.»schätzchen, ich weiß, dass dich das aufregt«, sagte Joanie.»Es ist eine Überraschung. Es ist Es regt mich nicht auf. es ist bloß ein Schock, das ist alles. Du hast nicht damit gerechnet und Warum hörst du mir nie zu, Mutter?«Carolines Stimme war scharf, voller Sarkasmus, wie immer, wenn sie Joanie Mutter statt Mama nannte.»es regt mich nicht auf.«joanie hielt vor Carolines Highschool. Als sie sich an ihre Tochter wenden wollte, war Caroline bereits ausgestiegen und hatte die Autotür zugeknallt. Ihr dünnes Gesicht war blass und starr. Es hatte sich verändert, war spitzer geworden. Joanie erkannte es kaum noch. Manchmal suchte sie darin nach dem ernsthaften, süßen Mädchen, das Caroline einmal gewesen war. 14