Überleben von starker Unterkühlung auf See
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1 Überleben von starker Unterkühlung auf See Dr. med. Wolfgang Baumeier Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Der Leitsatz beim Umgang mit Unterkühlten muss lauten: Unterkühlte haben deutlich bessere Chancen auf eine erfolgreiche Wiederbelebung als kritisch erkrankte Menschen mit normaler Körpertemperatur. Voraussetzung ist, dass dies bei den Rettungs- und Behandlungsmaßnahmen hinreichend berücksichtigt wird. Die Wärmeproduktion des Menschen beträgt in Ruhe etwa Watt, bei Schwerarbeit wird dieser Wert verzehnfacht. Wärmeabgabe erfolgt durch Konvektion, Konduktion, Strahlung und Verdunstung über die Körperoberfläche. Bei Kälte wird das durchblutete Hautareal durch Verengung der Kapillaren vermindert. Im Wasser ist der Verlust durch Wärmeleitung 25-mal größer als bei Luftkontakt. Unterhalb einer kritischen Wassertemperatur steigen der Stoffwechsel und damit die Wärmeproduktion in linearer Relation zu abnehmender Wassertemperatur. Allerdings sind Stoffwechsel und Muskelaktivität (Muskelzittern) nicht über längere Zeit in der Lage, die Temperatur zu halten. Schwimmen oder andere körperliche Aktivitäten verstärken den Wärmeverlust. Der Sauerstoffverbrauch in Ruhe nimmt anfangs um etwa 7% pro Grad Celsius ab. Unterhalb von 28 C ist der Sauerstoffverbrauch-Verbrauch auf 25-40% reduziert. Der Versuch, Überlebenszeiten im Wasser vorherzusagen, ist schwer möglich, da viele nicht vorhersagbare Einflussgrößen bestehen. Am englischen Institute of Naval Medicine hat man seit 1990 systematisch Wasserunfälle im Bereich der englischen Küste anhand von Fragebögen ausgewertet (UK National Immersion Incident Survey), um daraus Voraussagen für das Überleben in kalten Wasser ableiten zu können. 930 Fragebögen ( ) wurden ausgewertet. Aus dem Material wurde eine 50%-Überlebenswahrscheinlichkeit ermittelt ohne Auftriebshilfe: bei 5 C 3 Stunden bei 10 C 6 Stunden bei 15 C 12 Stunden mit Auftriebshilfe: bei 5 C 17 Stunden bei 10 C >24 Stunden Eine medizinische Behandlung oder Behandlungsversuch wurden nicht erfragt, obgleich man heute weiß, dass Unterkühlung einen schützenden Effekt auf das Gehirn hat und ein Überleben ermöglicht bis 60 Minuten nach Verschluss der Atemwege und /oder einem Kreislaufstillstand.
2 In der medizinischen Fachliteratur gibt es viele gut dokumentierte Berichte über Unterkühlungsunfälle, die unbeschadet überlebt wurden: bis zu 60 min unter Wasser (Deutsch Med Wschr 119 (1994) ) bis zu 390 min Dauer einer Herz-Lungen-Wiederbelebung (Arct Med Res 1991; 50: Suppl. 6: ) bis 13,7 C Körperkerntemperatur (The Lancet 355 (2000) ) Der Wärmeverlust und damit die Abkühlung des Körpers unterliegen vielfältigen Einflussfaktoren und lassen sich daher nicht allgemeingültig sicher vorhersagen. Einflussfaktoren: Alter, Körperoberfläche, Statur, Kleidung, Abhärtung, Alkohol, Medikamente, Drogen, Verletzungen, körperliche Verfassung, Erkrankungen des Nervensystems. Im Wasser geht die Auskühlung wesentlich schneller voran wegen einer 25mal größeren Wärmeleitfähigkeit als in Luft. Auch hier spielen die Oberbegriffe Konstitution, Isolierung, Wärmeabstrom und körperliche Verfassung die wesentliche Rolle. Eine besondere Bedeutung kommt der psychischen Konstitution zu, die, vermittelt über psychovegetative Mechanismen, einen großen Einfluss auf die Abkühlungsgeschwindigkeit hat. Untermauert wird dies durch die folgenden durchaus allgemeingültigen Überlebensregeln:! "#! $ " %! & ' ( "" (!!!)( & *+!!! "",-".! Entnommen aus: Überleben in Natur und Umwelt 3. Aufl von Heinz Volz Walhalla und Pretoria Verlag ISBN
3 Entscheidend für die Überlebensaussichten in tiefer Hypothermie sind die physiologischen Veränderungen im Bereich des Zentralnervensystems und des Herzmuskels. Periphere Durchblutungsverminderung ist die anfängliche Abwehr des Körpers gegenüber Wärmeverlust, beginnend in Händen und Füßen. Später ist die halbe Körperoberfläche und ein Drittel des Körpervolumens, inklusive Arme und Beine, ausgeschlossen, um dadurch die Wärme für den Körperkern und die lebenswichtigen Organe zu konservieren. Kälte verursacht anfangs eine erhöhte Herzfrequenz, gefolgt von zunehmender Verlangsamung, die bei etwa 28 C aufgrund von nachlassender Aktivität der Schrittmacherzellen auf die Hälfte der Normalfrequenz abfällt. Rhythmusstörungen jeglicher Art können unterhalb 32 C sowohl in der Abkühlungs- als auch in der Wiedererwärmungsphase erwartet werden. Kommt es zum Kreislaufstillstand, so ist die Toleranz der Gehirnzellen gegenüber Sauerstoffmangel wesentlich größer als dies durch die Stoffwechselreduktion rechnerisch allein erklärbar wäre, erklärt durch besondere biochemische Abläufe bei Kälte. Behandlung Bei ausgeprägter Unterkühlung müssen von den Rettern einige Besonderheiten beachtet werden. Eindeutige Lebenszeichen sind insbesondere unter schwierigen Randbedingungen häufig nicht feststellbar und andererseits sind die üblichen klinischen Todeszeichen nicht verwertbar. Sofern nicht mit Sicherheit die Dauer eines Kreislaufstillstandes in Hypothermie auf mindestens eine Stunde gesichert werden kann und keine mit dem Leben nicht mehr zu vereinbarenden Verletzungen oder beginnende Verwesungszeichen festgestellt werden, muss reanimiert werden. Als Bergungstod, Afterfall oder Postimmersionskollaps bezeichnet man den abrupten Kreislaufzusammenbruch beim Retten aus dem Wasser als Folge des Wegfalls des hydrostatischen Drucks des Wassers auf dem Körper bei schon bestehendem Flüssigkeitsmangel durch kältebedingte erhöhte Nierenaktivität. Afterdrop ist der anhaltende Abfall der Körperkerntemperatur noch dann, wenn der Patient aus der kühlen Umgebung entfernt ist. Außerhalb der Klinik soll bei starker Unterkühlung nur die Sauerstoffversorgung der lebenswichtigen Organe sichergestellt werden. Die Wiedererwärmung bleibt der Klinik vorbehalten (sofern eine Klinik erreichbar ist, ansonsten TMAS (Funkarztberatung) ansprechen) Ist Bewusstsein vorhanden, so sollte folgendes veranlasst werden: Immobilisieren Isolieren gegen weitere Auskühlung Verabreichung von (möglichst warmem und angefeuchtetem) Sauerstoff Verabreichung von angewärmter Infusionslösung Bewusstseins-Beobachtung und Wachhalten keine Medikamente geben Bei Bewusstlosigkeit: Atemwege freihalten, ggf. beatmen ggf. Herzdruckmassage 1000ml Infusionslösung, wenn möglich Sorgfältige Überwachung Raumtemperatur C Verzichten auf jegliche Medikamente
4 Transportmanagement Der an schwerer Hypothermie erkrankte Patient muss, insbesondere in der Kreislaufinstabilität, zügig der EKZ an der Herz-Lungen-Maschine zugeführt werden. Die Kliniken, die über diese Möglichkeit verfügen, müssen darüber hinaus durch festgelegte Management- und Behandlungsstrategien auf die Behandlung von Hypothermiepatienten vorbereitet sein. Sie müssen den Rettungsleitstellen und Notärzten bekannt sein. Die Rettungskette muss auch über mehrere Etappen, einschließlich Lufttransporten, über längere Distanzen, funktionieren. An der deutschen Küste wird dies im Rahmen eines Projektes mit der Bezeichnung SARRRAH (Search And Rescue, Resuscitation and Rewarming in Accidental Hypothermia) realisiert. Das Projekt SARRRAH will die Überlebensmöglichkeiten von unfallbedingt stark unterkühlten Patienten in der Seerettung verbessern. Das Vorhaben entstand im medizinischen Arbeitskreis der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) und wird an der Lübecker Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein weiterentwickelt. Das Schifffahrtsmedizinische Institut der Marine, die DGzRS, 11 Kliniken im Bereich der deutschen Nord- und Ostseeküste sowie die Institute für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins sind Kooperationspartner des Projekts. Grundlage für die Initiierung von SARRRAH war die Erkenntnis, dass die Rettungs- und Behandlungskonzepte für Schiffbrüchige bzw. Menschen mit lebensbedrohlicher Unterkühlung verbessert werden müssen.. Verfasser: Dipl.-Ing. Dr. med. Wolfgang Baumeier Klinik für Anästhesiologie (Direktor: Prof. Dr. med. P. Schmucker) Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee Lübeck Tel.: , Fax Internet:
5 Checkliste 1 Vorbereitung auf den Seenotfall: Abhärtung körperliche Fitness Ausbildung, Übungen, gelegentlich theoretisch durchspielen Bevorstehender Seenotfall Viele Kleidungsschichten (oberste Schicht möglichst wasserdicht, darunter hydrophob und wenig kompressibel) Kopfbedeckung, Handschuhe Viel Warmes trinken Vorbeugen gegen Seekrankheit Kein Alkohol, keine Medikamente Kleidung, Rettungsweste etc. muss perfekt sitzen (nachträgliche Korrekturen aufgrund sehr schnell behinderter Feinmotorik nicht mehr möglich) Verlassen des Schiffes: Rettungsweste erst im Freien aufblasen Nicht die automatische Auslösung im Wasser abwarten Kälteschock und tödliche Folgen vermeiden: So spät wie möglich, so langsam wie möglich., wo wenig wie möglich. ins Wasser Während der kritischen ersten Minuten festhalten und wenig bewegen Im Wasser: Wenig Bewegung Rückenlage Atmung anpassen Seewasser nicht einatmen und nicht schlucken,
6 Checkliste 2 Erste Hilfe bei Unterkühlten: 1. Ausreichend lange nach Schiffbrüchigen suchen! Überlebenschancen bestehen auch noch nach Stunden in kaltem Wasser. Entscheidungshilfe kann im Notfall beim MRCC Bremen (Seenotleitung Tel ) eingeholt werden. 2. Vom Unterkühlten keine Mithilfe bei der Rettung erwarten! Unterkühlte können Arme und Beine nicht mehr geordnet bewegen. Das Loslassen eines Auftriebskörpers zum Greifen einer zugeworfenen Leine wird ohne Rettungsweste zum Versinken des Verunfallten führen. 3. Die Rettung sollte, wenn es die Umstände zulassen, schonend in horizontaler Körperposition erfolgen. 4. Ein Unterkühlter muss liegen und soll so wenig wie möglich, insbesondere an Armen und Beinen, bewegt werden. 5. Gegen weitere Auskühlung mit Decken und Plastiksäcken schützen! Insbesondere Kopf und Hals bis weit ins Gesicht bedecken! 6. Entfernen der nassen Kleidung erst im erwärmten (20 25 C) geschlossenen Raum, ohne den Verunfallten zu bewegen (Kleiderschere!)! 7. Am Aufstehen hindern, solange durch eine rektale Temperaturmessung keine Kerntemperatur größer als 36 C gemessen wurde. 8. Bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlagerung! Permanente sorgfältige Beobachtung! Ein Kreislauf- und Atemstillstand muss rechtzeitig erkannt werden. 9. Sind keine Lebenszeichen mehr feststellbar (Puls im Bereich der Halsschlagader, Atmung, Reaktion auf Schmerzreiz), so muss unverzüglich mit den üblichen Maßnahmen der Herz- Lungen-Wiederbelebung begonnen werden. Dies muss unter Umständen über Stunden bis zum Eintreffen des professionellen Rettungsdienstes fortgesetzt werden. Durch Anwendung geeigneter Hilfsmittel (Brustkorb-Saugglocke, Combitube -SARRRAH -Kit, Sauerstoff über Demandventil) kann die Wirksamkeit der Herz-Lungen-Wiederbelebung erheblich verbessert werden. 10. In jedem Fall Funkarztberatung über den MEDICO-Dienst des Stadtkrankenhauses Cuxhaven anfordern (Tel ) 11. Die aktive Wiedererwärmung birgt erhebliche Gefahren und sollte der Klinik überlassen bleiben. Befindet sich der Notfallort unerreichbar entfernt von medizinischer oder rettungsdienstlicher Infrastruktur, so muss die weitere Behandlung zwingend funkärztlich begleitet werden. Hat Kälte-Muskelzittern eingesetzt, so ist dies als Zeichen der Entspannung zu werten, da jetzt der Körper selbst mit hoher Energie Muskelwärme erzeugt. Allerdings kann der hier erforderliche hohe Sauerstoffbedarf für ältere und kranke Menschen zu kritischen Situationen führen.
7 Projekt SARRRAH
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