Mosaik / Passagen Sendedatum: Titel: Astrid Lindgren: Tagebücher

Transkript

1 Rezensentin: Christel Wester Redaktion: Eva Küllmer Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs Ullstein Verlag, 573 Seiten ISBN Hörbuch: Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher Auswahl. Gelesen von Eva Mattes 5 Audio-CDs Hörbuch Hamburg ISBN Anmoderation: Mit Kalle Bloomquist, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und vor allem mit Pippi Langstrumpf hat Astrid Lindgren uns einzigartige, mutige und lustige Helden und Heldinnen geschenkt. Ihre Kinder von Bullerbü und die Fernsehserie mit der frechen rothaarigen Göre sind in den Kindheitserinnerungen der 1970er Jahre fest verankert. Im Jahr 2002 ist Astrid in Stockholm gestorben, doch sie ist immer noch die bedeutendste Kinderbuchautorin der Welt. Ihre Bücher wurden in 96 Sprachen übersetzt. In ihren jetzt erst veröffentlichten Kriegstagebüchern kann man sie nun als politisch hochinteressierte Frau kennenlernen. Unter dem Titel Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher sind sie in deutscher Übersetzung erschienen. Parallel zum Buch gibt es auch ein Hörbuch. Eva Mattes übrigens die deutsche Synchronstimme von Pippi Langstrumpf liest Astrid Lindgrens Tagebücher. Christel Wester stellt Buch und Hörbuch vor. 1

2 Beitrag: Erster September Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Und die 32-jährige Astrid Lindgren beginnt ein Tagebuch, das sie bis Silvester 1945 fortführt. Ihre Aufzeichnungen sind eine sehr persönliche Chronik, in der sie das politische Weltgeschehen dokumentiert und kommentiert. Schade, dass niemand Hitler erschießt. Und in der sie deutlich macht, wie eng Politik und individuelles privates Leben zusammenhängen. 21. Mai. Heute ist Karin sechs geworden. Heute haben die Deutschen den englischen Kanal erreicht. Und heute kam der Sommer, wunderbar, schmerzhaft schön, ihn zu betrachten und wahrzunehmen. Als Astrid Lindgren ihr Tagebuch begann, war sie noch keine Schriftstellerin, sondern arbeitete als Sekretärin. Sie lebte mit ihrem Mann Sture und ihren beiden Kindern in Stockholm. Der Sohn Lars war unehelich geboren, Karin war die gemeinsame Tochter. Für sie erfand Astrid Lindgren mitten im Krieg die literarische Figur, die sie weltberühmt machen sollte. Pippi ist ein kleines, feines Gör, das zum Erfolg zu werden scheint. Notiert Astrid Lindgren auf einer ihrer letzten Tagebuchseiten Weihnachten In ihren Aufzeichnungen der sechs Kriegsjahre kann man den Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere miterleben. Nach der Lektüre wird man ihre Bücher nicht mehr als reine Sommeridylle von Bullerbü wahrnehmen, sondern als bewussten Gegenentwurf zu einer Welt, die brutal aus den Fugen geraten war. In ihren Tagebüchern begegnet man einer politisch hochinteressierten 2

3 Frau, die Einblick gibt in die Ängste und Sorgen der schwedischen Mittelschicht und dabei zugleich die Kriegsnachrichten analysiert. Dabei kontrastiert sie die offizielle Nachrichtenlage mit persönlichen Einschätzungen, Gesprächen in der Familie, mit Freunden, Nachbarn. Und: Sie erzählt Witze. Ein Witz: Hitler stand in einem Saal mit einem guten Echo und übte eine Rede ein. Und schrie: Wer beherrscht die Welt? das Echo antwortet: Roosevelt. Wer macht den Frieden? Eden. Wo soll die große Revolution beginnen? Innen. Wer ist die größte Nation? Zion. Da hatte Hitler es satt. Astrid Lindgrens Kriegstagebücher sind beeindruckende literarische Zeitdokumente von ungeheurer Tiefe. Sie transportieren das politische und gesellschaftliche Klima eindrucksvoll in die heutige Zeit. Eva Mattes, die Pippi Langstrumpf in der deutschen Fernsehfassung von 1971 ihre Stimme lieh, liest die Tagebücher mit einer ruhigen, gleichmäßigen Stimme: einfühlsam, aber mit wohltuender Zurückhaltung. Ich bin heute Abend so todmüde, dass ich kaum schreiben kann. Norwegen befindet sich seit dem frühen Morgen im Kriegszustand mit Deutschland. Dänemark ist von den Deutschen besetzt worden, die die ganze Verwaltung des Landes übernommen haben, ohne auf Widerstand zu stoßen. / / Nun ist der Norden also Kriegsschauplatz, und unter den nordischen Ländern ist Schweden das einzige Land, das noch keinen Kontakt mit fremden Truppen gehabt hat. The peaceful corner of Europe, ha, ha! Wir erwarten die allgemeine Mobilmachung, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann die Deutschen auch unsere Neutralität verteidigen werden. 3

4 Astrid Lindgren schildert, wie der Krieg auch den Alltag in Schweden beeinträchtigt: es gibt Verdunklungsvorschriften, Lebensmittel werden rationiert, Brennmaterial wird knapp. Dennoch hat sie ihre Tagebücher als Bürgerin eines Landes geschrieben, das nicht aktiv am Krieg beteiligt war, das aber dennoch Zugeständnisse an das NS-Regime machte. Auch das reflektiert sie kritisch. Zugleich blickt sie mit Schrecken nach Finnland, das von der Sowjetunion angegriffen wird und fürchtet Stalin ebenso wie Hitler. Nach dem ersten Kriegsjahr bekommt sie Zugang zu einer besonderen Informationsquelle. Sie arbeitet für den Geheimdienst in der Briefzensur und kontrolliert Briefe, die nach Deutschland gehen oder aus Deutschland kommen. Es ist übrigens seltsam, Briefe von fremden Menschen zu lesen, die berichten, wie Frauen und Kinder, die sie persönlich kennen, bei Bombenangriffen ihr Leben verloren haben. Solange man darüber nur in allen Zeitungen liest, ist es fast so, als müsste man es nicht glauben, aber wenn man in einem Brief liest, dass Jacques beide Kinder bei der Besetzung von Luxemburg getötet worden sind oder etwas Ähnliches, wird es plötzlich entsetzliche Realität. Sie liest auch Briefe deportierter Juden. Hitler beabsichtigt offenbar, ganz Polen in ein einziges Ghetto zu verwandeln, in dem die armen Juden an Hunger und Dreck sterben. In Schweden hat die Veröffentlichung der Kriegstagebücher erneut eine Debatte ausgelöst, wie viel man im hohen Norden über den Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten gegen die Juden wissen konnte. Astrid Lindgren hat Zeitungsartikel und Fotos ausgeschnitten und in ihr Tagebuch eingeklebt, die belegen, dass spätestens ab 1941 über Konzentrationslager berichtet wurde. Überhaupt hat sie ihr Tagebuch mit Ausschnitten aus Zeitungen regelrecht gespickt: Artikel, Fotos, Karikaturen, alle mit Kommentaren versehen. Wer allerdings nur das Hörbuch hört, dem 4

5 entgehen ihre Collagen, die einen substanziellen Teil der Originaltagebücher bilden. Trotz guter und fast vollständiger Lesung kann das Hörbuch deshalb mit dem Buch nicht mithalten. Denn das Buch ist eine aufwendige und ausgezeichnete Edition. Faksimiles der Tagebuchseiten sind wie Zwischenkapitel eingefügt, sie werden ergänzt durch Übersetzungen der schwedischen Zeitungsartikel. Hinzu kommen zahlreiche bisher nicht veröffentlichte Familienfotos. So bringt einem das Buch die Persönlichkeit Astrid Lindgrens und die von ihr überlieferte Zeitgeschichte auf vielen verschiedenen Ebenen nahe. 5