Norbert Lübke, Friedemann Ernst, Matthias Meinck. 1.1 FAQ 1: Welche nationale und internationale Definition des Faches Geriatrie gibt es?
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1 1 1 Was ist Geriatrie? Norbert Lübke, Friedemann Ernst, Matthias Meinck 1.1 FAQ 1: Welche nationale und internationale Definition des Faches Geriatrie gibt es? FAQ 2: Was unterscheidet Geriatrie von anderen medizinischen Fächern beispielsweise der Inneren Medizin? FAQ 3: Was sind typische geriatrische Krankheitsbilder? FAQ 4: Wie erwirbt man geriatrische Zusatzqualifikationen? 4 Literatur 5 F. Ernst et al., Kompendium Begutachtungswissen Geriatrie, DOI / _1, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
2 2 Kapitel 1 Was ist Geriatrie? 1 Geriatrie, die Medizin für den alten betagten Menschen, auch Altersheilkunde genannt, lässt sich als der medizinische Part der Gerontologie, der Wissenschaft vom Altern, beschreiben. Sie blickt auf eine über 100-jährige Geschichte zurück: der Wiener Arzt Ignatius Nascher begründete im Jahre 1909 in den USA die moderne Geriatrie (griechisch: Geron = alter Mann, Hiatrikae = Heilkunst). Eines seiner wichtigsten Anliegen war die Erkenntnis, dass Altern weder Krankheit noch Grund zu therapeutischem Nihilismus ist. Er war gerade angesichts der so vielfältigen inter- wie intrapersonellen Facetten des Alterns fasziniert von der Idee eines eigenständigen medizinischen Fachgebiets analog zur Pädiatrie. In immer mehr europäischen Ländern ist die Geriatrie bereits als entwickeltes Fachgebiet in klinischer Versorgung, medizinischer Ausbildung und Wissenschaft etabliert. In Deutschland besteht weiterhin ein Nachholbedarf in der universitären Verankerung der Geriatrie und der geriatrischen Weiterbildung ärztlich wie professionsübergreifend. Auch die Akzeptanz einer eigenständigen geriatrischen Versorgung, wie sie in vielen europäischen Ländern bspw. Skandinavien, England oder den Niederlanden selbstverständlich ist, ist noch immer nicht gegeben (Bundesverband Geriatrie 2010). FAQ 5 5 Welche nationale und internationale Definition des Faches Geriatrie gibt es (7 Abschn. 1.1)? 5 5 Was unterscheidet Geriatrie von anderen medizinischen Fächern beispielsweise der Inneren Medizin (7 Abschn. 1.2)? 5 5 Was sind typische geriatrische Krankheitsbilder (7 Abschn. 1.3)? 5 5 Wie erwirbt man geriatrische Zusatzqualifikationen (7 Abschn. 1.4)? 1.1 FAQ 1: Welche nationale und internationale Definition des Faches Geriatrie gibt es? Unter Geriatrie versteht man die Behandlung alter und hochbetagter Menschen unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten und der sich daraus ergebenden speziellen Behandlungserfordernisse. Bereits die älteste deutsche Definition des Fachgebietes Geriatrie aus dem Jahr 1991 stellt daher im Kern eine sehr umfängliche Beschreibung dieser Besonderheiten dar (Bruder et al. 1991): Sie erfordern zum einen spezifische Kenntnisse der Altersmedizin (u. a. zu altersphysiologische Veränderungen, spezifischen Aspekten der Pharmakotherapie im Alter, atypischer Symptompräsentation und geriatrischen Syndromen), aber auch ein breites fachübergreifendes medizinisches Basiswissen (mit besonderen Schwerpunkten in der Inneren Medizin, aber auch in der Neurologie und Orthopädie sowie einer Reihe weiterer geriatrisch besonders relevanter Fächer wie Gerontopsychiatrie, Urologie, Augenheilkunde, HNO etc.). Ferner sind Kompetenzen in rehabilitativer Behandlung einschließlich Sekundär- und Tertiärprävention, in der Langzeit- und Palliativversorgung sowie Kenntnisse auf dem Gebiet der Sozialmedizin von Bedeutung. Die Umsetzung des geriatrischen Behandlungskonzeptes erfordert aber auch in hohem Maße soziale Kompetenzen. Dies beginnt mit einer charakteristischen Form des Wahrnehmens und Verstehens der Lebenswelt alter Menschen. Ebenso wichtig sind die Bereitschaft zur Übernahme medizinisch-ethischer Verantwortung für die Begleitung geriatrischer Patienten durch die Vielfalt medizinischer Behandlungsoptionen, aber auch die Einsicht in die Grenzen der eigenen generalistischen Kompetenz und in die Notwendigkeit der Unterstützung durch Spezialisten anderer Fachgebiete. Ferner bedarf es der kommunikativen und integrativen Fähigkeiten, um den geriatrischen Behandlungsansatz sowohl in Bezug auf den Patienten und sein soziales Umfeld als auch in Bezug auf den Einsatz des hierfür erforderlichen multiprofessionellen und interdisziplinären Behandlungsteams (inkl. der Mitwirkung anderer Fachspezialisten) und die späteren Weiterbehandler (Hausärzte, Pflegedienste etc.) erfolgreich umsetzen zu können. Die aktuelle Definition der deutschen geriatrischen Fachgesellschaften, Dt. Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und Dt. Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), für das Fachgebiet Geriatrie entspricht der Definition der Europäischen Union der medizinischen Spezialisten (UEMS) von
3 1.3 FAQ 3: Was sind typische geriatrische Krankheitsbilder? und fasst diese wie folgt zusammen (7 www. uemsgeriatricmedicine.org):»» Geriatrie ist die medizinische Spezialdisziplin, die sich mit physischen, psychischen, funktionellen und sozialen Aspekten bei der medizinischen Betreuung älterer Menschen befasst. Dazu gehört die Behandlung alter Patienten bei akuten Erkrankungen, chronischen Erkrankungen, präventiver Zielsetzung, (früh-) rehabilitativen Fragestellungen und speziellen, auch palliativen Fragestellungen am Lebensende. Diese Gruppe älterer Patienten weist eine hohe Vulnerabilität (»Frailty«) auf und leidet an multiplen aktiven Krankheiten. Sie ist deshalb auf eine umfassende Betreuung angewiesen. Krankheiten im Alter können sich different präsentieren und sind deshalb oft besonders schwierig zu diagnostizieren. Das Ansprechen auf Behandlung ist oft verzögert und häufig besteht ein Bedarf nach (gleichzeitiger) sozialer Unterstützung. Geriatrische Medizin geht daher über einen organzentrierten Zugang hinaus und bietet zusätzliche Behandlung in einem interdisziplinären Team an. Hauptziel dieser Behandlung ist die Optimierung des funktionellen Status des älteren Patienten mit Verbesserung der Lebensqualität und Autonomie. 1.2 FAQ 2: Was unterscheidet Geriatrie von anderen medizinischen Fächern beispielsweise der Inneren Medizin? Die UEMS-Definition der Geriatrie nennt als wesentliche Merkmale der Geriatrie ihren generalistischen, die gesamte Multimorbidität der Patienten berücksichtigenden Blickwinkel, ihre konsequent auf den Erhalt von Selbständigkeit respektive Minderung von Pflegebedürftigkeit ausgerichtete Zielsetzung für die Behandlung und ihren interdisziplinären und multiprofessionellen, idealerweise auch sektorenübergreifenden Behandlungsansatz. Hiermit sind auch schon die wesentlichen Unterschiede zu den klassischen, im weitesten Sinne organsystembezogenen medizinischen Fachdisziplinen herausgestellt. Deren Ausgangspunkt und Behandlungsfokus sind immer die jeweils eigenen fachspezifischen Diagnosen und deren jeweils möglichst optimale Behandlung entsprechend den aktuellen Möglichkeiten der evidenzbasierten Medizin resp. bestehender Leitlinien (State of the art- Medizin). In nahezu allen diesen Fachdisziplinen sind die Patienten im Zuge des demographischen Wandels älter geworden. Entsprechend haben auch diese klassischen Fachdisziplinen ihre Behandlungskonzepte an die steigende Anzahl älterer Patienten angepasst. Dies ist ein sinnvoller und notwendiger Prozess, den man als»geriatrisierung der Fachdisziplinen«bezeichnet. Die Entwicklung der Gerontopsychiatrie innerhalb der Psychiatrie ist hierfür beispielhaft. Diese Geriatrisierung der Fachdisziplinen unterscheidet sich vom umfassenden geriatrischen Behandlungsansatz jedoch dadurch, dass sie auf die besonderen Probleme alter Menschen im jeweiligen Fachgebiet fokussiert, während die o.g. Zielsetzungen der Geriatrie eine generalistische Erfassung und einen fachübergreifenden Zugang zu den Problemen alter Menschen erfordern, die aus Perspektive einer einzelnen klassischen Fachdisziplin nicht zu leisten sind. 1.3 FAQ 3: Was sind typische geriatrische Krankheitsbilder? Alter ist keine Krankheit. Entsprechend gibt es keine Krankheiten, die altersbedingt sind. Allerdings gibt es eine Vielzahl von Erkrankungen, die im Alter häufiger auftreten, d.h. altersassoziiert sind, und sich allerdings selten isoliert, sondern in der Regel im Rahmen der so genannten geriatrietypischen Multimorbidität in den Diagnosestatistiken der Geriatrie gehäuft finden (7 Tab. 5.1). Hierzu gehören insbesondere Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, des Stoffwechsels, des Bewegungsapparates incl. Frakturen sowie neurologische und onkologische Erkrankungen. Aber auch alle anderen Erkrankungen kommen in der Geriatrie vor. Charakteristisch ist, dass die Aktivitäten, die Teilhabe und die Lebensqualität alter Menschen häufig nicht durch jede der einzelnen Erkrankungen und deren Folgen, sondern durch geriatrietypische Syndrome
4 4 Kapitel 1 Was ist Geriatrie? 1 (Sturz, Schwindel, Inkontinenz, Gebrechlichkeit etc., 7 Abschn. 2.2) beeinträchtigt sind, die oft mehrere Ursachen in gleichzeitig bestehenden unterschiedlichen Erkrankungen haben (7 Kap. 3). Die Herausforderung besteht darin, fachübergreifend zu klären, welche Ursachen jeweils beteiligt sind und welche hiervon therapeutische Ansätze zu einer Verbesserung der funktionalen Gesundheit bieten. Die Geriatrie hat es insofern selten mit einzelnen»geriatrischen Krankheitsbildern«, sondern überwiegend mit Multimorbidität und»geriatrietypischen Syndromen«auf Basis unterschiedlicher individueller Krankheitskonstellationen zu tun insbesondere solcher Krankheiten, die im Alter häufiger auftreten. 1.4 FAQ 4: Wie erwirbt man geriatrische Zusatzqualifikationen? Der oben dargelegte generalistisch orientierte Versorgungsanspruch der Geriatrie setzt Qualifikationen voraus, die in einem immer mehr auf Spezialisierung ausgerichteten gesundheitlichen Versorgungs- und Weiterbildungssystem nicht mehr selbstverständlich sind. Dies prägt im ärztlichen Bereich auch die seit Jahren andauernde Diskussion um die Frage, welche zusätzlichen Weiterbildungsinhalte in welchem zeitlichen Umfang auf welcher bereits bestehenden Weiterbildungsgrundlage eine solche generalistische Qualifikation sicherstellen. Eine Übersicht hierzu findet sich auf der Homepage der DGG 7 de/weiterbildung.html wurde die so genannte fakultative Weiterbildung»Klinische Geriatrie«eingeführt, die nach 2-jähriger geriatrischer Weiterbildung vom Facharzt für Innere Medizin, Neurologie/Nervenarzt, Psychiatrie oder Allgemeinmedizin erworben werden konnte. Mit der Musterweiterbildungsordnung 2003 wurde diese durch die (mit Ausnahme von Bayern und Niedersachsen) von jedem Facharzt erwerbbare 18-monatige Zusatz-Weiterbildung Geriatrie ersetzt. Die Zusatz-Weiterbildung wird von den geriatrischen Fachgesellschaften bis heute für quantitativ unzureichend gehalten. In 3 Bundesländern (Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt) wurde in der Zwischenzeit zusätzlich ein Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie mit einer 6-jährigen Weiterbildung, davon 3 Jahre in der Geriatrie eingeführt. Diesen Facharzt bundesweit zu etablieren und die 18-monatige Weiterbildung Geriatrie als Zusatz-Weiterbildung wieder auf die Gebiete Innere Medizin und Allgemeinmedizin, Neurologie, Physikalische und Rehabilitative Medizin und Psychiatrie und Psychotherapie zu beschränken, ist Ziel der geriatrischen Fachgesellschaften. Daneben soll der Erwerb dieser Zusatz-Weiterbildung über einen je 60-stündigen Basis- und Aufbaukurs Geriatrie und eine Hospitation von 3 Monaten in der Geriatrie auch vertragsärztlich tätigen Kollegen mit spezifischem Interesse an geriatrischer Weiterbildung ermöglicht werden. Einzig in Rheinland- Pfalz besteht zudem seit die Möglichkeit zum Erwerb des»schwerpunkts Geriatrie«in den Fachgebieten Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie. Auch die neben der Medizin in der Geriatrie tätigen Professionen (bspw. Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, 7 Abschn. 3.8) erwerben relevante geriatrische Zusatzqualifikationen über ihre Berufsausbildung hinaus. Seit dem Jahr 2006 gibt es bspw. mit Zercur Geriatrie einen 64-stündigen, professionsübergreifenden geriatrischen Basislehrgang, dessen Ziel es ist, interdisziplinäres Grundlagenwissen zu wichtigen geriatrischen Themenfeldern für die Arbeit im geriatrischen Team zu vermitteln. Hierauf aufsetzend gibt es für die Pflege seit 2010 eine Fachweiterbildung Geriatrie im Umfang von 520 Stunden, weitere Fachweiterbildungen für andere Professionen sind geplant. Fazit 5 5 Geriatrie befasst sich mit physischen, psychischen, funktionellen und sozialen Aspekten der medizinischen Betreuung älterer Menschen. Dazu gehört deren Behandlung bei akuten und chronischen Erkrankungen, präventiver Zielsetzung, (früh-)rehabilitativen Fragestellungen sowie speziellen Fragestellungen am Lebensende. 5 5 Geriatrie berücksichtigt nicht nur die Aspekte des Alters im Rahmen eines einzelnen Fachgebietes (Geriatrisierung der klassischen
5 Literatur 5 1 Fachdisziplinen), sondern auch aus einer fachübergreifenden Perspektive den Gesamtzustand des Patienten mit allen seinen Erkrankungen. Hierauf basierend setzt sie Behandlungsschwerpunkte dort, wo sie mit kurativen und rehabilitativen Mitteln am ehesten zum Erhalt von Selbständigkeit beitragen kann, und hält hierzu einen erweiterten Behandlungsansatz mit einem interdisziplinären und multiprofessionellen Team vor. 55 Alter bedingt keine Krankheiten, aber es gibt im Alter häufig eine Kumulation chronischer Erkrankungen (geriatrietypische Multimorbidität), die sich oft in geriatrischen Syndromen manifestieren und überlagern. 55 Aktuell setzt die Zusatz-Weiterbildung Geriatrie zumeist als eine 18-monatige geriatrische Weiterbildung auf eine Facharztqualifikation auf. In drei Bundesländern gibt es ferner einen Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie, der 6 Jahre Weiterbildung, davon 3 in der Geriatrie umfasst. Mit Zercur Geriatrie besteht darüber hinaus ein professionsübergreifender geriatrischer Basislehrgang und eine geriatrische Fachweiterbildung für die Pflege. Literatur Bruder J, Lucke C, Schramm A, Tews HP, Werner H. Was ist Geriatrie? Expertenkommission der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie zur Definition des Faches Geriatrie, Rügheim, Bundesverband Geriatrie (Hrsg.). Weißbuch Geriatrie - Die Versorgung geriatrischer Patienten: Strukturen und Bedarf - Status Quo und Weiterentwicklung. Eine Analyse durch die GEBERA - Gesellschaft für betriebswirtschaftliche Beratung mbh. 2. durchgesehene Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2010.
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