Die Stillhalteklausel im Freizügigkeitsabkommen Eine Miniatur zur Auslegung des bilateralen Rechts
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- Fritz Schulz
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1 Die Stillhalteklausel im Freizügigkeitsabkommen Eine Miniatur zur Auslegung des bilateralen Rechts Prof. Dr. Christa Tobler, LL.M. Europa Institute der Universitäten Basel und Leiden (Niederlande) Rechtliche Grundfragen im Verhältnis Schweiz - EU 22. Mai 2012, Universität Zürich Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M. Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) christa.tobler@unibas.ch r.c.tobler@law.leidenuniv.nl
2 Einleitung (1) Sie wünschen einen Sonderweg? Aus: Suisseurope II/2012 Integrationsbüro EDA/EVD 2
3 Einleitung (2) Auslegung als Element der Systemdiskussion Seit 2006 anhaltende Kritik der EU am System der bilateralen Abkommen; siehe Handout Tafel 21. Vier Elemente: Aufdatierung Auslegung Überwachung Streitbeilegung Auslegung als Thema dieses Vortrages, mit einem Beispiel zu den Herausforderungen einer parallelen Auslegung selbst da, wo sie eigentlich gewollt wäre. 3
4 Grundsätzliches zur Auslegung Bilaterale Abkommen als völkerrechtliche Verträge Es gelten die Grundsätze nach Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention. D.h. Auslegung eines internationalen Vertrags: Nach Treu und Glauben In Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung Im Lichte seines Zieles und Zweckes Bestätigung für das bilaterale Recht: z.b. EuGH in Hengartner und Gasser (2010). 4
5 Einzelne Abkommen Hinweise und Regelungen in Varianten Allgemeiner Hinweis: Ziel einer möglichst einheitlichen Anwendung und Auslegung, Art. 8 Schengenabkommen, Art. 5 Dublinabkommen. Spezifischer Hinweis: Freihandelsabkommen, einseitige Erklärung der EU: Auslegung der Wettbewerbsvorschriften i.s.d. EU-Rechts. Spezifische Regelung: Homogenität mit Datumsgrenze, Art. 1 Abs. 2 Luftverkehrsabkommen, Art. 16 Abs. 2 Freizügigkeitsabkommen (FZA, mit grosszügiger Praxis des Bundesgerichts). Siehe Handout Tafel 16 5
6 Zum Beispiel: Art. 13 FZA (1) Was ist eine Stillhalteklausel? Art. 13 FZA, Stand Still : Die Vertragsparteien verpflichten sich, in den unter dieses Abkommen fallenden Bereichen keine neuen Beschränkungen für Staatsangehörige der anderen Vertragspartei einzuführen. Also: für nationale Vorschriften zeitlich ab Abkommen. Umkehrbeispiel, Art. 22 Abs. 3 Anhang I FZA u.a. über Finanzdienstleistungen: Artikel 17 Buchstabe a und Artikel 19 dieses Anhangs lassen die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens bestehenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften jeder Vertragspartei in folgenden Bereichen unberührt: [genehmigungspflichtige und unter Aufsicht stehende Finanzdienstleistungen]. Also: für nationale Vorschriften zeitlich bis Abkommen. 6
7 Zum Beispiel: Art. 13 FZA (2) Parallelen und parallele Auslegung Wo gibt es Parallelen zu Art. 13 FZA? In anderen bilateralen Abkommen? Soweit ersichtlich nur im Freihandelsabkommen, aber dort konkreter (z.b. Art. 3: keine neuen Einfuhrzölle ). In anderen Abkommen der EU mit Drittländern? Ja, im Assoziationsrecht mit der Türkei; keine neuen Beschränkungen : Art. 7 Beschluss 2/76 des Assoziationsrats, Art. 13 Beschluss 1/80: Arbeitskräfte (und Familienangehörige) Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll Ankara-Abkommen: Niederlassung und Dienstleistungsfreiheit Im EU-Binnenrecht auf Vertragsebene? Heute nicht mehr. Folgen für die parallele Auslegung (Art. 16 Abs. 2 FZA)? Interessante Illustration im BGE Zürcher Ärztestopp. 7
8 Zürcher Ärztestopp (1) BGE 130 I 26 vom 27. November 2003 Sachverhalt: Zulassungsbeschränkungen für Leistungserbringer zur Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Grundlage: Änderung des Krankenversicherungsgesetzes (2000) sowie Verordnung des Bundesrats (2002); Zürcher Einführungsverordnung (2002). Klage durch Zürcher Sektion des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte sowie einen einzelnen Arzt. Rechtsfrage: Verletzung des Freizügigkeitsabkommens? Laut Bundesgericht nein: Keine (direkte oder indirekte) Diskriminierung nach Art. 2 FZA. Keine Verletzung von Art. 13 FZA (Stillhalteklausel, Verbot von neuen Beschränkungen ). 8
9 Zürcher Ärztestopp (2) Keine neuen Beschränkungen - Elemente Neu : Abkommen von 1999, trat am 1. Juni 2002 in Kraft. Die Zürcher Ärztestoppmassnahmen sind jünger (Verordnung vom 23. Oktober 2002), also ohne Zweifel neu. Beschränkungen auslegungsbedürftiger Begriff. Wichtiger (und komplexer) Hintergrund: Doppelverbot im EU-Binnenmarktrecht: Diskriminierungen + nicht diskriminierende Beschränkungen ( Beschränkungen i.w.s. ). Gilt dies auch im bilateralen Recht? Stark umstritten bezüglich Bestimmungen wie Art. 2 ZFA; soweit ersichtlich nicht diskutiert bezüglich Art. 13 FZA. Frage: Meint Beschränkungen in Art. 13 FZA nur Diskriminierungen oder auch nicht diskriminierende Massnahmen? Der einzige EuGH-Fall zu Art. 13 FZA gibt hierauf keine Antwort; Graf und Engel (2011). 9
10 Zürcher Ärztestopp (3) Enge Auslegung durch das Bundesgericht BGE 130 I 26 zu Art. 13 FZA: Geht nicht weiter als das Verbot der indirekten Diskriminierung. Begründung: Suche nach einer Parallele im EU-Recht. Vergleich mit einer nicht mehr existenten Stillhalteklausel des EG-Rechts zur Niederlassungsfreiheit, Art. 53 EWG- Vertrag (relevant für die Übergangszeit bis 1969): keine neuen Niederlassungsbeschränkungen für Angehörige der anderen Mitgliedstaaten. Heranziehen eines Kommentars zum alten Recht; dieser verweist auf die EuGH-Entscheidung Costa (1964) zum damaligen EWG-Recht. Problem: Entscheidung und Kommentar sind veraltet. 10
11 Zürcher Ärztestopp (4) Problematik der Bezugnahme auf Costa EuGH in Costa (1964): Art. 53 EWG-Vertrag muss in seinem Kontext gesehen werden, d.h. er hat dieselbe Bedeutung wie die Niederlassungsfreiheit. Aber: 1964 wurde die Niederlassungsfreiheit lediglich i.s. eines Diskriminierungsverbotes ausgelegt; Ausweitung auf das Beschränkungsverbot erst ab These: Hätte der EuGH Art. 53 EG-Vertrag nach 1972 auslegen müssen, so hätte er ein Beschränkungsverbot bejaht (solche Fälle fehlen aber, weil die Bestimmung zu jenem Zeitpunkt nicht mehr relevant war). 11
12 Zürcher Ärztestopp (5) Bestätigung durch das Ankara-Assoziationsrecht EuGH-Rechtsprechung zu den Stillhalteklauseln: klare Auslegung i.s. des Verbots jeglicher Verschärfung. Insbes. Savas (2000), betr. Art. 41 Zusatzprotokoll: Nahezu der gleiche Wortlaut wie Artikel 53 EG-Vertrag. Bezugnahme auf Costa (zur unmittelbaren Wirkung). Art. 41 Zusatzprotokoll verwehrt es einem Mitgliedstaat, neue Maßnahmen zu erlassen, die den Zweck oder die Folge haben, daß die Niederlassung und damit verbunden der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat strengeren Bedingungen als denjenigen unterworfen werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Zusatzprotokolls gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat galten. Später Bestätigung z.b. in Abatay (2003) und Dereci (2011). 12
13 Zum Schluss Bundesrat befürwortet in den Institutionellen Grundsätzen vom April 2012 eine grundsätzlich parallele Auslegung. Zürcher Ärztestopp zeigt: Parallele Auslegung ist gar nicht so einfach - erfordert historisches Wissen über das EU- Recht, Rechtsvergleichung und Systemdenken. These: Dem für das EWR-Recht in Island, Norwegen und Liechtenstein zuständigen EFTA-Gerichtshof wäre der Fehler des Bundesgerichts nicht unterlaufen. Verständnis für das Anliegen der EU eines besseren Systems zur Sicherung der parallelen Auslegung und der Schlichtung im Falle von Meinungsverschiedenheiten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit! 13
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