Königs Erläuterungen und Materialien Band 312. Erläuterungen zu. Gotthold Ephraim Lessing. Minna von Barnhelm. von Bernd Matzkowski

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Marcus Fuhrmann
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2 Wenn es also wahr ist, dass die ganze Das Mitleid als zentrale Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Kategorie Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: Sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns soweit fühlbar machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muss. (...) Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder es thut jenes, um dieses thun zu können. 13 Im Jahre 1772 erschien Lessings Trauerspiel Emilia Galotti, das das Virginia-Motiv aufgriff, also die Tötung einer jungen Frau durch den eigenen Vater, um die Ehre der Tochter zu retten 14. Erste Vorarbeiten Lessings zu diesem Drama lassen sich bis in das Jahr 1758 nachweisen. Uraufgeführt wurde Emilia Galotti am Emilia Galotti 13. März 1772 in Braunschweig, am Geburtstag der Herzogin-Witwe. Der Prinz von Guastalla ist von Leidenschaft zu Emilia Galotti, der Tochter des Obersten Odoardo Galotti ergriffen. Da aber die Vermählung Emilias mit dem Grafen Appiani bevorsteht, versucht der Prinz zunächst mit Hilfe einer Intrige, die Ver- 13 Lessing an Nicolai (November 1756), zitiert nach Jochen Schulte-Sasse (Hrsg.), Lessing Mendelssohn Nicolai, Briefwechsel über das Trauerspiel, Winkler Verlag, München 1972, S. 55 (Kursivsetzungen und abweichende Schreibweisen im Original) 14 Der Stoff geht zurück auf Aufzeichnungen des Livius, nach dessen Bericht Appius Claudius, einer der Dezemvirn im Rom des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, (vergeblich) versucht hatte, die Tochter des Plebejers L. Virginius zu verführen. Aus Rache über die misslungene Verführung inszenierte Appius Claudius einen Prozess, in dem er einem seiner Klienten Virginia als Sklavin zusprach. Um seine Tochter vor dieser Schande zu retten, erstach sie der Vater. 20

3 mählung zwischen Emilia und dem Grafen zu vereiteln. Marinelli, der Kammerherr des Prinzen, soll durch eine Berufung Appianis auf einen Gesandtschaftsposten die Hochzeit verhindern. Als Appiani die Übernahme der Gesandtschaft ablehnt, lässt Marinelli den Wagen des Brautpaares überfallen, wobei Appiani den Tod findet. Emilia wird auf das Lustschloss des Prinzen entführt. Gegenüber Emilia heuchelt der Prinz Entrüstung über den Vorfall und Anteilnahme. Odoardo Galotti erhält Kenntnis von den Zusammenhängen durch die Gräfin Orsina, die ehemalige Geliebte des Prinzen, die diesen nun wegen seiner Zuneigung zu Emilia hasst. Orsina will Odoardo zum Werkzeug ihrer Rache machen, doch der Prinz entgeht dem Tode. Emilia, die sich in schreckliche Gräuel verstrickt und der Gefahr des Lasters ausgesetzt sieht, bittet bei einer Unterredung mit ihrem Vater diesen um ihren Tod. Sie stirbt, von ihm erstochen, in seinen Armen. Obwohl Lessing die Handlung nach Italien verlegte, die Protagonisten italienische Namen tragen und das Stück in der Regierungszeit Ludwigs XIV. spielt, sind Bezüge zum deutschen Duodezabsolutismus der lessingschen Zeit unverkennbar, wenngleich Lessing selbst mehrfach betont hat, so etwa in einem Brief an seinen Bruder vom , es handele sich bei seinem Drama nur um eine in eine moderne Fassung gekleidete Bearbeitung des alten Virginia-Stoffs. Otto Mann sieht in der Emilia eine Weiterentwicklung von Lessings Auffassungen über das Trauerspiel, wenn er schreibt: Lessing war noch ausgegangen von dem rührenden bürgerlichen Trauerspiel, wie dies in der Miss Sara Sampson zu spüren ist. Er gab Mitleid und Furcht damals dem Mitleid im tragischen Affekt ganz den Vorrang, wollte in der Furcht mehr das überraschte Mitleid sehen. Bis zur 21

4 Hamburgischen Dramaturgie hatte er durch das neue Studium sich das Härtere und Unerbittlichere der griechischen Tragödie erschlossen; jetzt hob er die unüberholbare Bedeutung der Furcht für die Tragödie heraus. Furcht bezog sich für ihn auf den Zuschauer selbst, dass dieser sich selbst der Macht des zu Fürchtenden unterworfen fühle; so erst vertiefe sich Mitleid über den philanthropischen Affekt hinaus zum tragischen Mitleid. 15 Im Jahre 1779, also sieben Jahre nach Nathan der Weise dem Erscheinen von Emilia Galotti und zwei Jahre vor Lessings Tod, kam Lessings dramatisches Gedicht Nathan der Weise heraus. Vorausgegangen waren Auseinandersetzungen um die Wolfenbütteler Fragmente eines Ungenannten. Unter diesem Titel hatte Lessing bibelund religionskritische Texte des 1768 verstorbenen Gymnasialprofessors Herrmann Samuel Reimarus herausgegeben. Die Edition dieser Schriften führte alsbald zu einer Flut von Reaktionen in Form von Gegenschriften. In diese Auseinandersetzung griff wiederum Lessing mit eigenen Stellungnahmen ein, wobei sich die Polemik Lessings verstärkt auf den Hamburger Hauptpastor Goeze konzentrierte. Den Streit beendete schließlich der Herzog von Braunschweig, der Lessing weitere Publikationen in der Auseinandersetzung mit Goeze untersagte und ihn zugleich verpflichtete, jegliche Schrift, ob eigene oder fremde, die Lessing zu veröffentlichen gedachte, der Zensurbehörde vorzulegen. 15 Otto Mann, Geschichte des deutschen Dramas, Alfred Kröner Verlag, Kröners Taschenausgabe Band 296, Stuttgart 1960, S Mann hebt mit dieser Überlegung auf Lessings Auseinandersetzung mit der aristotelischen Katharsis-Auffassung ab. Im fünfundsiebzigsten Stück der Hamburgischen Dramaturgie heißt es hierzu: Denn er, Aristoteles, ist es gewiss nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; (...) es ist die Furcht, dass wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: Diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück v , in Stapf, Bd. II, S

5 Lessing reagierte auf seine Weise. In einem Schreiben an Elise Reimarus, die Tochter von H. S. Reimarus, kündigt er ein neues Schauspiel an und beendet seinen Brief mit dem Hinweis: Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen. 16 Den Kern des parabolischen Schauspiels, das im Jahre 1192 in Jerusalem spielt, bildet die an Boccaccio angelehnte, gleichwohl leicht veränderte Ringparabel. Der Tempelherr (Kreuzritter) Leu von Filneck ist in die Gefangenschaft des Sultans Saladin geraten. Dieser hat ihn, ganz im Gegensatz zur üblichen Praxis, begnadigt, weil der junge Kreuzritter eine auffallende Ähnlichkeit mit Assad, einem jüngeren Bruder Saladins aufweist. Der Tempelherr rettet Recha, die Tochter des Juden Nathan, bei einem Brand in dessen Haus, will aber, aus Abneigung gegen die Juden, den Dank Nathans nicht annehmen. Jedoch wird er von einer starken Zuneigung zu Recha ergriffen. Saladin ist in Finanznöten. Um Nathan Geld abzupressen, will Saladin ihm, auf Anraten seiner Schwester Sittah, eine Falle stellen, indem er Nathan nach der besten der drei Religionen (Christentum, Judentum, Islam) fragt. Nathan erzählt Saladin als Antwort auf diese Frage die Parabel von den drei Ringen und gewinnt Saladin so zum Freund. Die Lage spitzt sich für Nathan zu, als der Kreuzritter, der Nathan um die Hand Rechas gebeten hat, von diesem abgewiesen wird und erfährt, dass Recha nicht Nathans leibliche Tochter, sondern sein Adoptivkind ist. Aus Enttäuschung bringt er den Patriarchen von Jerusalem auf Nathans Spur, der in der Erziehung eines Christenkindes durch einen Juden eine Freveltat sieht. 16 Lessing, Brief an Elise Reimarus v. 6. September 1778, zitiert nach Peter von Düffel (Hrsg.), Erläuterungen und Dokumente/Lessing, Nathan der Weise (Reclam Verlag), Stuttgart 1972, S. 101 f. 23

6 Aber es wendet sich alles zum Guten, denn schließlich stellt sich heraus, dass der Tempelherr der Sohn Assads ist, des Bruders Saladins also, der zum christlichen Glauben übergetreten war. Recha aber ist Assads Tochter, die er, kurz vor seinem Tod, Nathan zur Erziehung übergeben hatte. Recha und der Kreuzritter entpuppen sich mithin als Bruder und Schwester (dies war der Grund für Nathans Ablehnung einer Heirat) und Sultan Saladin als deren Onkel. Den Streitigkeiten im Zuge der Herausgabe der Reimarus- Texte stellt Lessing eine Versöhnungsutopie gegenüber ( Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang, heißt es am Schluss des Dramas); statt dogmatischer Textexegese fordert Lessing eine Religion, die ihre Gültigkeit in der Praxis der Nächstenliebe unter Beweis stellt und somit, auf der Basis von Toleranz und Humanität, im Sinne der Erziehung und Entwicklung der Menschheit wirkt; und mit der brüderlichen Umarmung der streitenden Parteien, die sich nun als Familie erkennen, projektiert er ein Zeitalter der Versöhnung und Toleranz. Und der jüdische Kaufmann Nathan handelt nach den bürgerlichen Idealen der Aufklärung, die einem dogmatisierten und überkommenen Moralkodex (wie ihn der Patriarch verkörpert) eine Praxis der Nächstenliebe und ein aktives Handeln im Diesseits gegenüberstellen. Insofern steht Lessings Nathan in einer gewissen Nähe zu seiner Minna, Versöhnungsutopie denn auch in seinem Lustspiel geht es um die Ersetzung starrer Konventionen und Begriffe (Begriff der Ehre ) durch eine selbstverantwortliche Mitmenschlichkeit. 24

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