Anselm Winfried Müller Die Vernunft der Gefühle. Zur Philosophie der Emotionen 7
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- Ralf Biermann
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2 Inhalt Anselm Winfried Müller Die Vernunft der Gefühle. Zur Philosophie der Emotionen 7 Rainer Reisenzein Die Berechnung der Gefühle. Skizze eines komputationalen Modells der Emotionen Briefwechsel Literatur
3 Rainer Reisenzein Die Berechnung der Gefühle Skizze eines komputationalen Modells der Emotionen Nachdem ich die Einladung zur Mitarbeit an diesem Band angenommen hatte, habe ich längere Zeit überlegt, welche von zwei möglichen Darstellungsweisen ich wählen sollte: Sollte ich einen möglichst unparteiischen Überblick über den Stand der psychologischen Emotionsforschung geben? Oder sollte ich meine eigene Sichtweise der Emotionen beschreiben, mit der Gefahr der Einseitigkeit, die eine solche Darstellung mit sich bringt? Ich habe mich schließlich für die zweite Darstellungsweise entschieden, aus zwei Gründen. Zum einen bin ich den ersten Weg bereits an anderer Stelle gegangen und kann interessierte Leserinnen und Leser auf die entsprechenden Veröffentlichungen verweisen (z. B. Reisenzein u. Horstmann, 2006; Reisenzein u. Weber, 2009).1 Zum anderen hoffe ich, dass die Darstellung einer eigenen Position und ihre Verteidigung gegen Einwände für meinen philosophischen Diskussionspartner ebenso wie für die Leser interessanter ist als eine Überblicksdarstellung. Außerdem hat sich meine Sichtweise über die Entstehung, Natur und Funktion von Emotionen in den letzten 15 Jahren bis zu einem Punkt präzisiert, an dem ich glaube, eine eigenständige Position vorstellen zu können auch wenn diese 1 Ausführlicher auch Meyer, Reisenzein und Schützwohl (2001); Meyer, Schützwohl und Reisenzein (2003); Reisenzein, Meyer und Schützwohl (2003). Zur Vertiefung verweise ich auf neuere Handbücher und Nachschlagewerke der Emotionspsychologie, insbesondere Otto, Euler und Mandel (2000); Davidson, Scherer und Goldsmith (2003); Lewis, Haviland-Jones und Barrett (2008). Der vorliegende Beitrag beruht in Teilen auf Reisenzein (2009a, 2009b, 2012a, 2012b) und Reisenzein und Junge (2012). 72
4 ganz bewusst an etablierte Traditionen der Emotions- und Kognitionsforschung anschließt. Emotionen als interdisziplinäres Forschungsthema und die Rolle der Psychologie Das Thema»Emotion«hat in den letzten dreißig Jahren innerhalb der Psychologie und in den letzten zehn bis zwanzig Jahren auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen eine Renaissance erlebt. Von der Biologie über die Neurowissenschaft, die Wirtschaftswissenschaft und die Soziologie bis hin zur Literaturwissenschaft, Computerwissenschaft und Philosophie: Allerorten beschäftigt man sich mittlerweile mit den Emotionen. Das ist zum Teil sicher eine Modeerscheinung, aber es gibt dafür auch inhaltliche Gründe. Erstens gilt es einfach, etwas aufzuholen; denn die Emotionen wurden von den Wissenschaften, inklusive der Psychologie, lange Zeit vernachlässigt. Zur Anfangszeit der institutionalisierten Psychologie (im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts) hat man sich zwar recht intensiv mit den Emotionen befasst. Die Psychologie verstand sich damals als Wissenschaft von den Bewusstseinszuständen und Emotionen manifestieren sich zweifellos (zumindest unter anderem) im Erleben. Nach dem Aufkommen des Behaviorismus (um 1915) und der damit verbundenen, vorübergehenden Neudefinition der Psychologie als»wissenschaft vom Verhalten«wurden die Emotionen allerdings zunehmend vernachlässigt. Im Jahre 1933 sagte der amerikanische Behaviorist Max F. Meyer sogar vorher, die wissenschaftliche Psychologie würde die Beschäftigung mit Emotionen spätestens 1950 als eine Kuriosität vergangener Zeiten belächeln (Meyer, 1933). Statt dessen erlebte die wissenschaftliche Psychologie in den 1950er Jahren jedoch den Niedergang des Behaviorismus. Aber auch die dem Behaviorismus nachfolgende, am Modell der Informationsverarbeitung in Computern orientierte Kognitive Psychologie hat die Emotionen zunächst vernachlässigt. Zum Teil glaubte man, wie schon vorher Meyer (1933), die Kategorie»Emotion«würde sich in nichtemotionale Kategorien auflösen lassen, wie zum Beispiel die Kategorien»körperliche Aktivierung«und 73
5 »Kognition«(Mandler, 1984; Schachter, 1964). Es spricht jedoch vieles dafür, dass eine Reduktion von Emotionen auf nichtemotionale Zustände nicht möglich ist. Ein zweiter Grund für die Renaissance der Emotionsforschung ist, dass es in den letzten 30 Jahren zu einer Neubewertung der Adaptivität von Emotionen gekommen ist. Traditionell herrschte in der Psychologie und auch in anderen Humanwissenschaften die Ansicht vor, die Emotionen seien Überbleibsel der evolutionären Vergangenheit des Menschen, die zumindest in der modernen Gesellschaft wenig Nutzen hätten (vgl. Arnold, 1960). Was den Menschen nach dieser Sicht auszeichnet, ist sein Verstand, seine Fähigkeit zum vernünftigen Denken und Entscheiden. Dabei seien die Emotionen als angebliche Produkte primitiver, in archaischen Hirnregionen beheimateter Affektprogramme nur störend: Sie beeinträchtigen das vernünftige Denken und führen als Folge davon zu Handlungen, die den eigenen besten Interessen der Person zuwiderlaufen. Aus dieser Perspektive gesehen mag die Erforschung der Emotionen nur zu dem Grad wichtig erscheinen, als sie uns in die Lage versetzt, unsere Emotionen besser in den Griff zu bekommen (vgl. Gross, 2008). In den letzten dreißig Jahren hat sich dagegen zunehmend die historisch freilich nicht wirklich neue (z. B. McDougall, 1908/1960; Meinong, 1894) Auffassung durchgesetzt, dass Emotionen, auch wenn sie ohne Zweifel manchmal schädliche Effekte haben, insgesamt adaptiv sind (Feldman Barrett u. Salovey, 2002; Frijda, 1994; s. dazu auch Reisenzein u. Horstmann, 2006). Nach Ansicht einiger Forscher sind Emotionen sogar unverzichtbar für adaptives Handeln (z. B. Damasio, 1994). Zumindest aber wird heute in der Psychologie und zunehmend auch in anderen Humanwissenschaften die alltagspsychologische Erkenntnis akzeptiert, dass Emotionen in der»psychischen Maschinerie«eine wichtige Rolle spielen und dass man deshalb ohne die Berücksichtigung der Emotionen nicht ausreichend verstehen kann, wie Menschen»funktionieren«, das heißt, weshalb sie so denken und handeln, wie sie es tun. Das sind einige der Gründe, weshalb Emotionsforschung heute in vielen Disziplinen betrieben wird. Jede Fachrichtung trägt dabei ihre eigene Forschungstradition und ihre eigenen Methoden an den Gegenstand»Emotion«heran. Dabei hat sich jedoch zunehmend 74
6 gezeigt, dass der einzelwissenschaftliche Zugriff auf den Gegenstand oft zu kurz greift. Deshalb wird seit einigen Jahren die Entwicklung einer interdiziplinären Emotionswissenschaft (»affective science«) analog zur schon bestehenden Kognitionswissenschaft gefordert und diese ist bereits im Entstehen begriffen (z. B. Davidson, Scherer u. Goldsmith, 2003; Sander u. Scherer, 2009). Im Rahmen dieser interdisziplinären Emotionswissenschaft kommt der Psychologie eine zentrale Rolle zu; denn die Psychologie ist die Wissenschaft, die sich sozusagen»hauptberuflich«mit dem Verhalten und Erleben des Menschen beschäftigt und mit den psychischen Mechanismen, die Verhalten und Erleben hervorbringen (tatsächlich liegt das Hauptinteresse der Kognitiven Psychologie auf diesen Mechanismen). Grundlegende Aussagen zu den Emotionen darf man daher insbesondere von der Psychologie erwarten. In der Tat wenden sich Kollegen aus den Nachbardisziplinen, die sich für Emotionen interessieren, oft an die Psychologie in der Hoffnung, dort ein einigermaßen vollständiges und detailliertes Modell des Emotionssystems vorzufinden, an das sie in ihrer Forschung anschließen können. Diese Hoffnung wird derzeit von der Psychologie allerdings nicht erfüllt. Eine einheitliche, allgemein akzeptierte Emotionstheorie gibt es nämlich bisher nicht und in vielen Fragen bestehen nach wie vor Meinungsverschiedenheiten: Was genau sind eigentlich Emotionen und wie unterscheiden sie sich voneinander und von nichtemotionalen Zuständen? Wie entstehen Emotionen? Setzen sie Kognitionen, insbesondere Überzeugungen oder Gedanken, voraus und wenn ja, welche? Setzen Emotionen außer Kognitionen noch andere psychische Zustände voraus? Gibt es auch nichtkognitive Wege der Emotionsentstehung und wenn ja, welche Bedeutung haben sie? Gibt es unbewusste Emotionen? Welche Funktionen haben die Emotionen wozu sind sie gut, welche nützliche Rolle spielen sie im psychischen System? Wie kann man die Erlebensqualität von unterschiedlichen Emotionen (z. B. Beispiel Freude und Furcht) erklären und wie ihre unterschiedlichen Intensitätsgrade (z. B. schwache versus starke Furcht)? Sind die Emotionsmechanismen in der Evolution entstanden oder sind zumindest einige davon oder bestimmte Komponenten davon erlernt? Wie sieht der angeborene Teil des emotionalen Systems genau aus: Handelt es sich dabei um ein 75
7 System von separaten»modulen«für einzelne Emotionen (z. B. Freude, Traurigkeit, Furcht, Ärger, Ekel, Überraschung; Ekman, 1992) oder um einen einzigen psychischen Mechanismus, der alle Emotionen hervorbringt? Was ist der Unterschied zwischen emotionalen Reaktionen auf reale und fiktive Ereignisse, zwischen»realemotionen«und»fantasieemotionen«? Wie verhalten sich Emotionen zur Sprache? Das in diesem Beitrag skizzierte komputationale Modell der Emotionen gibt Antworten auf diese und weitere Fragen der Emotionsforschung und entwirft damit ein zusammenhängendes Bild der Emotionen und ihrer Rolle im psychischen Geschehen. Bei der Entwicklung des Modells habe ich insbesondere versucht, zentrale Einsichten der dominierenden Theorieströmung zu der Emotionen der letzten vierzig Jahre in Psychologie und Philosophie den kognitiven Emotionstheorien zu bewahren und gleichzeitig Einwänden zu begegnen, die gegen diese Theorien vorgebracht worden sind. Da die kognitiven Emotionstheorien an implizite alltagpsychologische Annahmen zu den Emotionen anschließen, bleibt das vorgestellte Modell in engem Kontakt zum Alltagsverständnis der Emotionen. Das ist wichtig, denn bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Emotionen handelt es sich ebenso wie in den meisten anderen Bereichen der Psychologie nicht um die Erforschung eines vollständig unbekannten Terrains, sondern um das bessere Verstehen bzw. die theoretische Durchdringung eines bereits vorwissenschaftlich (jedenfalls zum Teil) bekannten Erfahrungsbereiches. Gleichzeitig wird durch den Kontakt zur Alltagspsychologie die Kommunikation der Theorie an andere Wissenschaften und an die wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit erleichtert. Die vorgestellte Emotionstheorie bleibt aber nicht bei der Alltagspsychologie stehen, sondern überschreitet sie in mehreren Hinsichten. Erstens, indem als zutreffend erachtete alltagspychologische Annahmen explizit formuliert, systematisiert und präzisiert (inklusive quantifiziert; Reisenzein, 2009a) werden. Zweitens, indem die so rekonstruierten alltagspsychologischen Annahmen über Emotionen»komputational unterfüttert«werden, das heißt, indem informationsverarbeitende Mechanismen und Prozesse beschrieben werden, die den emotionalen Phänomenen zugrunde liegen könnten. Drittens, indem im Rahmen bzw. auf der Grund- 76
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