RÖMISCHE HISTORISCHE MITTEILUNGEN

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1 ÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN HISTORISCHES INSTITUT BEIM ÖSTERREICHISCHEN KULTURINSTITUT IN ROM RÖMISCHE HISTORISCHE MITTEILUNGEN HERAUSGEGEBEN VON OTTO KRESTEN UND ADAM WANDRUSZKA 28. BAND Sonderdruck VERLAG DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN Ij'IEN 1986

2 SIGLENN'EßZEICH\rIS Vorbemerkung: In den archäologischen Beiträgen werden, wenn nicht anders angegeben, über die folgenden Abkürzungen hinaus die Abkürzungen und Siglen der Archäologischen Bibliographie und des Archäologischen Anzeigers (in der jeweils letzten Fas- sung) verwendet. AASS AB Acta Sanclorum Art Bulletin ACO Acta Conciliorum Oecumetticortun ADB Allgemeine Deutsche Biographie AfD Archiv für Diplontalik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde AfK Archiv für Kulturgeschichte AfÖG Archivfür Österreichische Geschichte (bis Bd. 33: für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen) AHC Annuariunt Historiae Coneiliorunt AHP An. Boll. Archivuni Historiae Pontificiae Analecta Bollandiana ASRSP Archivio della Societä Romana di Storia Patria ASV Archivio Segreto Vaticano AUF Archiv für Urkundenforschung BAV Biblioteca Apostolica Vaticana BHG Bibliotheca Hagiographica Graeca BHL Bibliotheca Hagiographica Latina Bibl. Sanet. Bibliotheca Sanctorum BISI111 Bulletlino dell'islituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano Boll. Arte Bolletlino d'arte Burl. Mag. The Burlington Magazine BZ Byzantinische Zeitschrift CC Corpus Christianoruni. Series Latina CCC111 Corpus Christianorunt. Conlinualio mediaeralis CIG Corpus Inscriptionunt Graecartun CIL Corpus Inscriptionunt Latina rum CPG Clavis Patrum Graecoruin CPL Clavis Patrum Latinorum CSEL Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorumi DA Deutsches Archiv für Erforschung (bis 1944: Geschichte) des Mittel- alters DACL Dictionnaire d Arclieologie Chretienne ei de Liturgie DBI Dizionario Biografteo degli Ilaliani DDC Diclionnaire de Droit Canonique DIIGE Dictionnaire d'histoire ei de Geographie Ecclesiastiques EAA Enciclopedia dellarte Antica

3 REINHARD ELZE / ROM EIN SENECA-ZITAT INBARBAROSSA-URKUNDEN Quoniam humane labilis est menzoria et turbae rerum non sufficit - mit dieser Schilderung der Unzulänglichkeit des menschlichen Gedächtnisses beginnt die berühmte Gelnhäuser Urkunde Friedrich Barbarossas vom 13. April Als ich anfing zu studieren, war der Streit um diese Urkunde noch in vollem Gange; es ging vor allem um das berühmte Loch, und daß man wegen eines Lochs in einem Pergament so eifrig streiten konnte, hat mir damals sehr zu denken gegeben. In der neuen Ausgabe der Urkundet ist zwar alles Nötige sorgfältig verzeichnet, aber den damaligen Streit nachvollziehen kann nur der Leser der in dem Diplomataband - mit Recht - nur pauschal zitierten Literatur zum Prozeß und zur Absetzung Heinrichs des Löwen. Die Aufmerk- samkeit der Historiker konzentrierte sich dabei auf die Narratio der Urkunde. Die Arenga wurde damals kaum beachtet. Das ist inzwischen bei der Vorberei- tung der neuen Ausgabe gründlich nachgeholt worden. Und in einem Parallel- druck= der Arengen von vier Barbarossa-Urkunden wird deutlich, wie der Text zuerst 1172 in einer Würzburger Empfängerausfertigung erscheint (DF ) und dann in unserer Urkunde (DF. I. 795) sowie in zwei weiteren Diplomen (DF. I. 799 von 1180 und St von 1182) als Vorlage benutzt ist. Diktator der drei letzteren Diplome ist der Notar Gottfried G. Nicht als Anfang des Urkundentextes steht die Wortfolge auch in St von Bei Seneca liest man (De beneficiis VII 28,2): Ut excusen tibi imbecillitatem, inprinzis vas fragile est memoria et rerun turbae non suf cit. Es mag nicht von vornherein überzeugend sein, wenn ich behaupte, daß dies letztlich die Vorlage der Arenga der Gelnhäuser Urkunde ist. Denn so wie der Text in allen ' JIGH DD X/3 = Die Urkunden Friedrichs I., Teil 3, hrsg. von H. APPELT unter Mitwirkung von R. bi. HERKEA'RATIi und W. Koc11. Hannover 1985, : DF. I Dort ist ganz richtig angegeben, daß es sich um zwei Löcher handelte. Aber wir Studenten hatten nachzudenken über das, was in Loch" dem wohl gestanden haben könne... 2 R. M. HEREE1BAT11, Die Reichskanzlei in den Jahren (Denkschr. Österr. Akad. Wiss., phil. -hist. Kl. 130). Wien 1977,221 f., A. B. 3 R. M. HERKENRATH, Die Reichskanzlei in den Jahren (Denkschr. Österr. Akad. Wiss., phil. -hist. Kl. 175). Wien 1985, Dort auch der Hinweis auf eine Parallele aus dem Jahr 1200, eine Urkunde Bischof Konrads von Regensburg, welche beginnt: Quia ergo labilis est memoria humana ei turbe reruna non sufeit... (ilonumenta Boica XIV [1784] 41, Nr. 21).

4 152 Reinhard Elze modernen Ausgaben zu finden ist, konnte ihn niemand im 12. Jahrhundert lesen, da die in allen Handschriften und älteren Ausgaben verderbte Stelle durch eine Konjektur des großen dänischen Philologen J. N. Madvig ihre heutige Gestalt erhalten hat, vor wenig mehr als hundert Jahren. Die modernen kritischen Ausgaben, die nur einen kleinen Teil der reichen Überlieferung berücksichtigen4, machen das kenntlich. Sie lassen immerhin auch noch erkennen, daß der dem Archetypus nächste Codex Nazarianus (BAV, Cod. Pal. lat [saec. IX in. ], f. 123') schreibt: Ut excusem tibi imbecillitatem inprimis tuam fragile est memoria ei rerum turbae non suficit. In anderen Handschriften der Vatikanischen Bibliothek und in den älteren Drucken5 findet man, und das ist bei der Lektüre moderner Variantenapparate kaum zu erraten, die folgende Version: Ut excusem tibi imbecillitatem tuam, in primis fragilis est memoria et rerum turbae non su. üicit. Wer diesen Wortlaut mit der Arenga der Barbarossa-Urkunden ver- gleicht, wird wohl eher zugeben, daß diese Fassung des Seneca-Zitats die Vorlage gewesen sein kann. Auffallend bleibt, daß sich statt fragilis in den sechs erwähnten Urkunden der Jahre 1172 bis 1200 das Wort labilis findet. Das kann nicht von Seneca stammen, da dieses Adjektiv, nachgewiesen werden kann. Immerhin spricht soweit ich sehe, frühestens im 4. Jahrhundert Seneca an einer Stelle von der memoria labens (De benef. V 25,6) und mehr als dreihundert Jahre nach ihm der im Mittelalter viel gelesene Vergil-Kommentator Servius (zu Aen. VI 705): Postea in nimia senectute omnis memoria labitur, qua lapsa mors intervenit.... Daß die memoria labilis auch im 13. und 14. Jahrhundert Notaren und Rich- tern noch als Topos geläufig war, zeigt der 1246 geschriebene Liber Consolatio- nis et Consilii des Richters Albertanus aus Brescia, in dessen 10. Kapitel man liest: illemoria honainum labilis -st'. Die Arenga Quoniam labilis est memoria et rerum turbae non sufficit (ein Topos oder ein Zitat? ) wurde 1334 vom Rektor 4 Ob Madvigs Andenken in diesem Jahr gefeiert wird, weiß ich nicht. Erstarb am 12. Dezember G. 1linzzOLi, Ricerche sulla tradizione medievale del De Leneficiis e del De dementia di Seneca III. Storia della tradizione manoscritta. Bolleitino dei Classici 3 (1982) , ordnet die mehr als 250 ihm bekannten Handschriften der beiden Texte (sie sind sehr oft gemeinsam überliefert) oder von deren Kurzfassungen zu verschiedenen Familien oder Gruppen. Die von 3lazzoLi geplante kritische Edition ist leider noch nicht erschienen. In seinen Vorarbeiten (s. auch A. 10) wird unsere Stelle De benef. VII 28,2 nicht erwähnt. e So die Ausgaben Venedig 1503, Basel 1515, Basel 1573, Paris 1580, Paris 1587, Antwerpen 1605, die ich in der Vatikanischen Bibliothek, und die Ausgabe Leipzig 1770, die ich zuhause angesehen habe. 6 Ed. Th. SUNDnr. Kopenhagen 1873,26. Vgl. K: D. NOTIHDURFr, Studien zum Einfluß Senecas auf die Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts. Leiden-Köln 1963,

5 Ein Seneca-Zitat in Barbarossa-Urkunden 153 und Thesaurar des Patrimonium Petri in Tuszien, dem päpstlichen Kapellan und legunt doctor Phylippus de Camabaillaco, und von Stephanus Lascoutz, Kanoniker von Notre-Dame-la-Grande in Poitiers, verwendet, als sie ein neues Register aller dieses Patrintoniunt betreffenden Rechtstitel zusammenstellen ließen'. Fast zur gleichen Zeit, wohl , hat Guillaume du Breuil das Proömium seines Stilus curiae parlantenti8 begonnen mit den Worten: Quoniant hontinunt mentoria labilis est Es... wäre nicht schwer, weitere Zeugnisse für die Schwäche des Gedächtnisses zu suchen und zu finden0, die nicht nur durch die Wörter labilis oder fragilis zum Ausdruck gebracht wird. Aber das wäre ein weites Feld. Es müßte dann noch mehr als bisher vom Topos als vom Zitat gehandelt werden. Daß der Anfang der Gelnhäuser Urkunde auf Seneca zurückgeht, habe ich wohl gezeigt. Wo der Geistliche des Würzburger Neumünsters, der die unmittelbare Vorlage der Gelnhäuser Urkunde verfaßte10, das Seneca-Zitat hergenommen hat, weiß ich nicht, weiß also auch nicht, ob er es war, der das fragilis durch labilis ersetzt hat. Wenn die zitierten fünf Barbarossa-Urkunden und die Urkunde aus Regensburg aus einen einigermaßen überschaubaren Umkreis stammen, zeigen der Richter aus Brescia um die Mitte des 13. Jahrhunderts und die Franzosen in Tuszien und in Paris bald nach 1330, daß der gern gelesene und viel zitierte Seneca an ganz verschiedenen Orten auch in Urkunden seinen Platz gefunden hat. Soweit ich sehe, hat keiner der vielen Historiker, die sich mit der Gelnhäuser Urkunde befaßt haben, das Seneca-Zitat bemerkt. Oder: Wer es bemerkt hat, hielt es nicht für bemerkenswert. Mit Sicherheit gekannt und auch ausdrücklich angemerkt hat es ein Professor in Bologna, der wahrscheinlich die Barbarossa-Urkunden nicht kannte. Pontius aus Lerida, der zwischen 1213 und 1217 seine Sununa arboris actionum verfaßte, läßt sie beginnen: Quoniant, ' Fr. BOCK, Kodifizierung und Registrierung in der spätmittelalterlichen len Verwaltung. Archiral. Zeitschr. 56 (1960) 14, hat den Text gedruckt. kuria- s Ed. F. AuRERT (Collection de Textes 42). Paris 1909,1. Besonders ergiebig ist H. FICIITE1AU, Arenga. Spätantike und Mittelalter im Spiegel von Urkundenformeln (JIIÖG, Erg. -Bd. 18). Graz-Köln 1957, (das Seneca-Zitat a , A. 16, 12.1,1" ist Ad Polyb. de consol. 1,1). A Dial. bei A. 14 wird Plinius, Hist. Nat. VII 24,2 zitiert, wo es vom Gedächtnis heißt: Alec aliud est aeque fragile in homine. 10 P. JOIIAXEK, Die Frühzeit der Siegelurkunde im Bistum Würzburg. Würzburg 1969,721. Über die Bedeutung Würzburgs für die Überlieferungsgeschichte von Senecas De beneficiis im 12. Jahrhundert vgl. G. 3iAzzoLi, Ricerche sulla tradizione medievale del De beueficiis e del De dementia di Seneca II. Il posto del Ms. Monac. Clm Bollellino del Comilato per la preparazione dell'edizione nationale dei classici greci e latini X. S. 26 (1978)

6 154 Reinhard Elze ut ait Seneca, fragilis est hominum mentoria et rerum turbae non suf Giens... Vielleicht hat, etwa zur gleichen Zeit, auch Aegidius von Corbeil, der Leibarzt des Königs Philipp August von Frankreich, gewußt, daß Seneca der Autor war. Denn er kombiniert unser Zitat mit einem längeren aus Senecas zweitem Brief an Lucilius dort, wo er gegen das Lesen vieler Bücher polemisiert, im Proömium zu seinen Libri de laudibus et virtutibus compositorum medicaminum. Als Student wurde ich tief beeindruckt durch den Eifer der Diskussionen über die Gelnhäuser Urkunde. Jetzt leide ich unter der Masse der seither angesammelten Bücher und stimme dem vor mehr als 760 Jahren gestorbenen französischen Arzt zu: Multiludo librorum locupletat arcam, depauperat ratio- nem: fragilis est memoria et rerum turbae non sufficit G. Rossi, La Summa arboris actionum di Ponzio da Ylerda. Milano 1951,45 (ohne Nachweis der Seneca-Stelle). Für den Hinweis danke ich Al. Bertram. Vgl. F. C. VON SAVIONY, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter V. Ndr. Darmstadt 1956,156f. 12 Ed. L. CIiOULANT. Leipzig 1826,48. Der dortige Druckfehler aream ist hier in arcam verbessert; vgl. Mittellatein. Wörterbuch 1 (1967) v. area I, 3.

7 EUA Enciclopedia Universale dell'arte FRA Fontes Rerum Austriacarune GBA Gazelle des Beaux-Arts HJb Historisches Jahrbuch HVjS Historische Vierleljahrschrift HZ Historische Zeitschrift JAC Jahrbuch für Antike und Christentum JKhSill Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien (bis 1918: des Allerhöchsten Kaiserhauses) JÖB(G) Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik (bis 1968: der Österrei- chischen Byzantinischen Gesellschaft) J11'CI Journal of the Warburg and Courtauld Institutes LCI Lexikon der Christlichen Ikonographie LThK Lexikon für Theologie und Kirche MANsI J. D. MANSI, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Florenz-Venedig el. Arch. Hist. Melanges d Archeologie ei d'histoire. Ecole Franpaise de Rome MGH Monumenla Germaniae Historica AA DD SS Auctores antiquissimi Diplmnata Scriptores (die weiteren Reihen in verständlichen Kürzungen) JIIÖG (MÖIG) Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung MÖSIA ( : des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung; 1944: des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien) Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs NA Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde NDB Neue Deutsche Biographie ÖBL Österreichisches Biographisches Lexikon PG Patrologia Graeca PL Palrologia Latina PO Patrologia Orienlalis QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen. Archiven und Biblio- theken RAC Reallexikon für Antike und Christentum RDKg Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte RE Pa: dys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft RH Revue Historique RHE Revue d'histoire Ecelesiastique MM Römische Historische Mitteilungen RJKg Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte RQ Römische Quartalschrift für christliche Ahertunnskunde und (für) Kirchengeschichte RSI Rivista Storica Ilaliana SB Sitzungsberichte (allgemein) SC Sources Chretie nes SRI Scriptores Rerum Italicarum Stil Studi Medierali