Prüfung in Rechtsphilosophie I bei Prof. Senn vom 8. Juni 2010
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- Hilke Schenck
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1 MUSTERLÖSUNGEN Prüfung in Rechtsphilosophie I bei Prof. Senn vom 8. Juni 2010 Aufgabe: Hinweise: Beantworten Sie die gestellten Fragen in Bezug auf den Quellentext. Lesen Sie zuerst alle Fragen sorgfältig durch. Mehrdeutige oder in sich widersprüchliche Antworten werden ebenso wenig bewertet wie die Niederschrift von vereinzelten Stichworten. Korrigiert wird, was lesbar ist. Lassen Sie einen breiten Korrekturrand (ca. 5 cm) frei und paginieren Sie jede Seite. TEXT 7. GRUNDGESETZ DER REINEN PRAKTISCHEN VERNUNFT 5 Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Anmerkung Die reine Geometrie hat Postulate als praktische Sätze, die aber nichts weiter enthalten, als die Voraussetzung, daß man etwas tun könne, wenn etwa gefordert würde, man solle es tun, und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein Dasein betreffen. Es sind also praktische Regeln unter einer problematischen Bedingung des Willens. Hier aber sagt die Regel: man solle schlechthin auf gewisse Weise verfahren. Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin, als kategorisch praktischer Satz, a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel selbst, die also hier Gesetz ist) objektiv bestimmt wird. Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. [ ] Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt [ ]
2 Frage 1 [6 P.] a) Wie wird diese Kernaussage des Quellentextes fachtechnisch bezeichnet? [1 P.] Kategorischer Imperativ b) Worin besteht die grundlegende Neuerung dieser Handlungsmaxime hinsichtlich der Qualität der Rechtsverbindlichkeit gegenüber älteren Handlungsanweisungen der Rechtsphilosophie? [3 P.] Der kategorische Imperativ sichert Freiheit und Verbindlichkeit gleichermassen als allgemein geltendes und jederzeit erzwingbares Recht. Im Rechtsstaat der freien Bürger sind Recht und die Befugnis zu zwingen einerlei. Damit hat Kant einen modernen Rechtsbegriff entwickelt, der dem Rechtsstaatsgedanken zu Grunde gelegt werden kann. 1 c) Wie lässt sich diese rechtsphilosophische Position (und die darauf folgenden) in ihrem Grundanliegen monothematisch fassen und dadurch zugleich von den antiken wie mittelalterlichen Rechtsphilosophien abgrenzen? [2 P.] Freiheitsphilosophie (Kant, Hegel) vs. Gerechtigkeits- oder Wahrheitsphilosophie (Antike und Mittelalter) 2 (Die öfters gegebene Antwort, es handle sich um den Gegensatz Intellektualismus/Voluntarismus ist deshalb falsch, weil dieser Gegensatz von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart festzustellen ist, und die Frage sich dagegen auch auf die epochale Abgrenzung bezog.) Frage 2 [6 P.] Auf welchen drei grundlegenden Annahmen beruht die Kernaussage des Quellentextes? Der kategorische Imperativ beruht auf drei grundlegenden Annahmen, dass 1. das Handlungsgesetz die Übereinstimmung der Willen aller freien Wesen sei 2. der freie und gute Wille ein Faktum der Vernunft sei und 3. die autonome Person stets der Zweck, nie das Mittel sei. 3 1 Vgl. Skript, S Dargelegt im Unterricht vom 3. und 10. Mai Vgl. Skript, S. 45.
3 Frage 3 [3 P.] Ein Diktator hält zur Befriedigung seiner Rachegefühle eine Person als Geisel gefangen. Wie ist unter konkreter Anwendung der Kernaussage des Quellentexts dieser Fall zu beurteilen? Sowohl dieser Diktator als auch jeder andere dürfte gefangen gehalten werden, wenn ein Diktator seine Rachegefühle zu Recht befriedigen könnte. Dies aber kann niemand nicht einmal der Diktator selbst objektiv je wollen. Denn hier wird eine Handlung in Bezug auf eine Person instrumentalisiert. Eine solche Norm verstiesse gegen die Würde des Menschseins, auf der die Handlungsmaxime der praktischen Vernunft beruht. Die Gefangenhaltung von Personen zwecks Befriedigung von Rachegefühlen ist im Sinne der Kernaussage des Quellentexts folglich nicht zulässig. Frage 4 [20P.] Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede der Position dieses Quellentextes zur: a) Rechtsauffassung von Aristoteles? Gemäss Aristoteles ist der Mensch ein von Natur aus vernünftiges und soziales Wesen (animal rationale et sociale). Die aristotelische Rechts- und Staatstheorie baut auf diesem Prinzip auf. Daher sollte die Glückseligkeit allgemein für alle im Staate realisiert werden können, weil es das höchste Ziel eines Menschen als Gemeinschaftswesen ist, so vernünftig zu leben, dass eine Koexistenz von verschiedenen Menschen sowohl in einer Gemeinschaft als auch in einem Staat gestützt auf eine Verfassung und Rechtsordnung möglich ist. Jener Staat ist der Beste, in dem sich der Mensch im Sinn des anthropologisch gemeinschaftlichen Telos grundsätzlich am besten entwickeln und dadurch auch individuell zu seiner Glückseligkeit finden kann. Kant jedoch ist Gegner jeglichen Glückseligkeitsstrebens (Eudämonismus), denn nicht das Handeln aus Lust oder überhaupt eines Zieles wegen, sondern nur ein Handeln aus Pflicht ist sittlich wertvoll. Der Wille ist erst dann gut, wenn aus Pflicht gehandelt wird und nicht aus Neigung. Hierin zeigt sich z.b. der Unterschied von neuzeitlicher Freiheits- zur antiken Wahrheits- oder Gerechtigkeits- und Glückseligkeitsphilosophie deutlich. 4 Aristoteles unterscheidet das Recht in ein natürliches und ein gesetzliches. Natürlich ist, was kraft Natur überall gilt, gesetzlich, was durch eine politische Gemeinschaft erst bestimmt wird, weil es von Natur unbestimmt ist. Der Rechtsbegriff lässt sich demnach konsequent immer auf zwei Ebenen betrachten. Danach ist das Recht das Gesetzliche und das der Gleichheit Entsprechende, das Unrechte das Ungesetzliche und der Gleichheit Widersprechende. Die Bestimmung des Rechts wie des Unrechts erfolgt stets mit Blick auf die Aspekte 4 Vgl. Skript, S. 18 f.
4 «gerecht/ungerecht». Dies ist der allgemeine Begriff des «richtigen» Rechts. Das Gerechte erscheint insoweit stets als eine Mitte, die sich aus einem Verhältnis von Personen und Sachen ergibt. 5 Dagegen verwendet Kant (Autor des Quellentextes) einen strikten Rechtsbegriff, wonach die Unterscheidung in zwei Sphären unzulässig ist. Gleichheit als Merkmal der Gerechtigkeit wird gerade dadurch erreicht, dass das strikte Recht stets und unnachgiebig durchgesetzt wird. Die Berufung auf eine höhere oder allgemeinere Rechtsidee ist damit nicht möglich. 6 b) Goldenen Regel (gemäss Matthäus-Evangelium Kap. 7, Vers 12 «Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen. Darin besteht das Gesetz und die Propheten.»). Die Goldene Regel postuliert das Prinzip, sich anderen Personen gegenüber so zu verhalten, wie ich mir wünsche, dass sie sich mir gegenüber auch verhalten sollten. Der Unterschied der Goldenen Regel zu Kants kategorischem Imperativ ist aber gerade darin zu sehen, dass der kategorische Imperativ Handlungen nicht generell aus einer subjektiven Perspektive gebietet resp. verbietet, ob ich also etwas will oder nicht, sondern vielmehr aus dem objektivierten Gesichtspunkt des Gesetzes. Eine Maxime des Willens soll gleichzeitig stets als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können. Der Unterschied wird an folgendem Beispiel ersichtlich: Gemäss kategorischem Imperativ muss man Menschen in Not (im Sinne einer allgemeinen objektiven Pflicht) stets beistehen. Eine Person hingegen, die nicht will, dass man ihr in einer Notsituation beisteht, kann sich nach konsequenter Interpretation der Goldenen Regel rechtfertigen, anderen Personen, die sich in einer Notlage befinden, auch nicht beistehen zu müssen. c) Position eines Duns Scotus und eines Hobbes? Im Gegensatz zu Kant vertreten Duns Scotus und Hobbes eine voluntaristische Position. Duns Scotus nimmt die augustinische Denktradition wieder auf und stellt sich damit gegen den thomistischen Aristotelismus. 7 Die Liebe und die Gnade, nicht der Intellekt, bilden das Fundament, auf das sowohl seine Theologie als auch seine Rechtslehre aufbauen. Es geht somit nicht um eine selbständige intellektuelle Erkenntnis, sondern um Erlösung und Glauben aus Gottes Gnade durch «willentliche bzw. freiwillige» Unterwerfung des Menschen. 8 Das junge Christentum bricht mit seiner Konzeption eines allmächtigen Willens Gottes radikal mit der Tradition der griechischen Philosophie und des ethischen Intellektualismus. Im Gegensatz zum Intellektualismus geht es der christlichen Religion um Erlösung und Glauben aus Gottes Gnade durch «freiwillige» 5 Vgl. Skript, S Vgl. Skript, S Vgl. Skript, S Vgl. Skript, S. 29.
5 Unterwerfung des Menschen. Die voluntaristische Denktradition wird in der Reformation (Luther) und Renaissance (Fürsten) weiter entwickelt und theoretisch durch Hobbes im 17. Jahrhundert auf den Höhepunkt geführt. In Hobbes säkularer Staatsrechtslehre fällt dann «Gott» als das Fundament allen Daseins weg und an dessen Stelle tritt der Wille des obersten Herrschers. 9 d) Rechtsauffassung von G. W. F. Hegel? Kants Rechtslehre war aus dem Geist der Aufklärung entwickelt worden und somit noch im Umfeld eines modernen Absolutismus, der das Gemeinwohl garantierte, entstanden, wogegen Hegels Rechtsauffassung nach dem Zerfall der Reichsstrukturen des Ancien Régimes und in Auseinandersetzung mit jenem Liberalismus und vor dem sozial-ökonomischen Hintergrund des (daraus entstandenen) Pauperismus entwickelt worden ist. Hegel steht damit zwar in der Nachfolge Kants und vertritt wie dieser einen liberal aufgeklärten Standpunkt (Freiheitsphilosophie). Doch im Sinn der platonisch-aristotelischen Tradition versucht Hegel den Begriff der Freiheit in der traditionsgebundenen Kategorie der Sittlichkeit als «Naturrecht» wieder zu festigen. Er sieht im kategorischen Imperativ gerade vor dem sozial-ökonomischen Hintergrund daher eine problematische, wenn nicht gar untaugliche Formel, die so sein Eindruck jeglichen Inhalts bar im Namen der Liberalität alles und somit auch Beliebiges zulasse. 10 Hegel erkannte als einer der Ersten seiner Zeit, dass in der Ausschaltung von Wertungselementen im Sinn des formal-positivistischen Verständisses des kategorischen Imperativs eine problematische Seite liegt, die bloss einen äusseren Erfolg zu gewährleisten scheint. Der Rechtsbegriff Kants bleibt dieser Ansicht zu Folge ebenso leer, wie formal, wenn nicht eine materialethische Begründung etwa im aristotelischen Sinne oder der Autonomie der Person im Sinne Kants (als impliziter Zweck) mitgedacht wird. Sonst ist dieser Rechtsbegriff nicht mit der Realität der Menschen vermittelt und ist daher blosses gedankliches Konstrukt. Denn Selbständigkeit und Gleichwertigkeit der Menschen, die beim kategorischen Imperativ implizit vorausgesetzt sind, bilden keineswegs die Realität. Ein solch formaler Rechtsbegriff bleibt blosses Postulat, da die sozialen, geistigen und ökonomischen Rahmenbedingungen durch die Inhaber des Rechts faktisch vorgegeben und bestimmt werden. Hegel war der Erste, der diesen Bruch im idealen Konstrukt einer abstrakten bürgerlichen Rechtssphäre vor dem Hintergrund des sozialen Elends, das mit der Restaurationspolitik nach 1815 einsetzte, thematisierte. Hegel will in seiner Rechtsphilosophie daher die Entwicklung der Freiheit des Individuums in seinen konkreten realen Strukturbedingungen von Familie, Gesellschaft und Staat als notwendige Folge darlegen (können), weil nur in diesen Institutionen sich Freiheit konkret leben lässt Vgl. Skript, S. 29 f. 10 Vgl. Skript, S Vgl. Skript, S. 46.
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