1. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte

Transkript

1 1. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte 1.1 Entstehungsgeschichte Verlegerin Edith Jacobsohn lädt Kästner und seine Freunde zu informellen Teegesprächen ein Dabei fordert sie Kästner eines Tages auf, ein Kinderbuch zu schreiben: Dieser ist überrascht, sagt aber zu 1929: Emil und die Detektive (Illustrationen von Walter Trier) Verarbeitung eigener Erfahrungen und Erlebnisse: - Figur Emil stammt aus gleichem Milieu wie Kästner - Innige Mutter-Sohn-Beziehung - Mutter eröffnet in der Familienwohnung eine Frisierstube - Kästner ist ein Musterknabe, mit seinen guten Noten dankt er seiner Mutter für ihre Mühe 1.2 Wirkungsgeschichte es wurde ein voller Erfolg (wegen der realistischen Erzählweise und der utopischen Dimension des Buches, der die Idee zugrunde liegt, auf pädagogischem Wege zu einer humaneren Gesellschaft zu gelangen) bis 1991 erschienen 136 Auflagen mehrere Filmversionen, 1 Bühnenfassung, 1 Schallplatte in mehr als 30 Sprachen übersetzt Werke werden an ausländischen Schulen (Bsp. USA und Japan) als Lektüre zum Deutschlernen eingesetzt Kästner gehört zu den meistgelesenen deutschen Kinderbuchautoren

2 2. Die verschiedenen literarischen Tendenzen 2.1 Roman der Neuen Sachlichkeit literarische Gegenströmung zum Expressionismus, seit ca Ziel: Rückkehr zu objektiver, realistischer Darstellung Berufung auf Maximen der Aufklärung Handlung wird in Gegenwart verlegt Realismus des Milieus, Einbeziehung von Berliner Gassensprache 2.2 Großstadtroman thematische Gruppe von Werken, behandelt Problematik des Großstadtlebens in den 20er Jahren Großstadt als literarisches Thema entdeckt Großstadt: Inbegriff eines modernen, dynamischen Lebensgefühls; aber auch Bedrohung ( Großstadtdschungel ) Großstadt hat unverzichtbare Funktion für Handlungsaufbau 2.3 Kriminalroman (Detektivroman) behandelt Verbrechen in Hinblick auf Motiv, Ausführung, Entdeckung, Aburteilung; psychologisches Interesse am Verbrecher Detektivroman: ausführliche Schilderung der Aufklärung allg. Interesse an Verbrechen (Presseberichte, Edgar Wallace) Handlungsschema entspricht Räuber-und-Gendarm-Spiel 2.4 Bildungs- bzw. Erziehungsroman Bildungsroman: behandelt den Einfluß der Bildungsgüter und der Umwelt auf die Persönlichkeitsentwicklung Erziehungsroman: legt Augenmerk auf den Einfluß der Pädagogik deutlich moralische Züge (Kästner selbst sah sich als Moralist) Moral der Großmutter: Persiflage auf die üblichen Lehrsätze moralischer Erzählungen in der Kinderliteratur Anleitung zur Selbsterziehung (durch Kommunikation): Erziehungsprinzip der Vernunft Ziele: Ausbildung sozialintegrativer Kompetenzen; Entwicklung von Verhaltens- und Gesprächsstrategien zur Konfliktbewältigung

3 3. Gestaltung der Figuren 3.1 Emil Tischbein moderner Held aus kleinbürgerlichen Verhältnissen trägt biographische Züge des Autors intelligent, aktiv, höflich, naiv, selbstbeherrscht, fleißig; aber auch empfindlich, leicht aufbrausend, schnell beleidigt intellektuelles Verhalten: vermittelt, regt neue Ideen an 3.2 Gustav mit der Hupe unangefochtener Anführer der Kinder im Viertel, gutmütig, hilfsbereit, tatkräftig, unkompliziert, nicht übermäßig klug pragmatisches Verhalten: ausgerichtet auf Erfordernisse der Situation akzeptiert Professor mit seinen Schwächen, läßt ihn planen und befehlen; handelt nach eigener Überzeugung (Nichtbeachtungsmodell) 3.3 Pony Hütchen namenlos (nur Spitzname), keine Handlungsrelevanz verspielt, hilfsbereit, verschwiegen, aufsichtsgebunden, pfiffig reduziert auf weibliche Klischees nicht in Jungengruppe integriert, aber geduldet; dienende Funktion 3.4 Der kleine Dienstag arglos-ehrlich, zuverlässig, diszipliniert ängstlich-gewissenhaftes Verhalten: widerspricht nicht, übernimmt ungewollte Aufgabe (Resignationsmodell)

4 4. Erzählsituation Erich Kästners Poetologie im Vorwort begründet Kästner, warum er dem realistischen Erzählen den Vorzug vor dem phantastischen gibt: Man kann nur über Dinge schreiben, die man kennt (z.b. von Kindern, denen er täglich begegnet) Schauplätze, Charaktere, Sprach- und Verhaltensweisen dem Kinderalltag der Zeit nachempfunden (Wirklichkeitsrelevanz) Kästners realistische Kinderbücher: Prototyp einer neuen Gattung der erzählenden KJL, die in den 50er Jahren mit Umweltgeschichte bezeichnet wurde synthetischer Wirklichkeitsbezug Kästner tritt in der Handlung selbst auf (Bahnfahrer, Journalist) Örtlichkeiten im Präsens beschrieben Leserlenkung Steuerung des Rezeptionsvorgangs durch implizite Wertungen und Kommentare (Einstellung zu Personen und deren Verhalten wird vorbestimmt) durch Erzählerkommentare wird eine Metaebene erreicht Kindern wird Mut und Freude gemacht durch eingestreute Anreden an den Leser Verfremdungseffekt (Brechts Theatertheorie, episches Theater) Verfremdung: bewußte künstl. Distanzierung zwischen realer und fiktiver Welt durch Illusionsbrechung (Erzählerkommentare, Sprache etc.) V-Effekt: keine Identifikation durch Illusion; Zuschauer soll sich nicht gefühlsmäßig binden, sondern kritisch beurteilen, Vertrautes als fremd und erneut durchdenkbar bzw. veränderbar betrachten Ziel: Besserung der Verhältnisse Selbstlernfunktion: Kinder sollen aus dargestellten Verhaltensmustern lernen

5 5. Aufklärerische Kindheitsutopie Kinder als Hoffnung auf Veränderung der Erwachsenenwelt Erziehung als einzig legitimes Mittel, um Einfluß auf die Gesellschaft zu nehmen Kinder: unverdorben und natürlich; befähigt Kinder erst zu erfolgreichem, gemeinsamen Handeln (vgl. romant. Kindheitsideal) Kästners Erziehungsideale gelten für Kinder und Erwachsene Verpflichtung der Erwachsenen: Kinder über Mißstände aufklären und humane Werte vermitteln pädagogische Utopie Anleitung zur Selbsterziehung der Kinder durch Kommunikation, vorgeführt am Gesprächsverhalten in der Gruppe Umgang mit selbsternannten Autoritäten: 3 Reaktionsmodelle 1. Verweigerung / Petzold: stellt Autorität in Frage, führt zu Gruppenausschluß 2. Resignation / Dienstag: Übernahme einer ungewollten Aufgabe; ehrliches Antwortverhalten ungeeignet, um sich durchzusetzen 3. Nichtbeachtung / Gustav: erfolgreich; durch bewußten Verzicht auf gesellschaftlich erwünschtes Verhalten und konventionelle Gesprächsregeln lassen sich autoritäre Befehle unterlaufen klassenübergreifende kindliche Solidargemeinschaft Kindergruppe, deren Existenz und Aktionen erst die Voraussetzung für den Erfolg des Helden schafft Gruppe leistet etwas, daß dem einzelnen unmöglich wäre; tritt als Kollektiv mit gemeinsamer (ehrenhafter) Zielsetzung auf Fazit: Ende der 20er Jahre: neuer Kindertyp als Held geschaffen (klug, selbstbewußt, eigenverantwortlich und vernünftig handelnd) Ideal des gehorsamen, braven Kindes aus der KL des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts abgelöst (nicht mehr unmündiges Erziehungsobjekt)

6 Illustrationen zu Emil und die Detektive von Walter Trier Pony Hütchen Der kleine Dienstag

7 Illustrationen zu Emil und die Detektive von Walter Trier Emil im blauen Sonntagsanzug Gustav mit der Hupe

8 Erich Kästner * in Dresden Vater Emil Richard Kästner, erst als selbständiger Sattlermeister, dann in Kofferfabrik tätig Mutter Ida: Friseurin, trägt zum Familienunterhalt bei 1918 Lehrerausbildung abgeschlossen; Abitur; erhält das Goldene Stipendium der Stadt Dresden Studienbeginn in Leipzig (Germanistik, Geschichte, Philosophie, Theatergeschichte) 1925 Promotion zum Dr. phil Umzug nach Berlin 1928 schriftstellerischer Durchbruch mit Herz auf Taille (Gedichtband) 1929 Emil und die Detektive (1. Kinderroman) weitere bekannte Bücher: 1931: Pünktchen und Anton / 1933: Das fliegende Klassenzimmer / 1934: Drei Männer im Schnee / 1935: Emil und die drei Zwillinge. Die zweite Geschichte von Emil und den Detektiven / 1949: Die Konferenz der Tiere / 1949: Das doppelte Lottchen in München