Maurice Ravel Meine einzige Geliebte ist die Musik (5)

Transkript

1 SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Maurice Ravel Meine einzige Geliebte ist die Musik (5) Mit Stephan Hoffmann Sendung: 12. Januar 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 SWR2 Musikstunde mit Stephan Hoffmann 08. Januar 12. Januar 2018 Maurice Ravel Meine einzige Geliebte ist die Musik, Folge 5 Heute mit Stephan Hoffmann. Im Laufe der Musikgeschichte wurden eine ordentliche Menge von Boleros komponiert, es handelt sich schließlich um eine südamerikanische Tanz- und Liedform. Aber wenn man von dem Bolero spricht, kann eigentlich nur einer gemeint sein: der von Maurice Ravel, der nach Meinung seines Komponisten leider keine Musik enthält. Es war nach einer Aufführung von Maurice Ravels berühmtem Bolero. Man erzählte dem Komponisten, hinterher habe eine Dame im Publikum fassungslos gerufen: Er ist verrückt! Darauf Ravel lächelnd: Sie hat das Stück verstanden. Wie zu fast all seinen Werken hatte Ravel auch zu seinem Bolero ein eher distanziertes Verhältnis. Zu seinem Komponisten-Kollegen Arthur Honegger sagte er mit leichter Ironie: Ich habe nur ein Meisterwerk gemacht, das ist der Bolero; leider enthält er keine Musik. Wahr am Begriff Meisterwerk ist, dass es sich beim Bolero seit der Uraufführung im November 1928 um das mit Abstand erfolgreichste Stück Ravels handelt. Ravel hatte seiner alten Freundin, der Tänzerin Ida Rubinstein, ein Ballett versprochen. Ursprünglich wollte er nur einige Stücke aus Isaac Albéniz' Zyklus Iberia orchestrieren. Dann entschied er sich doch für ein neues Werk. Eines Morgens spielte er einem Freund eine Melodie vor. Glauben Sie nicht, fragte er, dass dieses Thema eine insistierende Kraft besitzt? Ich werde versuchen, es verschiedene Male ohne jede Entwicklung zu wiederholen und allmählich mein Orchester... einer Klimax zuzuführen. Genau dies ist das Kompositionsprinzip des Bolero: 169 mal wird das Thema ohne grundsätzliche Veränderungen wiederholt, es wird lediglich immer lauter. Auch das Tempo ändert sich nicht, es bleibt immer gleich schnell. Nur: Wie schnell, darüber gingen die Meinungen ziemlich weit auseinander. Zumindest die Meinungen von Ravel, der es ja eigentlich wissen musste, und von Arturo Toscanini, der den Bolero im Frühjahr 1930 in der Pariser Oper aufführte. Ravel war dabei und er schrieb wenig später an eine Freundin: Wenn man mich in der Oper gesehen hat, so war es, weil ich wusste, dass Toscanini im Bolero ein lächerliches Tempo nimmt und ich es ihm sagen wollte. Das tat Ravel dann auch, es muss zu einer heftigen 2

3 Auseinandersetzung gekommen sein. Das entspricht nicht meiner Tempobezeichnung, ereiferte sich Ravel. Wenn ich Ihr Tempo spiele, hat es überhaupt keine Wirkung, giftete Toscanini zurück. Ein Wort ergab das andere, bis Toscanini schließlich den gewagten Satz sagte: Sie haben keine Ahnung von Ihrer Musik. Wir Nachgeborenen haben Glück, sowohl Ravel als auch Toscanini haben Plattenaufnahmen des Bolero hinterlassen, wir können also heute aus sicherem zeitlichen Abstand diesen Streit des Jahres 1930 entscheiden. Hier zunächst die Aufnahme unter Ravel. Musik 1: Maurice Ravel, Bolero (Schluss). Orchestre des Concerts Lamoureux, Dir: Maurice Ravel. Archiv-Nr. M '17-15'30. Dauer: 6'13 Das Ende des berühmten Bolero mit dem Orchestre des Concerts Lamoureux unter Maurice Ravel. Und hier im Vergleich derselbe Ausschnitt, diesmal sehr viel schneller, mit dem?-orchester unter Arturo Toscanini. Musik 2: Maurice Ravel, Bolero (Schluss). NBC Symphony Orchestra, Dir: Arturo Toscanini. TIM The International Music Company CD 2, Tr. 6. Maurice Ravels Bolero, diesmal mit dem NBC Symphony Orchestra unter Arturo Toscanini. Seit 1922 komponierte Ravel nur noch sehr wenig, seit 1932, also in den letzten fünf Jahren seines Lebens, überhaupt nichts mehr. Aber zwischen 1929 und 1931 entstanden seine beiden Klavierkonzerte, und zwar praktisch gleichzeitig, was umso erstaunlicher ist als sie stilistisch völlig unterschiedlich sind. Da ist einmal das einsätzige Klavierkonzert für die linke Hand, komponiert für den Pianisten Paul Wittgenstein, den Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte und dem es seine finanziellen Mittel gestatteten, einer ganzen Reihe der prominentesten Komponisten seiner Zeit 3

4 Aufträge zu erteilen, um das spärliche Repertoire für die linke Hand zu erweitern: unter anderem an Richard Strauss, Benjamin Britten, Sergej Prokofiew und eben auch an Maurice Ravel. Bei einer Privataufführung für Wittgenstein stellte sich heraus, dass dieses Konzert Ravels pianistische Möglichkeiten deutlich überstieg; er musste die rechte Hand zu Hilfe nehmen. Er war kein überragender Pianist, schrieb Wittgenstein, und ich war von der Komposition nicht überwältigt... Erst viel später, nachdem ich das Konzert monatelang studiert hatte, wurde ich davon fasziniert und merkte, um was für ein großes Werk es sich handelte. Musik 3: Maurice Ravel, Klavierkonzert für die linke Hand. Pierre-Laurent Aimard, Klavier. Cleveland Orchestra, Dir: Pierre Boulez. DG Tr. 1, 12'52 - Track-Ende (18'48 ). Dauer: 5'56 Pierre-Laurent Aimard und das Cleveland Orchestra unter Pierre Boulez waren das mit dem Schlussabschnitt von Maurice Ravels Klavierkonzert für die linke Hand. Ravel unterrichtete nicht besonders gern und deshalb auch nicht besonders viel. Ralph Vaughan Williams war aber zeitweilig Ravels Schüler genauso wie einige wenige von Ravels Freunden. Und George Gershwin, der nie einen seriösen Kompositionsunterricht erhalten hatte, wäre sehr gerne bei Ravel in die Lehre gegangen, daraus wurde aber nichts. Ravels Antwort auf Gershwins Wunsch: Sie sind ein erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden? Die beiden trafen sich 1928 in New York auf einer Party anlässlich von Ravels 53. Geburtstag. Ravel tourte zu dieser Zeit übrigens höchst erfolgreich durch Amerika. Um ein Haar wäre die Tournee nicht zustande gekommen unter anderem fürchtete Ravel, in Amerika die Caporal-Zigaretten nicht zu bekommen, die er ausschließlich rauchte. Schließlich fuhr er doch, unter Mitnahme von 20 Pyjamas und 50 Hemden. Die Verehrung Gershwins für Ravel gab es umgekehrt genauso. Als Ravel vor der erwähnten Party gefragt wurde, ob er besondere Wünsche habe, gab er zur Antwort, Gershwin solle dort doch bitte Klavier spielen. Und tatsächlich sind die beiden kompositorisch gar nicht so weit voneinander weg, wenn man etwa den ersten Satz 4

5 von Ravels G-Dur-Konzert mit Gershwins Rhapsody in blue vergleicht. Sicher, dieser Vergleich wird begünstigt durch den Umstand, dass es sich in beiden Fällen um die gleiche Besetzung handelt Klavier plus Orchester -, aber hören Sie selbst, wie ähnlich sich der Ton in beiden Werken ist, und das nicht nur wegen der so genannten blue Notes, also wegen der erniedrigten dritten und siebten Stufe der Tonleiter. Hier der erste Satz von Ravels G-Dur-Klavierkonzerts. Musik 4: Maurice Ravel, Klavierkonzert G-Dur. 1. Satz. Pascal Rogé (Klavier); Orchestre symphonique de Montréal, Dir: Charles Dutoit. Decca Tr. 1. Dauer: 8'15 Das waren Pascal Rogé und das Orchestre symphonique de Montréal unter Charles Dutoit mit dem ziemlich jazzigen ersten Satz von Maurice Ravels G-Dur Klavierkonzert. Und hier im Vergleich dazu der Schlussabschnitt von George Gershwins Rhapsody in blue. Musik 5: George Gershwin, Rhapsody in blue. Jean-Yves Thibaudet, Klavier; Baltimore Symphony Orchestra, Dir: Marin Alsop. Decca Tr. 1, 11'16-16'42. Dauer: 5'26 Jean-Yves Thibaudet und das Baltimore Symphony Orchestra unter Marin Alsop spielten den Schlussabschnitt von George Gershwins Rhapsody in blue. Vorhin hörten wir eine Kostprobe von Ravel als Dirigent als Dirigent seines Bolero. Dass Ravel seine eigenen Werke dirigierte, war nicht so selten. Dass er die Werke anderer Komponisten dirigierte, war dagegen die absolute Ausnahme, wenn es überhaupt mehr als einmal vorkam. Ein Fall ist immerhin sicher dokumentiert, er fand statt am 2. Februar 1926, während einer Tournee, die Ravel nach Belgien, Skandinavien, Deutschland, England und Schottland unternahm und bei der er in Kopenhagen eine Aufführung von Mozarts g-moll-sinfonie leitete. Dass es sich um Mozart handelte, war sicher kein Zufall, er nahm in Ravels Komponisten-Olymp eine 5

6 Sonderstellung ein schon am vergangenen Dienstag war davon die Rede, dass er von einem Bekannten gefragt wurde, ob er nicht mit ihm vierhändig spielen wolle. Ravel war grundsätzlich einverstanden allerdings unter der Bedingung, dass kein einziger romantischer Komponist und überhaupt am besten ausschließlich Mozart aufgeführt werde. Musik 6: W. A. Mozart, Sinfonie Nr. 40 g-moll KV Satz. Freiburger Barockorchester, Dir: René Jacobs. harmonia mundi HMC Tr. 5. Dauer: 7'09 Das Freiburger Barockorchester unter René Jacobs spielte den ersten Satz aus Mozarts g-moll-sinfonie Köchelverzeichnis 550. Im Oktober 1932 stieg Ravel in Paris in ein Taxi, das kurz darauf in einen Unfall verwickelt war. Ravel verletzte sich dabei am Kopf, verlor ein paar Zähne und hatte eine Gehirnerschütterung. Alles nichts beunruhigendes, glaubten die Ärzte, er konnte ja noch musizieren wie früher. Heute wissen wir, dass Ravel von diesem Unfall ab keine einzige Komposition mehr vollendete, es gab nur hier und da noch Skizzen und Pläne. Was wir nicht wissen, ist, was genau das für eine Krankheit war. Einer der behandelnden Ärzte beschrieb Ravels Symptome: Er fühlt sich nervös, überfordert. Erstes Anzeichen von Apraxie, was bedeutet: Verwechslung der Bewegungen, eine Geste statt einer anderen auszuführen. Mit einer Freundin war Ravel im Sommer 1933 an den Strand gegangen. Er wollte ihr zeigen, wie man einen Stein auf der Wasseroberfläche springen lassen kann. Doch der Arm folgte den Befehlen des Gehirns nicht, mit dem Stein traf Ravel nicht das Wasser, sondern die Freundin. Auch Schreiben geht jetzt nur mit größter Mühe, Ravel weiß die Form mancher Buchstaben einfach nicht mehr. Ein Arzt diagnostiziert Schlaflosigkeit, Gedächtnistrübung, Müdigkeit, Mangel an Konzentration, Angstzustände, orthographische Fehler. Weiß nicht mehr, wie man gewisse Buchstaben schreibt. Er ist starr. Die Angst spielt eine große Rolle in seinem Unbehagen. Dann wieder bessert sich Ravels Zustand unvermittelt, an seinen Bruder Edouard schrieb er, der vorher kaum noch etwas schreiben konnte, einen langen Brief. Manchmal sprach er, als sei er völlig gesund. 6

7 Die Ärzte waren ratlos und empfahlen, wohl eher aus Verlegenheit, Luftveränderung und Ablenkung natürlich ohne ernsthafte Verbesserung des Krankheitsbildes. Anfang 1936 besuchte Ravel Colette, die Librettistin seiner Oper L'Enfant et les sortilèges, sie hat diese Begegnung beschrieben: Als er mich sah, sagte er in natürlichem Tonfall: 'Tiens, Colette'. Aber er gab sich kaum noch die Mühe zu sprechen, und wie er so zwischen uns saß, hatte er doch das Aussehen eines Wesens, das jeden Moment in Gefahr ist sich aufzulösen... ich glaube, an diesem Tag hat Ravel meinen Namen zum letzten Mal ausgesprochen. So sind die drei Lieder mit dem Titel Don Quichotte à Dulcinée die letzten vollendeten Kompositionen Ravels. Eine Filmgesellschaft war an Ravel herangetreten, er möge doch bitte für einen geplanten Don Quichotte-Film die Musik schreiben. Das Projekt, bei dem Fjodor Schaljapin die Titelrolle spielen sollte, entpuppte sich schließlich als ein einziger Schwindel. Übrig blieben die drei Lieder, die der Film-Don Quichotte als Huldigung an Dulcinea singen sollte. Musik 7: Maurice Ravel, Don Quichotte à Dulcinée. Thomas Quasthoff, Bariton; Martin Galling, Klavier. Archiv-Nr. M Dauer: 6'38 Thomas Quasthoff sang Ravels drei Lieder Don Quichotte à Dulcinée. Am Klavier begleitete Martin Galling. Da Ravels Zustand immer bedrohlicher wurde, entschlossen sich die Ärzte, die sich keinen Rat mehr wussten, einen namhaften Hirnchirurgen hinzu zu ziehen. Dieser empfahl eine Operation; sie fand am 19. Dezember 1937 statt. Kurz nach der Operation erwachte Ravel und rief nach seinem Bruder, zu dem er immer schon eine intensive Beziehung gehabt hatte. Danach schlief er ein. Er lebte noch acht Tage lang, ohne noch einmal zu erwachen. Am 28. Dezember 1937 starb Maurice Ravel. Einige Monate zuvor hatte ihn eine Freundin besucht und ihn gefragt, was er so mache. Er saß still auf dem Balkon seines Hauses und antwortete: Ich warte. Das war das Ende der Musikstunde über Maurice Ravel. Stephan Hoffmann verabschiedet sich von Ihnen und sagt Dankeschön fürs Zuhören. Morgen gibt es im 7

8 Musikstunden-Rätsel mit Katharina Eickhoff wieder etliche musikalische Nüsse zu knacken. In den Musikstunden der kommenden Woche beschäftigt sich Jörg Lengersdorf mit diversen musikalischen Fortbewegungsmitteln - Vom Sonderzug zum Sangesflügel hat er seine Musikstunden genannt. 8