WENN SICH DAS GEHEIME VERBIRGT, DANN LIEGT VOR IHM ETWAS ANDERES Ein kompositorischer Prozess C h r i s t o p h H e r n d l e r Was bedeutet GEGENTEIL? Ist MANN das Gegenteil von FRAU? Ist + das Gegenteil von -? Ist plus das Gegenteil von minus? Ist OBEN das Gegenteil von UNTEN? Ist NORD das Gegenteil von SÜD? Beschreibt Gegenteil ein Verhältnis? Reden wir immer vom gleichen Verhältnis, wenn wir das Gegenteil von MANN, +, PLUS, OBEN, NORD, SCHWARZ, etc. bestimmen? Was passiert, wenn ich einen hohen Ton spiele und dann einen tiefen? Gibt es das Gegenteil eines hohen Tons oder gibt es dessen mehrere? Kann man von Gegenteil sprechen, auch wenn es nicht nur eines gibt? Was passiert, wenn ich < dieses Zeichen um 180 drehe: >? erhalte ich dann sein Gegenteil? Aber was passiert, wenn ich < dieses Zeichen um 90 drehe: ^? in welchem Verhältnis steht es dann zum ersten Zeichen? Wenn ich also eine Notation durch ein System von Zeichen bilde, so muß ich mich auch einer Sprache (einer sprachlichen Logik) bedienen, um den Zeichen eine Bedeutung (z.b.: eine musikalische Bedeutung) zu geben. Gibt es aber eine Analogie zwischen der Schlüssigkeit, die der sprachlichen Logik und jener, die einer geometrischen Logik zugrunde liegt? Gibt es eine Analogie zwischen dem Verhältnis eines akustischen lauter und leiser werden und dem Verhältnis der Zeichen, die es bedeuten: z.b.: < und >, oder den Worten, die es beschreiben: cresc. und decresc. (lauter werden, leiser werden)? Oder führt letzten Endes das Hören selbst die sprachliche- oder geometrische Logik, die einer Musik zugrunde liegen mag, ad absurdum?: Denn hören wir lange genug etwas Lautem zu, so mag es uns nach einer Weile nicht mehr laut erscheinen, wie wir umgekehrt etwas Leises nach längerem Hinhören immer lauter empfinden.
Wenn ich nun den Weg der Musik, von ihrer Niederschrift bis hin zur Rezeption als eine Gesamtheit betrachte, so ergibt sich für mich ein Konglomerat unterschiedlichster Systeme, die jeder Vereinheitlichung zu trotzen scheinen: das Schreiben bleibt ein Schreiben, das Spielen ein Spielen, das Hören ein Hören, das Denken ein Denken, das Empfinden ein Empfinden, etc.. Bei meiner Tätigkeit als Komponist begebe ich mich also kurzfristig in ein schlüssiges System von Gedanken, um von ihnen hin zur Notation zu gelangen; ist nun dieses logische System von Zeichen erreicht, versuche ich es mittels sprachlicher Analogien zu deuten, ich verlasse es demnach, genauso wie ich das System meiner anfänglichen Gedanken verlassen habe. Die sprachliche Deutung ermöglicht es dem Spieler die Zeichen in Form verschiedenster Aktionen am Instrument umzusetzen, was zu akustischen Ereignissen führt; und auch diese vom Hörer wahrgenommenen Klänge existieren nun in ihrer eigenen Welt, sind unabhängig von all den vorangegangenen Schritten, die sie erzeugten. Keine Absicht also, welche den kompositorischen Willen mit dem klanglichen Resultat verbinden würde. Das Verwenden von Systemen scheint mir wie die Verwendung einer Leiter, die, nachdem man höhergestiegen ist, umgeworfen wird, um nach der nächsten zu greifen etc.. Die Schwierigkeit läge demnach nicht im Höhersteigen oder Vorwärtskommen sondern in der Umkehr. Wenn ich etwas umkehre, ist es dann sein Gegenteil? Ist die Form des Kuchens das Werkzeug, das ihm die Form verleiht oder sein Aussehen, das ihn zum Kuchen macht? DAS GEGENTEIL ALS FORM DIE ES ERZEUGT
Form als Analyse Formanalyse Analyse als Form Die Form im Wort G E H E I M N I S 1 2 3 2 4 5 6 4 7 a b c b d e f d g I II III II IIII IIIII IIIIII IIII IIIIIII I II III II IV V VI IV VII Die Leserichtung als Form im Wort G E H E I M N I S 16 Varianten der Leserichtung GEHEIMNIS HEGMIESIN NISEIMGEH SINMIEHEG GENEIIHMS HMSEIIGEN NEGIIESMH SMHIIENEG GEENIHIMS SIMNIHEEG GEEHINMIS SMIHINEEG NIESIGMEH HMESIGIEN NEIGISEMH HEMGISEIN (von links nach rechts, abwärts) (von rechts nach links, abwärts) (von links nach rechts, aufwärts) (von rechts nach links, aufwärts) (abwärts, nach rechts) (abwärts, nach links) (aufwärts, nach rechts) (aufwärts, nach links) (von links oben diagonal, nach oben) (von rechts unten diagonal, nach oben) (von links oben diagonal, nach unten) (von rechts unten diagonal, nach unten) (von links unten diagonal, nach oben) (von rechts oben diagonal, nach oben) (von links unten diagonal, nach unten) (von rechts oben diagonal, nach unten)
Varianten der Zeichen/Schrift GROSS, KLEIN, LANG, KURZ angeordnet im Quadrat zur Schematisierung der 16 verschiedenen Leserichtungen Musikalische Deutung der Zeichen (für Stimme zum Beispiel) GROSS = laut KLEIN = leise = lauter oder leiser werden LANG = lang KURZ = kurz = lauter werden, leiser werden Allein durch Konvention gibt das Zeichenhafte des Buchstaben Auskunft über die Art und Weise seiner klanglichen Erzeugung (Zungenstellung, Gaumenstellung, Mundstellung, etc.), nicht aber das Zeichen selbst.
Rückführung des Buchstabens zu einem Zeichen mit Tabulaturcharakter (= das grafische Aussehen des Zeichens gibt Auskunft über die Aktion die es vorschreibt) Vor-Schrift = Be-Schreibung (für Streichinstrumente zum Beispiel) G = E = H = EI = MN = I = S = = mit dem Bogen kreisen (kleiner od. größer werdend) = 3 Abstriche auf 1er Saite = 1 Abstrich auf 2 Saiten = 3 Abstriche auf 2 Saiten = Abstrich-Arpeggio & Aufstrich-Arpeggio über 4 Saiten (einmal Richtung Steg, das andere mal Richtung Brett) = mit dem Bogen entlang 1er Saite = mit dem Bogen kreisen (größer werdend - Richtungswechsel - kleiner werdend)
Variante einer Rückführung ohne Verwendung der Kreisbewegung Vergleich mit den 20 Buchstaben des OGHAM-Alphabet (ca. 4. Jhdt. AD) r z c t d l b i ng h e g n u m s o q v a Herstellung einer Tabulatur durch minimale Veränderung des Buchstaben (für Bewegungsabläufe zum Beispiel) Ist das gewählte Instrument ein Kugelschreiber auf Papier so resultieren andere klangliche Ereignisse als wäre das Instrument ein Bogen auf einer Saite, oder ein Fuß am Boden.
Die Bewegung der Form im Wort G E H I M N S Varianten der Bewegung Was Peripherie war wird zum Zentrum und umgekehrt
Die schematisierten Wiederholungen der Einzelteile schaffen klangliche Schwerpunkte im Gegensatz zu Varianten der Leserichtung, bei denen der klangliche Schwerpunkt des Materials stets der gleiche bleibt. Die 9 verwendeten Buchstaben des Wortes GEHEIMNIS werden durch Form auf 7 reduziert indem die Vorschrift einer Wiederholung das wiederholt, was ansonsten verdoppelt wäre. Anders ausgedrückt: ( E plus E wird E mal 2, I plus I wird I mal 2 ).
Formeln um das Material zu ordnen (siehe Varianten der Leserichtung) Formeln um das Material zu wiederholen (siehe Varianten der Bewegung) Formeln um das Material zu variieren (siehe unten) Der Entwurf von Zeichen, die sich durch Vorschrift in andere verwandeln addieren drehen spiegeln umkehren Vom Buchstaben zum Zeichen G E H E I M N I S Vom Zeichen zum Buchstaben oder Varianten des Materials (durch Drehen und Spiegeln) G E H N B N J H I A Z M N H B P g e d g e s p ire g e l t e h t S W I U H F E N W Z V I R I M S
Minimales Material Maximale Form G E H E M N I I S Formalismus nicht als Selbstzweck Das Zeichen steht zum Zeichen in einem anderen Verhältnis als das Zeichen zum Zeichen als das Zeichen E zum Zeichen M Indem diese Verhältnisse beleuchtet werden, wird jener Inhalt freigelegt, der ansonsten verborgen bliebe: DIE GRENZE DES MÖGLICHEN ALS DER IN-HALT DES ZEICHENS Entwurf einer Komposition für Stimme, Tanz und Streichinstrument ( 2003 by edition EIS) (voice) (dance) (string)