Fall Allianz Hungária
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- Gudrun Küchler
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1 Fall Allianz Hungária (EuGH C32/11 Allianz Hungária): Die Allianz Hungária (AH), die ungarische Konzerntochter der Allianz SE (München) ist im ungarischen Kfz- Haftpflichtversicherungsgeschäft tätig. Wendet sich ein Geschädigter wegen eines Haftpflichtfalls an AH, verweist diese den Betreffenden an eine ihrer Kfz-Reparaturwerkstätten (KR), um den Schaden beheben zu lassen. Die KR sind in Ungarn in der Organisation Gémosz (G) organisiert. AH und G schließen jährlich eine Rahmenvereinbarung über die Höchstsätze betreffend den von den KR geforderten Stundenlohn. Einschlägige Vorschläge unterbreitet dabei G. In der Rahmenvereinbarung ist vorgesehen, dass die KR einen höheren Stundensatz abrechnen können, wenn sie eine bestimmte Mindestanzahl von Versicherungspolicen der AH vertrieben haben. Denn in Ungarn spielen KR bei dem Vertrieb von Policen eine besonders große Rolle. Eine ähnliche Vereinbarung schließt jährlich auch der Versicherer Generali mit G. Verstoßen die Vereinbarung zwischen AG, G und Generalie gegen Art. 101 AEUV? 92
2 Lösung Allianz Hungária (1) In Betracht kommt zunächst ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV. I. Beim Rahmenvertrag zwischen AH und G handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen Unternehmen. 2. Wettbewerbsbeschränkung a) Betroffener Markt -> Vereinbarung wirkt sich auf den Markt für Kfz- Reparaturen aus: Anbieter sind die KR, Nachfrager, die Geschädigten, wobei die Haftpflichtversicherungen, den Geschädigten die Reparaturkosten ersetzen. -> Räumlich: vor allem Ungarn. 93
3 Lösung Allianz Hungária (2) b) Konzertierung Preisbildungsfreiheit der KR durch Obergrenze und Koppelung mit Versicherungspolicenvertrieb beschränkt: betrifft produktinternenen Wettbewerb der KR um Abrechnung mit AH c) Wettbewerbsbeschränkung Preishöchstgrenzen ggü KR -> Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO -> Nach Art. 4 lit. a Vertikal-GVO nicht verboten. -> Auch Koppelungen nicht ausdrücklich verboten; hier gilt auch nicht Art. 101 lit. e AEUV, weil Koppelungen unterhalb der Marktbeherrschungsgrenze als unproblematisch gelten. II. Kartell durch Sternvertrag zwischen Generali und AH 1. Vereinbarungen zwischen Generali und AH? Konsens? 94
4 Lösung Allianz Hungária (3) Sternvertrag, da beide mit einem Dritten (G) kontrahieren und dabei gleiche Vertragsbedingungen gelten, nämlich die von G. Zur Vermeidung von Umgehungen muss auch darin eine Vereinbarung erkannt werden, sonst könnte Art. 101 Abs. 1 AEUV zu leicht umgangen werden. 2. Wettbewerbsbeschränkung a) Betroffener Markt Sachlich der Markt für Haftpflichtversicherungen, weil es um die aus ihrer Erfüllung erwachsenden Gesamtbelastungen geht, die die Kostensituation der Anbieter beeinflussen. b) Konzertierung: Hier schalten AH und Generali die Belastungen nach oben gleich. c) Wettbewerbsbeschränkung? Metro-Gedanke: Gefahr, dass die Werkstätten gegenüber den Auftraggebern zu hoch abrechnen, weil die Auftraggeber nicht selbst, sondern die Versicherungen die wirtschaftliche Last der Gegenleistung tragen. 95
5 Lösung Allianz Hungária (4) => Kartell ist nicht unerlässlich, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. => Wettbewerbsbeschränkung (+) d) Art. 101 Abs. 3 AEUV (1) Keine Freiststellung durch Art. 2 VertitkalGVO. Vgl. nämlich zweiter Unterabsatz, soweit solche Vereinbarungen vertikale Beschränkungen enthalten. Hier liegt keine vertikale Beschränkung vor. (2) Ansonsten: Kernbeschränkung (Preisabsprache), die nicht freigestellt werden kann. 4. a) Bezwecken wegen Kernbeschränkung. b) Zwischenstaatlichkeit problematisch, aber wegen Erfassung aller nationalen Kfz-Werkstätten wohl gegeben (vgl. niederländische Zementhändler). c) Spürbarkeit (+). 5. Ergebnis: Ein Kartellverstoß liegt vor. 96
6 Frage Schienenkartell H ist Betreiber der Harzer Schmalspurbahn, die vor allem Touristen auf Dampf- und Diesellokomotiven durch den Harz befördert. Er verlangt Schadensersatz von der Voestalpine Klöckner Bahntechnik GmbH (V). Dieses Unternehmen dominiert gemeinsam mit der ThyssenKrupp AG (T) den deutschen Schienenmarkt. Immer, wenn die Deutsche Bahn, eine deutsche Gemeinde oder ein Unternehmen wie H den Ausbau eines Schienennetzes auschrieben, trafen sich Vertreter von V und T. Diese tauschten jeweils die bei der Ausschreibung einzureichenden Angebotsunterlagen aus. Nach diesem Vorgang sendeten V und T ihre Angebote getrennt bei dem Auftraggeber ein. H rechnet vor, dass ihm durch diese Praxis folgende Schäden entstanden seien: in ; in V entgegnet Folgendes: Das Schienenkartell sei überhaupt erst dadurch aufgedeckt worden, dass V durch das österreichische Unternehmen Voestalpine erworben worden sei und dieses das Kartell sofort als Kronzeugin zur Anzeige beim Bundeskartellamt gebracht habe. Deshalb habe das BKA im Dezember 2012 überhaupt erst die Ermittlungen in Sachen Schienenkartell aufnehmen können Deshalb könne H kaum Schadensersatz von V verlangen. Auch habe H den Schaden an seine eigenen Kunden im Wege erhöhter Ticketpreise weitergegeben, so dass H ein Mitprofiteur des Kartells sei und keinen Schadensersatz verlangen könne. Kann H Schadensersatz von V verlangen? Gehen Sie bitte davon aus, dass ein Zwischenstaatlichkeitsbezug vorhanden ist. Zusatzfrage: Lohnt es sich für H die Ermittlungen des BKA abzuwarten? 97
7 Fall Schienenkartell (1) Anspruch H gegen V aus 33 Abs. 3 Satz 1 ivm. Art. 101 AEUV I. Kartellverstoß a) T und V = Unternehmen im funktionalen Sinne. b) Verbotene Verhaltensweise (1) Konsens? Vorstellbar, aber Gegenstand unklar (2) In jedem Fall: abgestimmte Verhaltensweise über ein Marktinformationsverfahren (MIV): a) Ausschreibung = sachlich, räumlich und zeitlich beschränkter Markt b) Informierung über gegenseitige Angebotsbedingungen = Fühlungnahme. c) Kausalität der Abstimmung für Verhaltensweise wird bei vermutet. c) Wettbewerbsbeschränkung aa) Betroffene Märkte: Ausschreibungen von Schienenausbau in Deutschland mglw. auch im Ausland. bb) Konzertierung: Lähmung der Preisbildungsfreiheit durch Ausschluss des Preiswettbewerbs. cc) Wettbewerbsbeschränkung: MIV wirkt identifizierend und findet in einer Oligopolsituation statt. Markterschließungsgedanke der Metro-Rechtsprechung: Information als Funktionsvoraussetzung für Markt über Eisenbahnschienen; denn T und V könnten allein anbieten => Submissionskartell 98
8 II. Verschulden von V (+) Fall Schienenkartell (2) III. Haftungsbegründende Kausalität (Schutzbereich der Norm) a) Fällt H in den persönlichen Schutzbereich des Art. 101 AEUV. Einwand: H hat die Kartellnachteile weitergegeben. Passing-on-Defence: Kein Ausschluss des H wegen 33 Abs. 3 Satz 2 GWB. Er bleibt weiter in den Schutzbereich einbezogen. Die Abwälzung des Schadens kann allein im Rahmen einer Vorteilsausgleichung berücksichtigt werden. b) V als Kronzeugin im Hinblick auf die Haftung privilegiert? Kronzeugenregelung beruht auf sog. Mitteilungen der über den Erlass und die Ermäßigung von Bußgeldern in Kartellsachen der Kommission (2006/C 298/11) Rn. 8: Nur Erlass oder Reduzierung des Bußgeldes; keinen Einfluss auf zivilrechtliche Ansprüche. => Keine Privilegierung des Kronzeugen beim Private Enforcement. c) Problem: Haftet V mit ihrem Vermögen für den Kartellverstoß der Tochter? Ja, wenn beide eine wirtschaftliche Einheit bilden. Wird bei 100% iger Beteiligung vermutet. 99
9 Fall Schienenkartell (3) d) Verjährung 33 Abs. 5 GWB 2001: verjährt nach 199 Abs. 3 Nr. 1 GWB. 2002: noch nicht verjährt wegen 33 Abs. 5 Satz 1 GWB. Zusatzfrage: Ja, es lohnt sich wegen 33 Abs. 4 GWB, da eine Follow-on-Klage möglich wird. 100
10 Fall 11: EuGH, Urt. v Rs. C-557/12 Kone In Österreich und Deutschland kooperierten die vier Anbieter von Personenfahrstühlen für Großgebäude A, B, C und D aufgrund einer mündlichen Vereinbarung wie folgt: Immer, wenn ein Großauftrag von einem Nachfrager ausgeschrieben wurde, bestimmten die vier untereinander, wer den Auftrag erhalten sollte. Die anderen Teilnehmer gaben dann deutlich ungünstigere Angebote ab oder verzichteten ganz auf eine Offerte. Das Immobilienunternehmen I will nun einen Kartellschaden aufgrund folgenden Sachverhaltes liquidieren: I bezog Fahrstühle vom Unternehmen X. X hatte sich an der Kooperation von A, B, C und D nicht beteiligt, wusste aber um diese und beobachtete deren Folgen ganz genau. Deshalb passte X seine Angebote immer in etwa dem besten aus dieser Unternehmensgruppe offerierten an. Die von X geforderten Preise lagen damit was X genau wusste deutlich über Marktniveau. I hat dadurch zu viel für Fahrstühle an X gezahlt. 1. Hat I einen Schadensersatzanspruch gegenüber X? 2. Hat I einen Schadensersatzanspruch gegenüber A D? 101
11 1. Teil: Ansprüche I - X Lösung Fall 11: Kone (1) I. Anspruch I X aus 33 Abs. 3 Satz 1 ivm. Art. 101 Abs. 1 AEUV 1. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV a) X als Unternehmen (+) b) Abgestimmte Verhaltensweise? Fühlungnahme? Nein: A, B, C und D sowie X auf der anderen Seite nehmen sich die Unsicherheiten einseitigen Verhaltens nicht ab und umgekehrt. Bloßes Parallelverhalten des X ist nicht verboten, sondern stellt erlaubte einseitige Verhaltensweise dar, die typisch ist für den Wettbewerb (Selbstständigkeitspostulat) 2. Ergebnis: Kein Verstoß des X gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV; weitere Kartellverstöße nicht in Sicht. II. Auch sonstige Ansprüche kommen nicht in Betracht. 102
12 Lösung Fall 11: Kone (2) 2. Teil Anspruch I A, B, C, D aus 33 Abs. 3 Satz 1 GWB ivm. Art. 101 AEUV 1. Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV a) Vereinbarung zwischen Unternehmen (+) b) Wettbewerbsbeschränkung aa) Markt für Fahrstühle in Deutschland/Österreich bb) Konzertierung: Verzicht auf die Freiheit der Kartellanten, im Einzelfall eigenständige und wettbewerbsfähige Angebote abzugeben. So wird sichergestellt, dass einzelne Kartellanten unabhängig von der ökonomischen Effizienz ihrer Angebote bedacht werden. cc) Wettbewerbsbeschränkung aaa) Marktaufteilung: Die Kartellanten (nicht die Nachfrageseite) bestimmen, wer einen Auftrag bekommt, weil die Kartellanten den Nachfragern durch bewusst überteuerte Angebote Alternativen nehmen. So können die Aufträge auf die einzelnen Kartellanten verteilt werden, ohne dass es darauf ankommt, ob diese wettbewerblich effizient anbieten. 103
13 Lösung Fall 11: Kone (3) bbb) Preiskartell: Die Marktaufteilung führt zu einem Marktpreis, der über Wettbewerbsniveau liegt. Denn der Anbieter muss die Preise nicht an der eigenen Kostensituation ausrichten, um die Nachfrager für sich zu gewinnen, sondern diese werden ihm durch das Kartell zugeteilt => Anreiz zur Erhöhung der Preise über die eigene Kostensituation hinaus. c) Der Metrogedanke greift hier nicht. d) Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV kommt wegen Kernbeschränkungen (Marktaufteilung, Preiskartell) nicht in Betracht. e) Bezwecken, Zwischenstaatlichkeitsbezug und Spürbarkeit (+) 2. Verschulden (+) 104
14 Lösung Fall 11: Kone (3) 3. Schutzzweck der Norm a) Persönlich I war kein Vertragspartner von A-D. Problem des EuGH: Wird hier ein Strafschaden geltend gemacht? Denn dem Schaden der I steht kein Vorteil bei A-D entgegen. EuGH (Rn. 33 ff.): Nein. Die Durchsetzung des Art. 101 AEUV bedingt eine wirksame Durchsetzung (Private enforcement). Dies ist nur der Fall, wenn alle, die durch das Kartell einen Eigenschaden erlitten haben, diesen auch durchsetzen können. Deshalb kommt es nicht auf das Bestehen von Vertragsbeziehungen zwischen dem Geschädigten und den Kartellanten an; Parallele zur ORWI-Entscheidung des BGH, wo auch mittelbar Geschädigte Ansprüche geltend machen können. b) Sachlicher Schutzzweck der Norm Wurde das Kartell für diesen Schaden überhaupt ursächlich (haftungsausfüllende Kausalität)? Hier trat ein eigenverantwortliches Handel des X dazwischen = Durchbrechung des objektiven Zurechnungszusammenhangs? Zunächst: Die Frage der Schadensverursachung und zurechnung richtet sich nach dem Recht der Mitgliedstaaten (EuGH Rn. 32). Dabei müssen jedoch die Schutzzwecke des Art. 101 AEUV und dessen praktische Wirksamkeit gewährleistet sein. 105
15 Lösung Fall 11: Kone (4) EuGH Rn. 29: Gelingt es dem Kartell, den Preis über Marktniveau künstlich hoch zu halten, muss es damit rechnen, dass Drittunternehmen diesen Preisschirmeffekt ausnutzen (umbrella pricing). Hier greift nämlich folgender wettbewerblicher Zusammenhang: (1) Marktaufteilung und Preisabsprache durch das Kartell sorgen für einen Preisanstieg. (2) Dieser wird von Konkurrenten, die nicht am Kartell teilnehmen, beobachtet. (3) Da sie mit den Gegebenheiten auf dem Markt vertraut sind, erkennen sie das Interesse des Kartells an einer Stabilisierung der Preise auf vglw. hohem Niveau. (4) Aus eigenem Profitstreben werden die Wettbewerber den so entstandenden Spielraum ausnutzen und die Preise ebenfalls erhöhen, da ihre eigenen Kunden keine Alternativen auf dem Markt mehr vorfinden. => Insoweit fordert das Kartell das Verhalten von Konkurrenten wie X geradezu heraus (Hinweis: Erinnert an die Herausforderungsfälle aus dem Deliktsrecht; allerdings kein Gedanke des EuGH). => Der Schaden fällt in den sachlichen Schutzbereich der Norm 4. Ergebnis: Der Anspruch ist begründet. 106
16 Fall ORWI (BGH WuW 2012, 57 - ORWI) P verlangt Schadensersatz von den Angehörigen eines Dekopapierkartells (A1, A2, A3) ihv A1-3 hatten untereinander Mindestpreise vereinbart. P kann beweisen, dass sich dadurch die Stückkosten für Dekopapier über Jahre um 10% verteuerten, so dass ihr ein Schaden ih. der genannten Summe entstanden ist. A1-3 wenden Folgendes ein: P hat nie selbst Dekopapier von A1, A2 oder A3 bezogen, sondern über die X-GmbH, die als Großhändler von A2 bezog. P sei deshalb nur mittelbar Geschädigte des Kartells und habe den durch die überhöhten Kartellpreise entstandenen Schaden zur Hälte an ihre eigenen Abnehmer Y1 bis Y10 weitergegeben, weil sie diesen gegenüber entsprechend erhöhte Preise verlangt habe. Im Übrigen müssten A1, A2 und A3 davor geschützt werden, von P, X und den Abnehmern der P (Y1 bis 10) nacheinander wegen desselben Schadens kumulativ in Anspruch genommen zu werden. Besteht der Anspruch? 107
17 Fall ORWI (1) I. Anspruch des P gegen A1, A2 und A 3 aus 33 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 ivm. Art. 101 Abs. 1 AEUV a) Art. 101 Abs. 1 AEUV ist verwirklicht, weil die Vereinbarung von Mindestpreisen ein Hardcore-Kartell nach Art. 101 Abs. 1 lit. a AEUV begründet. b) Diesen Verstoß haben A1, A2 und A3 auch nach 33 Abs. 3 Satz 1 GWB zu vertreten. c) Fraglich ist jedoch, ob der eingetretene Schaden des P in den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt. (1) Grundsatz: Art. 101 Abs. 1 AEUV schützt nicht nur das öffentliche Interesse an funktionierendem Wettbewerb, sondern auch die subjektiven Rechte der am Wettbewerb Beteiligten; Grund: Private Enforcment = Praktische Durchsetzung des Kartellrechts durch Geltendmachung von privaten Ansprüchen (BGH Tz. 14). (2) Problem: P hat nicht unmittelbar mit A1 bis A3 Geschäfte gemacht. Ist er auch ein Kartellgeschädigter? Fallen auch mittelbar Geschädigte in den persönlichen Schutzbereich der Norm (Tz. 19 ff.)? a) Prinzip des Zivilrechts: Aus unerlaubter Handlung haftet der Täter nur dem unmittelbar Geschädigte. Vgl. 823 Abs. 1 BGB: Wer... das Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Schadensersatz verpflichtet (Ausnahme: 844 BGB). 108
18 Fall ORWI (2) Problem: Gilt dieses Prinzip auch im Kartellrecht? BGH: Nein, weil der Kartellrechtsschutz das gesamte Marktgefüge und nicht nur die Vertragsbeziehung zwischen Kartellant und Vertragsgegenseite erfasst (Tz. 26). Der gesetzestreue Unternehmer muss stets einen Anspruch auf Schadensersatz haben (Tz. 25). ð Wichtiger noch: Der Zweck des Private Enforcement. Die Durchsetzung des Kartellrechts erfordert es, dass auch der mittelbar Geschädigte einen Schaden durchsetzen kann. Problem: Der Erstabnahmer kann den Schaden viel effizienter durchsetzen als die indirekten Abnehmer. Bei ihm kumuliert der Schaden und er hat die besten Kenntnisse vom Hergang, während bei den indirekten Abnehmern nur Streuschäden entstehen (Tz. 28). BGH: Probleme der Schadensberechnung und der Durchsetzung dürfen sich nicht gegen den Anspruch als solchen richten, da sonst das Prinzip der effizienten Durchsetzung des Kartellrechts durchkreuzt würde (Tz. 29 und 34 ff.). Deshalb müssen diese Probleme jeweils einzeln gelöst werden, und zwar so: ð Der indirekte Abnahmer (hier P) trägt die Beweislast dafür, ob und in welcher Höhe der direkte Abnehmer (hier X) einen Teil des kartellbedingten Schadens auf ihn abgewälzt hat (Tz. 44). Hier greifen grundsätzlich keine Beweiserleichterungen in dem Sinne, dass eine Preiserhöhung während der Zeit des Kartells auf dieses zurückgeht (Tz. 45 ff.). 109
19 Fall ORWI (3) ð Etwas anderes gilt jedoch dann wenn auf den Folgemärkten geringe Ausweichmöglichkeiten bestehen und die Abnehmer dort einen Kartellpreis mehr oder minder akzeptieren müssen. Dann spricht die Erfahrung dafür, dass eine kartellbedingte Preiserhöhung weitergegeben wird (Tz. 48). (5) Passing-On-Defence (die Schreibweise variiert: teilweise findet sich auch die britische Schreibweise Defense ; Groß- und Kleinschreibung sowie Bindestriche werden unterschiedlich verwendet; der BGH verwendet die Bezeichnung nicht): Kann ein Unternehmen, das die kartellbedingten Mehrpreise schlicht an die eigenen Kunden weitergereicht hat, gegen die Kartellanten vorgehen? Dazu jetzt 33 Abs. 3 Satz 2 GWB und BGH: Dieser Einwand führt nicht dazu, dass der Schadensersatzanspruch von vornherein ausgeschlossen ist. Er hat jedoch zur Folge, dass sich der Schadensersatzgläubiger im Wege der Vorteilsausgleichung eine Minderung seines Schadens anrechnen lassen muss, wenn er diesen teilweise auf die eigenen Abnehmer abwälzen kann (Tz. 57 ff.). Die Vorteilsausgleichung ist ein Institut des Schadensrechts. Im Rahmen der Differenzbetrachtung (= Vergleich des Vermögens des Opfers mit und ohne das schädigende Ereignis) muss sich der Geschädigte Vorteile anrechnen lassen, die adäquat kausal auf die Schädigung zurückgehen. Dazu zählt auch die Abwälzung des Schadens auf die nachgelagerte Marktstufe. 110
20 Fall ORWI (4) Folgeproblem: Durch die Einbeziehung mittelbarer Geschädigter und die Anwendung der Lehre von der Vorteilsausgleichung wird die Anzahl der Schadensersatzberechtigten vervielfacht und es kommt zu typischen Beweisschwierigkeiten darüber, welchen Schaden das einzelne Unternehmen durch das Kartell erlitten hat (Tz. 27). Beispiel: P hat die Ware von einem Unternehmen (N) bezogen, das direkt Ware von A1, A2 oder A3 bezog. Deshalb kann Streit darüber entstehen, wie sich der kartellbedingte Schaden zwischen P und N verteilt. Behauptet N er habe 40 % des kartellbedingten Mehrpreises durch eine eigene Preiserhöhung an P weitergegeben, P aber, N habe 50 % des kartellbedingten Mehrpreises weitergegeben, kommt es für A1 bis A3 zum Problem. N macht ihnen gegenüber 60 % des Schadens geltend, P aber 50 %, beide also insgesamt 110 %! 111
21 Fall 12 (5) Diesen Schutz gewährt der BGH über das Institut der Streitverkündung nach 72 Abs. 1 ZPO. Eine Partei, die für den Fall des ihr ungünstigen Ausganges des Rechtsstreits einen Anspruch auf Gewährleistung oder Schadloshaltung gegen einen Dritten erheben zu können glaubt oder den Anspruch eines Dritten besorgt, kann bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits dem Dritten gerichtlich den Streit verkünden. è Hier passt der Fall der Schadloshaltung, weil sich der Kartellant gegenüber dem Dritten auf die Grundsätze des Vorteilsausgleichs berufen kann. è Im Verfahren mit einem Kartellgeschädigten muss er deswegen auch zu Lasten des zweiten Kartellgeschädigten die Schadensquoten feststellen können. => Die Kartellanten können allen Geschädigten den Streit verkünden. Dann ist diesen nach 68 ZPO (Nebeninterention) verwehrt, die Richtigkeit des Urteils in einem Folgeprozess anzugreifen. [Die Partei, der der Streit verkündet wurde,]wird im Verhältnis zu der Hauptpartei mit der Behauptung nicht gehört, dass der Rechtsstreit, wie er dem Richter vorgelegen habe, unrichtig entschieden sei; [sie] wird mit der Behauptung, dass die Hauptpartei den Rechtsstreit mangelhaft geführt habe, nur insoweit gehört, als [sie] durch die Lage des Rechtsstreits zur Zeit seines Beitritts oder durch Erklärungen und Handlungen der Hauptpartei verhindert worden ist, Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen, oder als Angriffs- oder Verteidigungsmittel, die ihm unbekannt waren, von der Hauptpartei absichtlich oder durch grobes Verschulden nicht geltend gemacht sind. 112
22 Fall 12 (6) d) Ergebnis: P hat gegen A1 bis 3 einen Anspruch auf Schadensersatz ihd. Hälfte der geltendegemachten Summe ( ), weil im Übrigen eine Vorteilsausgleichung greift. Kritik: Gerade der Schutz über 72 ZPO überzeugt nicht, wenn die Ware weltweit vertrieben wird. Die Personen der indirekten Abnehmer sind den Kartellanten nicht bekannt und wohl nur zwangsweise und mit Mühen in Erfahrung zu bringen. Das Interesse an einer effizienten Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen steht dann außer Verhältnis zu den rechtlichen Folgeproblemen: Denn die indirekten Abnehmer tragen oft nur geringe Schäden. Sie veranlassen jedoch die Kartellanten durch Beweisangebote zu langen, in ihren Folgen nicht abzuschätzenden Rechtsstreiten über Grund und Umfang des Schadens. 113
23 Fall Pfleiderer (EuGH WuW 2011, 769 Pfleiderer) Vom BKA in Bonn verlangt P auf der Grundlage von 406e StPO Einblick in die Akten des Falles. Denn A1 hat als Kronzeuge gegen das Kartell ausgesagt. Deshalb hatte ihm das BKA aufgrund der Bonusregelung einen Großteil des Bußgeldes erlassen. P hofft aus dem Geständnis dieses Kartellanten wichtige Informationen zu Grund und Höhe des ihr entstandenen Schadens näher in Erfahrung bringen zu können. Das BKA verweigert diesen Teil der Akteneinsicht 406e Abs. 1 Satz 1 StPO lautet: Für den Verletzten kann ein Rechtsanwalt die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen, soweit er hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt. 114
24 Fall Pfleiderer (1) Das Akteneinsichtsrecht nach 406e Abs. 1 Satz 1 StPO setzt ein berechtigtes Interesse voraus. Das berechtigte Interesse besteht nur, wenn 1. P gegenüber A1 bis 3 überhaupt ein Schadensersatzanspruch zustehen kann (+) und 2. das Interesse des P an der Durchsetzung dieses Schadensersatzanspruchs das Interesse des BKA an der Geheimhaltung der Einlassungen des Kronzeugen überwiegt. EuGH geht in Pfleiderer-Entscheidung davon aus, dass die nationalen Behörden und Gerichte im Einzelfall das Interesse an einer effizienten Rechtsdurchsetzung gegenüber den Schadensersatzinteressen des Abnehmers abwägen müssen (Tz. 26 ff.). Dabei geht es um folgende Interessen: 1. Interesse an einer effizienten Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen, weil diese der Durchsetzung des Kartellverbots auch im öffentlichen Interesse dienen. 2. Interesse der Kartellbehörden daran, Kronzeugen zu gewinnen. 115
25 Fall Pfleiderer (3) Kronzeugen sind nach den theoretischen Annahmen der sog. Lehre vom Gefangenendilemma ein effizientes Mittel um Kartelle zu überführen, während sonstige Beweismittel (schriftliche Unterlagen, normale Zeugenaussagen) praktisch nie erhältlich sind. Es können aber keine Kronzeugen gewonnen werden, wenn diesen zwar das Bußgeld erlassen wird, ihre Einlassungen jedoch den Schadensersatzgläubigern im Wege der Akteneinsicht zur Begründung von Schadensersatzforderungen dienen. Mögliche Überlegungen zur Auslegung: - beinhalten die Aussagen des Kronzeugen keine Angaben dazu, wie die Kartellanten Markt- und Kartellpreis berechnet haben, kann die Einsicht problemlos gewährt werden, weil sie dem Kronzeugen nicht schadet und spätere Kronzeugen nicht abschreckt. - Ist der mögliche Schaden des Kartellopfers gering, weil das Kartell nur kurze Zeit bestand, das Opfer nur in geringem Umfang Waren von diesem bezog usw., muss die Durchsetzung der Schadensersatzansprüche hinter den Ermittlungsinteressen der Kartellbehörde zurückstehen. 116
26 Hinweis Die Kronzeugenregelungen beruhen auf Verwaltungsvorschriften der Kartellbehörden: 1. Mitteilung der Europäischen Kommission vom , ABl.EG 2002 Nr. C-45/03 (auch Leniency Rules genannt) 2. Die Bonusregelung des BKA vom Bekanntmachung Nr. 9/2006 (s. Internet). Hier eine offene Frage: Jede Entscheidung erscheint möglich. Argumente: (1) Auch Schadensersatzklagen der Betroffenen sind Mittel, um Kartellrechtsverstöße durchzusetzen. Hier verbinden sich daher subjektive und objektive Interessen. Die Schadensersatzklagen stehen nicht von vornherein hintan. (2) Ist der Schaden jedoch nicht besonders groß, ist das künftige Aufklärungsinteresse an Kartellen wohl vorrangig. (3) Die Kommission plant eine Regelung, die Schadensersatzgläubigern grundsätzlich die Einsicht in de Einlassungen von Kronzeugen verweigert. 117
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