Kirche als Organisation und Gemeinschaft in der Zivilgesellschaft
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- Gitta Althaus
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1 Kirche als Organisation und Gemeinschaft in der Zivilgesellschaft Präsentation anlässlich der Jahrestagung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD Braucht Religion Gemeinschaft? Empirische und theoretische Perspektiven 20. Juli 2012 in Loccum Prof. Dr. Gert Pickel Professur für Religions- und Kirchensoziologie Universität Leipzig; Theologische Fakultät Otto-Schill-Str. 2, D Leipzig Tel.: / Fax: pickel@rz.uni-leipzig.de
2 Kirchendämmerung und Kirchenkrise? Ich gehe davon aus, dass auch der hoch individualisierte, je eigene christliche Glaube der vielen nun einmal voneinander Verschiedenen langfristig nur tradierbar ist, wenn es neben diesem Christentum zugleich ein kirchlich organisiertes Christentum gibt (Graf 2011: 187) Einerseits ist das Christentum in verkirchlichter Form nach wie vor ein wichtiges Strukturelement moderner Gesellschaften,, andererseits ist vor allem in jüngster Zeit ein deutlicher Traditionsabbruch in der Weitergabe christlicher und kirchlicher Orientierungen zu beobachten (Kaufmann 2011: )
3 Die Gefahren und Anfechtungen 1) Individualisierung und Puralisierung 2) De-Institutionalisierung und Traditionsabbruch 3) Demokratisierung und Modernisierung Infrage stellen einheitlicher volkskirchlicher Gemeinschaft in heterogener Umgebung moderner Gesellschaften Notwendigkeit von formalen Institutionen der Vermittlung und Normvorgabe in modernen Gesellschaften Annahme: Organisatorisches Verständnis von Kirche
4 Was ist Kirche? eine Sozialform Kirche als Form einer Vergemeinschaftung von Mitgliedern, die über gemeinsame Werte, Handlungen und Identität(en) miteinander verbunden sind Gemeinschaftsverständnis Kirche als Organisation (oder Anstalt) mit teilweise hierarchischer Ordnung und festen Mitgliedern Organisationsverständnis oder nur religiöse Individuen?
5 Wandel wohin? Verschwinden der christlichen Kirche? Wandel der Struktur des Religiösen? 1 Individualisierung mit vereinzelten religiösen Individuen 2 Pluralisierung mit pluralen Vergemeinschaftungen 3 Säkularisierung mit Endpunkt einer säkularen Gesellschaft
6 Der Rahmen wandelt sich, warum nicht auch Kirche? Eine Hypothese Die Entwicklungen moderner Gesellschaften erzwingen mittelfristig einen Strukturwandel der Kirchen hin zu multiplen Sozialformen mit einem stärker netzwerkartigem Charakter bei gleichzeitigem Anstieg religiös ungebundener (teils religiös indifferenter) Menschen.
7 Konfessionslosigkeit in Deutschland , , Westdeutschland Ostdeutschland Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) 1980, 1986, 1991, 1994, 2000, 2004, 2008, 2010.
8 Konfessionslosigkeit im europäischen Vergleich 17 Westdeutschland Lettland Frankreich Belgien Großbritannien Niederlande Estland Tschechische Republik Ostdeutschland Quelle: Eigene Berechnungen verschiedene Quellen; Zeitraum
9 Kirchenaustritte in Deutschland Evangelische Kirche Katholische Kirche
10 Kirchlichkeitstypologie , , Kirchgänger Randmitglieder Unkirchliche Bereinigte Kirchgänger West 1992 West 1998 West 2008 Ost 1992 Ost 1998 Ost 2008 Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 1992, 1998, 2008
11 Vertrauen in die Kirche(n) Rumänien Portugal Polen USA Dänemark Lettland Schweiz Frankreich Belgien Spanien Niederlande Westdeutschland Ostdeutschland Quelle: Eigene Berechnungen EVS 2008/WVS
12 Aussagen zur Kirche bei Jährigen Ich finde es gut, dass es die Kirche gibt Von mir aus bräuchte es die Kirche nicht zu geben Die Kirche muss sich ändern, wenn sie eine Zukunft haben will Die Kirche hat keine Antwort auf die Fragen, die mich wirklich bewegen Westdeutschland Ostdeutschland Quelle: Eigene Berechnungen; Shell-Jugendstudie 2006
13 Kritik an der evangelischen Kirche > 40 Ges. ist zu starr und bürokratisch 3,8 4,5 4,2 3,8 3,9 ist im Verhältnis zum Staat zu angepasst 3,7 4,4 4,0 3,7 3,8 predigt nur Moral und Gesetz 3,8 4,4 3,8 3,4 3,7 geht am Leben des Einzelnen vorbei 4,0 4,2 3,8 3,3 3,6 zu wenig Raum für Fragen und Zweifel 3,8 4,1 3,7 3,4 3,6 ist lust- und sexualfeindlich 3,5 4,2 3,8 3,2 3,6 ist in ihrem Bekenntnis zu wenig eindeutig 3,4 3,9 3,5 3,3 3,4 nimmt politische Verantwortung nicht wahr 3,6 3,8 3,5 3,0 3,3 nimmt soziale Verantwortung nicht wahr 3,5 3,7 3,5 3,0 3,2 ist einfach nicht mehr zeitgemäß 3,5 4,0 3,4 2,9 3,2 ist frauenfeindlich 3,3 3,6 3,4 2,8 3,0 ist eigentlich unnötig 3,4 3,3 2,9 2,5 2,7 Quelle: EKD 3 (1992: 119); 7 = trifft genau zu, 1 = trifft überhaupt nicht zu; nur evangelische Kirchenmitglieder.
14 Religiöse Schweigespirale Begründungen der Jugendlichen Ich glaube schon, viele sagen es nicht, dass sie daran interessiert sind, weil sie sich vielleicht vor ihren coolen Freunden, die es absolut nicht interessiert, schämen. Sie haben vielleicht Angst, dass sie von ihnen nicht mehr so akzeptiert werden, wie sie sind, wenn sie zugeben, dass sie an Religion und Glaubensfragen interessiert sind. (Maithe, 16 Jahre) Viele Jugendliche, denke ich mal, glauben an Gott, wollen dies aber nicht in aller Öffentlichkeit zugeben, weil sie Angst haben, von den anderen ausgelacht zu werden. Deshalb trauen sie sich nicht, sich zu ihrer Religion zu bekennen. Die Angst, ausgelacht zu werden, liegt größtenteils daran, dass die Kirche ein schlechtes Image hat als Langweileranstalt (Sven, 16 Jahre).
15 Glaubens(nicht)weitergabe (nach Alter 2006) West -Sozialisation Ost-Sozialisation West-Weitergabe wichtig Ost-Weitergabe wichtig Quelle: C&R 2006; zustimmende Werte; Sozialisation = Wurde im Glauben erzogen; Weitergabe wichtig = Eine religiöse Erziehung ist mir wichtig.
16 Prof. Dr. Gert Pickel 16
17 Theoretische Überlegungen Religionssoziologie Vertreter Grundannahme Bezugstheorie Haupthypothese Säkularisierungsthese Individualisierungsthese Marktmodell Brian Wilson, Steve Bruce Detlef Pollack Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Religion klassische Modernisierungstheorie Genereller Bedeutungsverlust von Religion als sinnstiftender und sozialer Instanz Thomas Luckmann Grace Davie Individuelle religiöse Grundorientierung als anthropologische Konstante Individualisierungstheorie Bedeutungsverlust von institutionalisierter Religion; Weiterbestehen privater Formen von Religion Rodney Stark, Roger Finke Laurence Iannaccone Allgemeines, konstantes Bedürfnis nach Religion in Gesellschaft Angebotsorientierte (RC-)Markttheorie Angebot auf dem religiösen Markt bestimmt Ausmaß an Religiosität und Kirchlichkeit Prognose Weiterer kontinuierlicher Abwärtstrend aller Formen von Religion und Kirchlichkeit Weiterbestehen privater religiöser Praktiken bei weiterem Rückgang der Zuwendung zu Kirchen Entwicklung der Religiosität in Abhängigkeit von religiösem Angebot und Pluralisierungsgrad
18 Formen des Glaubens Diffusion und Abbruch West 1991 West 2008 Ost 1991 Ost 2008 Fester Gottesglaube Glaube manchmal Weiss nicht was ich glauben soll Glaube an höhere Macht Glaube trotz Zweifel Glaube nicht Quelle: Eigene Berechnungen Allbus 1991 und 2008; zustimmende Werte
19 Außerchristliche Religiosität kaum ein adäquater Ersatz Westdeutschland Ostdeutschland Magie Astro Amu UR Magie Astro Amu UR Gesamt Quelle: Eigene Berechnungen C&R2006; zustimmende Werte; UR = Ziehe meine religiöse Überzeugung aus unterschiedlichen Lehren; Magie = Glaube an Magie, Astro = Glaube an Astrologie; Amu = Glaube an Amulette.
20 Religion spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben (nach Alter 2006) Quelle: Eigene Berechnungen C&R 2006; zustimmende Werte
21 Szenario: Religiöse Individualisierung Subjektive Religiosität ist nicht so stark rückläufig wie Kirchlichkeit und Kirchenbindung Religiöse Individualisierung Aber: zeitlich versetzter Abbruch subjektiver Religiosität oft partielle und temporäre Individualisierung keine Substitution christlicher Religiosität sozialer Bedeutungsverlust (Alltagsleben) (begrenzte) Individualisierung + Traditionsabbruch
22 22
23 Religiosität als Wunsch nach Gemeinschaft? Frage: Vielleicht braucht man doch Gemeinschaft, um die eigene Religiosität zu pflegen? Gewinn von Sicherheit durch Gemeinschaft und Identität Wechselseitige Versicherung des eigenen Denkens Korporative Einübung und Weitergabe religiösen Handelns Gemeinschaftsbegriff???? Gemeinschaft in modernen Gesellschaften = nicht Volkskirche als Universalgemeinschaft und identität Zunahme Heterogenität, Pluralisierung, Individualisierung Vielfältige (kleinere) Gemeinschaftsformen
24 Zivilgesellschaft Religiöses Sozialkapital? Freiwillige soziale Netzwerke, die auf ( faith-based ) religiösen Überzeugungen gründen oder in Beziehung zu einer Kirche stehen und entstehen (Bibelkreise, Jugendgruppen, Sozialhilfegruppen) = strukturelles Sozialkapital Kern der Zivilgesellschaft + Gemeinschaftsbildend (Tocqueville) Aufbau von Vertrauen (kulturelles Sozialkapital) + Stärkung der Identität + Übertrag auf Gesamtgemeinschaftszusammenhalt Problem: (Empirische) Abgrenzung zu säkularen Netzwerken und Einordnung von Mischformen religiös/säkular
25 Strukturelles religiöses SK im Ländervergleich USA Finnland Schweden Schweiz Italien Polen Ukraine Rumänien Bulgarien Ostdeutschland Westdeutschland 17,8 12,7 19,6 9,1 22,3 12,5 22,7 5,3 16,9 5,3 9,7 1,8 4,3 9,6 24,9 16,9 37,6 46,6 49,6 54,5 65,8 78, aktive Mitarbeit religiöses Netzwerk/Verein Mitgliedschaft religiöses Netzwerk/Verein Quelle: WVS 2008, eigene Berechnungen. Häufigkeiten in %
26 Die Existenz religiöser Netzwerke 1) Sichtbare Bedeutung des (strukturellen) religiösen SK in Europa (wenn auch nicht so bedeutend wie in den USA) 2) auch in Relation zu regelmäßigen Kirchgängern 3) Regionale Unterschiede, hauptsächlich aufgrund konfessioneller Differenzen und Modernisierungsstand 4) Geringere Existenz religiösen wie auch säkularen Sozialkapitals in Osteuropa gegenüber Westeuropa 5) Kumulation sozialer Beteiligung durch gleichzeitige Beteiligung in religiösen und säkularen Netzwerken
27 Ersatzsozialform? RelSozkap im Zeitverlauf AT BE DK FI FR GR IS IE IT LU MT NL PT Esp GB DEW BG CZ EE HU LV LT PL RO SK SI DEO Entwicklung religiöse Netzwerke Entwicklung Mitgliedschaft in rel. Netzwerken Entwicklung Mitarbeit in rel. Netzwerken HR RU Gesamt Quelle: EVS 1999/2000, eigene Berechnungen. Angaben sind Differenzen von % in 1990 bis 1999/2000
28 Religiöses SK als moderne Form religiöser Organisation? 1) Religiöses Sozialkapital bislang in Europa im Umfeld der Modernisierung nicht abnehmend, Modernisierung schafft Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement 2) Säkularisierung schwächt Bedeutung von Religion, nicht aber religiöse Netzwerke, da ihre positive Deutung auf sozialen Tätigkeiten der religiösen Organisationen beruht 3) Modernisierung wirkt eher toleranzfördernd, geht also einher mit brückenbildenden Sozialkapitalformen Passt religiöses Sozialkapital vielleicht besser in die Moderne als (die hierarchisch wahrgenommenen) bestehenden Mitglieder- und Organisationsstrukturen?? = Religiöser Gehalt und Säkularisierung der Netzwerke
29 ... doch different Niederlande Finnland Slowenien Dänemark Ungarn Estland Schweiz Ostdeutschland Westdeutschland Polen Quelle: EVS 1999/ EVS 2008, eigene Berechnungen. Häufigkeiten in %
30 Säkularer Ersatz? Niederlande Finnland Slowenien Dänemark Ungarn Estland Ostdeutschland Westdeutschland Polen Quelle: EVS 1999/ EVS 2008, eigene Berechnungen. Social Welfare/Human Rights Häufigkeiten in %
31 Religiöse Sozialformen im Wandel? Es kann einen Wandel weg von einer Mitgliedschaft in einer Großorganisation Kirche hin zu religiösen Netzwerken und damit einer neuen Sozialform gerade in modernen Gesellschaften geben (siehe Skandinavien und andere Länder) aber Realisierung eines solchen Wandels ist scheinbar abhängig von den jeweils vorherrschenden Rahmenbedingungen (institutionell und strukturell).! Möglichkeit der Verschiebung der Beteiligung auf säkulare Netzwerke! In Deutschland derzeit übergreifende Säkularisierung auch auf der Beteiligungsebene
32 Religiöse Freiwilligennetzwerke als Ressource für die Kirche 1) Offenheit: Religiöse Freiwilligennetzwerke stellen eine der wenigen nach Außen in die Gesellschaft offen zugänglichen Möglichkeiten des Beitritts/der Zuwendung dar 2) Entlastung: Die überforderten Organisationsstrukturen (Pfarrerorientierung) der Kirchen werden entlastet 3) Perspektivwechsel: Abkehr von Sicht auf religiöse Gemeinschaft als reine Folge individuellen Glaubens 4) Strukturwandel: Nachvollzug eines Strukturwandels von institutionalisierter Bürokratie zu zivilgesellschaftlicher Vernetzung (Umweltanpassung!) Handlungskonsequenz = Stärkere Ausprägung religiösen SK bei organisatorischer Unterstützung und Ressourcenbereitstellung
33 Der Idealverein und Religiöses Sozialkapital Idealverein/-netzwerk = arbeitsteilig organisiert, in größere Organisation integriert, professionell geleitet, finanziell unterstützt, räumlich beheimatet dabei aber gleichzeitig offen nach Außen und geschützt vor deterministischen Eingriffen Gegenteil: Hohe Restriktion der Netzwerke durch Vorgaben und Kontrolle hierarchischer Organisationen bei gleichzeitig relativ geringer finanzieller und organisatorischer Unterstützung Gefahren: Innere Säkularisierung, Abwanderung in säk. NW Überdeterminismus versus crowding out
34 Wünsche der faith based Sozialgruppen Unsere Gruppe beschäftigt sich hauptsächlich mit sozialen Zielen, das Christliche spielt dabei nur eine Nebenrolle Das Treffen in verschiedenen freiwilligen Gruppen und sozialen Kreisen im Umfeld der Kirche ist für mich persönlich wichtiger als der Gottesdienst Ich würde mich in jeder anderen sozialen Gruppe oder verein engagieren, wenn er dasselbe Ziel hätte Ich fände es gut, wenn die sozialen Gruppen im Umfeld der Kirche ausgebaut würden Die evangelische Kirche könnte sich mehr am Aufbau von sozialen Gruppen und Netzwerken beteiligen Quelle: Kirchentagstudie 2011, eigene Berechnungen. Häufigkeiten in %; n = 2067
35 Gründe für faith based Sozialgruppenteilhabe Ein Ziel muss erkennbar sein Man lernt nette Leute kennen Es muss Spass machen Man muss mitbestimmen können Man muss aus dem Engagement aussteigen können Es sollte etwas anderes sein, als was man sonst macht Es sollte einen konkreten Nutzen für mich haben Ich fühle mich durch meinen Glauben dazu verpflichtet Quelle: Kirchentagstudie 2011, eigene Berechnungen. Häufigkeiten in %; n = 2067
36 Fazit vieles ist offen in der Zivilgesellschaft 1) Die Form der Kirche als Mitgliederorganisation verliert in sich modernisierenden Gesellschaften weiter an Bedeutung 2) Individualisierte Religiosität verliert an Bedeutung aufgrund fehlender sozialer Verankerung und Tradierung 3) Hohe Wertigkeit sozial-funktionaler Leistungen für die Gesellschaft bringt hohe Wertigkeit Freiwilligennetzwerke 4) Gilt auch für NW mit religiösem Hintergrund ( faith-based ) aber religiöse Bindung ist nicht zwingende Bedingung (immanente Säkularisierung versus Anknüpfungspotentiale) 5) Entwicklung religiösen Sozialkapitals kann Säkularisierung entgegenlaufen, ist aber abhängig von Rahmenstrukturen Religiöses Sozialkapital stellt Ressource für die Kirche dar, benötigt aber einen Strukturwandel.
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