Am Anfang steht die Bindung

Transkript

1 Am Anfang steht die Bindung Teil 1 Ins*tut Trauma und Pädagogik

2 Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Zeit und Raum miteinander verbindet. John Bowlby

3 Bindungsmodelle nach John Bowlby und Mary Ainsworth > Sichere Bindung > Vermeidendes Bindungsverhalten > Ambivalentes/Ängstliches Bindungsverhalten > Desorganisiertes Bindungsverhalten

4 Bindungstheorie nach Bowlby, Ainsworth, Main, Brisch 1. Bindungsbedürfnis vs. Explorationsbedürfnis 2. Bindungsverhalten wird nur bei Belastung und Stress erkennbar (z.b. bei Angst und Trennung) Bindungsbedürfnis Trost, Nähe, Beruhigung 3. Durch körperliche Nähe wird das Bindungsbedürfnis beruhigt 4. Wenn das Bindungsbedürfnis beruhigt ist, kann der Säugling die Umwelt erkunden 5. Hierarchie der Bindungspersonen

5 Bindungs-Explorations-Balance nach Gottfried Spangler

6 Motivationssysteme Bindungsbedürfnis wird aktiviert bei Stress und Schmerz Explorationsbedürfnis ist aktiv bei emotionaler Sicherheit

7 Kreis der Sicherheit nach Cooper, Hoffmann, Marvin und Povell 2000

8 Bindung und psychische Entwicklung Sichere Bindung >>>> SCHUTZ Un-sichere Bindung >>>> RISIKO

9 Voraussetzungen für eine sichere Bindungsentwicklung des Kindes > Feinfühligkeit der Pflegeperson > Emotionale Verfügbarkeit > Klärung von Missverständnissen > Erkennen von Projektionen > Klärung von Idealvorstellungen

10 Feinfühligkeit > Die Pflegeperson mit der größten Feinfühligkeit in der Interaktion wird die Hauptbindungsperson für den Säugling. > Große Feinfühligkeit fördert eine sichere Bindungsentwicklung! > Die Bindungsperson muss nicht die leibliche Mutter sein.

11 Sprachliche Interaktion Förderung einer sicheren Bindung > durch die Verbalisierung der inneren Welt > der affektiven Zustände > der Handlungszusammenhänge des Säuglings

12 Berührung Feinfühlige Berührung und Körperkontakt zwischen Pflegeperson und Säugling fördert die sichere Bindungsentwicklung

13 Rhythmus der Interaktion in Handlung und Sprache Förderung einer sicheren Bindung durch > reziproken (gegenseitigen) Wechsel in der Mutter-Säuglings-Interaktion > Korrektur von Missverständnissen unsichere Bindung > über-synchrone Interaktion und Kommunikation > absolut asynchrone Interaktion

14 Blickkontakt Blickkontakt mit gelungener Affektabstimmung (Intersubjektivität / Psychoanalyse / wechselseitiger Austausch innerer Erlebenswelten) zwischen Säugling und Pflegeperson fördert die sichere Bindungsentwicklung.

15 Feinfühligkeit Signale des Säuglings > richtig wahrnehmen > richtig interpretieren > angemessen und prompt reagieren

16 Sichere Bindung entsteht, wenn... > Genug Sicherheit im Umfeld, wo Urvertrauen entstehen kann > Haltgebende Umgebung > Bindungspersonen präsent und berechenbar > Sensible, empathische und beständige Kommunikation > Bindungspersonen zeigen Interesse für Befindlichkeit des Kindes > Leichter Fluss zwischen allein und in Verbindung sein > Vertrauen, dass die andere Person bleibt > Adäquate und feinfühlige Reaktionen auf Bindungssignale des Kindes

17 Sicheres Bindungsverhalten bei Kindern > Offener Austausch über Gefühle > Kinder suchen in Belastungssituationen die Nähe der Bindungsperson > Positive Emotionsregulation Trost ist möglich > Kinder holen sich Hilfe > Emotionale Basis gesichert > Vertrauen und Schutz > Exploration und Neugierde > Gesunde Autonomie

18 Sicheres Bindungsverhalten bei Erwachsenen > Realistischer Optimismus auf die Sicht der Welt > Können auf Gegenüber eingehen und klar kommunizieren > Größeres Potential sich von Stress zu erholen (v. a. in Beziehungen) > Können Wiedergutmachungsbemühungen einleiten > Können Wiedergutmachungsbemühungen entgegen nehmen > Möglicher Zugang zu bedingungslosem Vertrauen > Gesunder Radar für Gefahr funktioniert

19 Kleine Arbeitsaufgabe für einen Spaziergang mit sich selbst Welche eigenen Sicheren Bindungserfahrungen habe ich? Erinnert Euch an ein schönes Erlebnis mit einem für Euch wichtigen Menschen. Erinnert Euch an Gedanken, Gefühle, Gerüche usw. Holt Euch diese schöne Erinnerung in Euer Bewusstsein!

20 Am Anfang steht die Bindung Teil 2

21 Vermeidendes Bindungsverhalten Elterliche Einstellungen > Distanziert oder emotional abwesend ( Licht an, keiner zu Hause ) > Möglicherweise vernachlässigend / ablehnend / feindselig > Unsensibel für die kindlichen Bedürfnisse > Sprache und Gesichtsausdruck sind nicht kongruent > Bindungspersonen gehen wenig auf Affekte des Kindes ein > Ignorieren der Bindungssignale der Kinder > Nicht-feinfühliger Umgang mit den Bedürfnissen des Kindes

22 Vermeidendes Bindungsverhalten Innenwelt des Kindes > Eltern hatten keinen Nutzen bei der Erfüllung emotionaler Bedürfnisse oder gingen nie auf Befindlichkeit des Kindes ein > Weil Zuwendung sinnlos, meidet Kind Kontakt und bleibt isoliert > Schneidet sich von Beziehungen ab = Adaptionsprozess, keine freie Entscheidung > Kind erlebt sich emotional isoliert von den Eltern > Ich-Gefühl bleibt im Kern getrennt von den Eltern > Kann dissoziative Symptome aufweisen

23 Vermeidendes Bindungsverhalten Anpassungsstrategie des Kindes > Minimiert Suche nach Nähe > Senkt Erwartungen > Nimmt eigenes Abgeschnittensein u. U. gar nicht wahr > Kühles, logisches und analytisches Denken > Fehlende sinnliche oder intuitive Komponente > Beschreibt sich als ewig fremd und ausgestoßen > Bezeichnet Körperteile oder das eigene Ich evtl. so, als würden sie nicht zu ihm gehören

24 Vermeidendes Bindungsverhalten Mögliche Konsequenzen im Erwachsenenalter > Emotionale Wüste > Evtl. keine klare Erinnerung an Kindheit durch Mangel an Bindung und emotionalem Eingehen > Wichtigkeit von Beziehung wird begrenzt oder herunter gespielt > Lebt in der eigenen Welt > Glaubt an extreme Autonomie oder Unabhängigkeit durch Ausschluss von Beziehungen

25 Vermeidendes Bindungsverhalten Mögliche Konsequenzen im Erwachsenenalter > Partner fühlen sich evtl. herabgesetzt oder unwichtig > Kann dissoziieren > Extreme Verletzlichkeit, wenn Bedürfnisse aufsteigen > Fühlt sich evtl. so isoliert, dass Kontakt aufzunehmen unmöglich ist > Vertrauen wird leicht gebrochen > Erwartung, von anderen enttäuscht zu werden

26 Vermeidendes Bindungsverhalten - Heilende Botschaften Beispiele: > Es freut mich, dass Du am Leben bist > Es ist mir wichtig, zu wissen, was Du brauchst > Schön, das es Dich gibt > Dir kann hier nichts passieren, wenn Du Dich verletzlich zeigst und auf andere zugehst > Du lebst und Du bist willkommen

27 Ambivalentes / Ängstliches Bindungsverhalten Elterliche Einstellungen > Kein zuverlässiges Dasein für das Kind > Keine berechenbare Zuwendung, Sensibilität > Eltern brechen mit eigener Befindlichkeit in das Kind ein > Ungelöste Vergangenheit der Eltern hält deren Gegenwart besetzt > Kommunikation wird auf unberechenbare Weise gestört, statt kontinuierlich gefördert

28 Ambivalentes / Ängstliches Bindungsverhalten Innenwelt des Kindes > Ungewissheit ob eigene emotionale Bedürfnisse und Befindlichkeiten gesehen oder erfüllt werden > Unsicherheit und Unberechenbarkeit verstärken Fokus auf Bindungssituation (Pigeon-Story) > Bedürfnis, sich auf äußeres Miteinander zu stützen und Trost zu finden > Säugling oder Kleinkind ist übermäßig auf Gegenüber konzentriert

29 Ambivalentes / Ängstliches Bindungsverhalten Innenwelt des Kindes > Bedürfnis nach Kontakt und Alleine sein wird gestört > Gegenüber wird so dominant, dass nicht mehr richtig/realistisch wahrgenommen (z.b. Idealisierung) > Wahrnehmung und Erwartungshaltung gegenüber der Welt, anderen und sich selbst ist ambivalent > Überkopplung von Hunger nach Nähe und verzehrender Angst diese zu verlieren

30 Ambivalentes / Ängstliches Bindungsverhalten Mögliche Konsequenzen im Erwachsenenalter > Nachspielen unzuverlässiger emotionaler Zugänglichkeit und Zudringlichkeit können alte Erfahrungen bestätigen > Übermäßiges Beschäftigen mit früheren verletzenden Bindungserfahrungen > Setzen das Muster bei ihren Kindern fort > Neue Beziehungen können als unbeständig und unzuverlässig erfahren werden, Erwarten des Schlimmsten > Primäres Gefühl von zu wollen, aber nicht zu haben

31 Ambivalentes / Ängstliches Bindungsverhalten Mögliche Konsequenzen im Erwachsenenalter > Chronische Ängste, Frustration und Verzweiflung in Bezug auf Beziehungen > Akzeptieren, was sie bekommen, statt deutlich zu artikulieren, was sie brauchen > Gefühl, es dem Anderen immer recht zu machen, damit er bleibt > Schwierigkeiten mit Vertrauen zu sich selbst, der Partnerin und der Beziehung

32 Ambivalentes / Ängstliches Bindungsverhalten Heilende Botschaften Beispiele: > Ich werde für Dich da sein > Ich respektiere Deine Grenzen > Du kannst mich anrufen oder zu mir kommen, wenn Du mich brauchst > Du hast das Recht, eigene Bedürfnisse zu haben > Ich möchte über das was Du brauchst mit Dir in Kontakt sein

33 Desorganisiertes Bindungsmodell Elterliche Einstellungen > Double-Bind-Botschaften, wie z. B. Komm her, geh weg > Eltern erschaffen Interaktionen, die beängstigen und verwirren > Widersprüchliche Signale, Mangel an Klarheit > Plötzliche Veränderungen extremer Zustände bzw. Stimmungen, ohne Bezug zu kindlichen Signalen

34 Desorganisiertes Bindungsmodell Innenwelt des Kindes > Kind erlebt große Angst vor der Bezugsperson UND Verlust des sicheren Hafens = Doppeltes Dilemma > Kind hat Probleme seine Affekte zu regulieren, soziale Schwierigkeiten, Aufmerksamkeitsdefizite > Bindung wird gelöst durch physischen, emotionalen oder sexuellen Missbrauch

35 Desorganisiertes Bindungsmodell Innenwelt des Kindes > Eltern sind Ursprung der Angst > Evtl. Reaktionen, ohne dass deren Herkunft bewusst wahrgenommen wird > Ständiger Konflikt zwischen angeborenem Bindungstrieb und instinktivem Überlebenstrieb

36 Desorganisiertes Bindungsmodell Mögliche Konsequenzen im Erwachsenenalter > Evtl. Panik und Wut, sobald in einer Beziehung Nähe entsteht > Extreme Stimmungsschwankungen > Wenn unklare Absprachen leicht in Richtung Angst, Frustration oder Verzweiflung zu triggern > Dilemma: Tiefer Wunsch nach Beziehung einerseits UND Angst davor, dass Beziehungen gefährlich sind

37 Desorganisiertes Bindungsmodell Mögliche Konsequenzen im Erwachsenenalter > Hypervigilanz (erhöhte Wachheit, oftmals bei PTBS) und Hypersensibilität v.a. in Beziehungen > Schwierigkeit, wirkliches Beschützt sein zu erleben > Evtl. kein guter Radar, deshalb oft in nicht unterstützenden oder von Missbrauch bestimmten Beziehungen

38 Desorganisiertes Bindungsmodell Heilende Botschaften > Ich achte auf Dich und darauf, was Du brauchst > Ich werde Dich schützen und für Dich einstehen > Tut mir leid, wenn ich Dir Angst eingejagt habe > Beruhigen wir uns erst einmal und reden dann

39 Typen gestörter Gruppenbindung nach PD Dr. med. K.H. Brisch > Bindungsstörung ohne Bindung: Jugendliche haben meist in Gruppen aggressive, traumatisierte, ritualisierte, sexuelle Gewalt erlebt; einsame Wölfe > Promiskuitive Bindungsstörung: Jugendliche wechseln von Gruppe zu Gruppe, gehören keiner Gruppe bindungssicher an, benutzen Gruppen um sich zu stabilisieren, ohne innerlich dazu zu gehören > Bindungsstörung mit Übererregung: Jugendliche sind NIE in Gruppen, nur in Dyaden wegen höchst erregtem Bindungsniveau, allein die Vorstellung einer Trennung löst panikartige Angst aus

40 Typen gestörter Gruppenbindung nach PD Dr. med. K.H. Brisch > Bindungsstörung mit Hemmung: Jugendliche haben Angst in der Gruppe Ähnliches zu erleben wie in der Dyade; wünschen sich dennoch dazu zu gehören > Bindungsstörung mit Aggression: Jugendliche verhalten sich aggressiv, um in die Gruppe hinein zu kommen; Gruppen sind aggressiv geprägt, mischen auf > Bindungssuche mit Unfallrisiko: parasuizidale Handlungen als Aufnahmeritual, Mutproben; wenn es gut geht, wird gefeiert, wenn es schief geht, wird getröstet

41 Typen gestörter Gruppenbindung nach PD Dr. med. K.H. Brisch > Bindungsstörung mit Rollenwechsel: Jugendliche haben versorgendes Verhalten/Bonding, weil sie ihre Eltern versorgen mussten; Gruppen-Mutter/Gruppen-Vater > Bindungsstörung mit Sucht: Jugendliche binden sich durch exzessiven Konsum von Alkohol und Suchtmittel, Entspannen und Gefühl von verschmelzen > Bindungsstörung mit psychosomatischen Symptomen: Jugendliche reagieren bei Stress in Gruppen mit somatischen Störungen (z.b. Schmerzen, Lähmungen, dissoziativen Störungen, psychotischen Episoden)

42 Bindungsorientierte Grundhaltung bedeutet: > sichere Bindungsangebote ermöglichen den Abbau von Traumafolgestörungen > dazu braucht es Kontinuität und Verlässlichkeit > Bindungspädagogische Grundhaltung kann als milieutherapeutischer Auftrag verstanden werden > Biografiearbeit unterstützt Bindungspädagogik > es gibt keine lineare Entwicklung beim späteren/korrigierenden Bindungsaufbau > es benötigt langsames Entstehen von Bindungssicherheit und Vertrauen > Haim Omer: Gewaltfreier Widerstand

43 Tragende und reflektierte Beziehungs- und Bindungsangebote > die Anzahl und die Qualität der Beziehungen unterstützt die Heilung > beständige, geduldige, sich wiederholende und liebevolle Fürsorge > eine große Menge realer guter Beziehungserlebnisse > Wilma Weiß spricht von heilenden Gemeinschaften > Erhaltung der Beziehungsfähigkeit der PädagogInnen > Reflexion der eigenen Beziehungsstrukturen > (Team-)Reflexion über Beziehungsverhalten und -angebote in der Gruppe

44 Vielen Dank für die Zusammenarbeit!