Beitrag: Dörfer kämpfen gegen Bürokratie Veränderung statt Sterben

Transkript

1 Manuskript Beitrag: Dörfer kämpfen gegen Bürokratie Veränderung statt Sterben Sendung vom 2. Juni 2015 von Anna Feist und Ulrich Stoll Anmoderation: Aus der deutschen Provinz zieht das Leben weg. Die Bevölkerung schrumpft, die Arbeitsplätze sind längst verschwunden, die Jungen wandern ab. Zurück bleiben alte Menschen, die nicht mehr fortgehen können oder wollen. Spielplätze, auf denen keiner spielt. Häuser, die keiner haben möchte und Dörfer, die verfallen und die doch mal Heimat waren. Aber selbst in verdorrenden Landschaften wächst das eine oder andere zarte Pflänzchen Hoffnung. Denn es gibt Bürger, die aus der Not geradezu eine Tugend machen. Unseren Reportern Anna Feist und Ulrich Stoll haben sie erzählt, wie sie mit dem Strukturwandel zurechtkommen. Text: Speicher, Rheinland-Pfalz. Mein Name ist Ursula Berrens, ich bin Psychotherapeutin und Verkehrspsychologin. Den Traum, dass hier Busse über die Orte fahren und einen vernünftigen Takt realisieren, den können wir uns abschminken. Das bedeutet im Klartext, dass man als älterer Mensch, nicht gut zum Einkaufen oder zum Arzt komme. O-Ton Marlies Becker, Gemeinde Guten Morgen, zum Bahnhof? Komm rein! O-Ton Marlies Becker, Gemeinde Wenn man zum Bahnhof runter will, dann ist es ja doch schwierig, denn nicht alle Stunde fährt ja ein Bus. Und so finde ich die Mitfahrerbank eigentlich ganz gut, sehr brauchbar.

2 Die Mitfahrerbank ist eine Ergänzung zum lückenhaften Personennahverkehr. Die Bänke sind, stehen an zentralen Stellen in den jeweiligen Orten beziehungsweise in der Stadt Speicher haben wir vier Standorte. Dort kann man ein Richtungsschild umschlagen und dadurch anzeigen, dass man mitgenommen werden möchte. Berlin. Ich bin Reiner Klingholz. Ich bin der Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Wir sind eine sogenannte Denkfabrik, die sich mit Fragen des demographischen Wandels in Deutschland beschäftigt. In der Stadt können wir ja damit rechnen, dass alles von alleine funktioniert, aber auf dem Dorf muss man immer selber mitanpacken, damit da überhaupt was läuft. Die entlegenen ländlichen Gebiete verlieren massiv an Infrastruktur, schlicht und einfach weil sie nicht mehr finanzierbar ist. Das heißt, wir brauchen dafür Alternativen sonst sind die Leute unversorgt, ganz alleine auf dem platten Land. Templin, Brandenburg: O-Ton Dr. Kerstin Finger, Zahnärztin, Templin: Ich bin Dr. Kerstin Finger, mobile Zahnärztin in der Uckermark, und wir brechen jetzt auf für unsere heutige Tour. Hier direkt in Templin sind wir noch relativ viele Zahnärzte. Aber wir leben in einem sehr, sehr dünn besiedelten Gebiet. Wir haben also in der umliegenden Region Dörfer, die haben nur 18 Einwohner auf nen Quadratkilometer, das ist also sehr, sehr dünn besiedelt. Und die Folgen der demografischen Entwicklung, die erleben wir hier natürlich verstärkt - und das schon seit Jahren. Ich habe alles im Auto, was ich normalerweise auch in der Zahnarztpraxis habe. Das einzige, was ich nicht habe, ist ein Behandlungsstuhl, den muss ich mir immer vor Ort bauen. O-Ton Dr. Kerstin Finger, Zahnärztin, Templin: Hallo, guten Morgen. So, zubeißen bitte. Und noch mal ganz locker die Oberlippe. O-Ton Ursula Rinke, Haßleben: Ich bin schon 19 Jahre in Behandlung bei Frau Doktor. Und das wäre nichts mehr geworden, hätte ich nicht mehr hinkönnen, nach Templin. O-Ton Kerstin Finger, Zahnärztin, Templin: Für mich ist ganz doll wichtig, dass man den Menschen, die hier alt geworden sind, und dazu gehöre ich ja mittlerweile auch, ich

3 bin 30 Jahre in der gleichen Gegend, dass man denen hinterhergeht und dass man denen die Möglichkeit gibt, solange wie sie es wollen zu Hause auch zu verbringen. Und nicht auf die alten Tage sozusagen umziehen zu müssen, nur weil ich den Arzt nicht mehr erreiche. Das ist jetzt nach fünf Jahren für uns eine eingespielte Geschichte. Am Anfang stand der Wille es zu tun. Und dann muss man natürlich schauen, was ist im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung überhaupt möglich, in unserem Abrechnungssystem und in den Gesetzlichkeiten. Also, diese Dinge müssen alle durchdacht und gelöst werden. Das ist jetzt gelungen - nach vielen Streitereien und nach gewissen Hürden. Aber das darf sie bislang auch nur einen halben Tag in der Woche tun, weil sonst das Umherziehen wieder als berufsstandmäßig unerlaubt gelten würde, weil ein umherziehender Arzt natürlich den Kollegen die Kundschaft wegnehmen kann. Aber das ist für diese Region, über die wir hier sprechen, gar nicht angebracht, denn dort haben wir gar keine Versorgung. Barmen, Nordrhein-Westfalen. O-Ton Heinz Frey, Geschaftsführer DORV Zentrum Barmen: Ich bin Heinz Frey, bin Geschäftsführer unseres DORV Zentrums. Hier hat es mal acht Lebensmittelläden gegeben und zwei Metzgereien, eine Bäckerei, mehrere Gaststätten, Post. Alle Einrichtungen sind inzwischen geschlossen. Wwir haben uns dann überlegt: Jetzt müssen wir was tun, sonst stirbt der Ort. Und wir haben was getan und der Ort lebt. Dann sind wir auf die Idee gekommen, Dienstleistungen, medizinisch-soziale Angebote, Kommunikationsangebote hier reinzubringen. Dadurch kriege ich also ein Zentrum, deswegen heißt es ja auch nicht DORV Laden, sondern DORV Zentrum. O-Ton Kunde: Morgen. O-Ton Verkäuferin: Morgen. O-Ton Heinz Frey, Geschaftsführer DORV Zentrum Barmen: Das schönste Beispiel ist immer, sie kriegen hier ihr Frischfleisch und auf der anderen Seite kriegen sie von der gleichen Dame ihre Kfz-Nummernschilder oder können Ihr Auto abmelden. Hier müssen Bürger selbst Verantwortung übernehmen. Das haben sie auch getan, haben mitfinanziert, das Ganze eingerichtet, auch mit handwerklicher Arbeit und das ist dann so genau entstanden. O-Ton Elisabeth Mäntz, Barmen: Dann kommen die älteren Leute mit dem Wägelchen, dann wird

4 ein bisschen erzählt - und dieses und jenes. So ist das für uns ältere Leute ein willkommener Laden. Apolda, Thüringen. Die Situation in der Innenstadt - hier in Apolda - schreit förmlich danach, dass noch mehr Leute sich hier ansiedeln. Es müsste einfach vorangehen, weil Stillstand tut niemandem gut. Mein Name ist Sibylle Müller und ich bin die Geschäftsleitung der Kulturfabrik Apolda. Die Kulturfabrik Apolda ist ein Atelier und Ausstellungshaus. Wir hatten uns damals überlegt, in den ländlichen Raum zu gehen, weil dort die Mieten bezahlbarer sind. Das Problem ist, das viele Studenten im kreativ-künstlerischen Bereich erst einmal in die großen Städte gehen. Ich konnte es nicht mehr hören, muss ich sagen, es ist immer: Ach, Frau Müller, gehen Sie doch nach Berlin, machen Sie doch in Berlin die ganze Initiative. Ich verstehe nicht, warum bleiben Sie denn in Apolda, in Thüringen? Und ich habe mir dann einfach gedacht: Ich zeig den Leuten jetzt einfach mal das es auch in Thüringen geht. O-Ton Steffen Böhme, Restaurator: Man sucht doch gerade da, wo man Ruhe hat und Platz hat, sich zu entfalten, halt. Und das bietet dann hier so eine Ecke ganz gut. Also, es wäre definitiv kein Leben hier drin, hätten wir nicht Privatkredite aufgenommen. Hätte ich auf Förderanträge gewartet, hätte ich nie innerhalb von zwei Jahren das hinbekommen, was wir jetzt hinbekommen haben. Es kommen ja immer wieder Besucher hier rein, die explizit jetzt - wie für die Gallery Weeks - nach Apolda kommen, Kunst kaufen möchten, kulturinteressiert sind und auch für einen Austausch immer zu haben sind. Wenn sich die Menschen auf dem Land wieder neu organisieren, wenn sie anfangen, miteinander zu reden und Probleme gemeinsam zu bewältigen, entsteht eine neue Form des sozialen Miteinanders. Das ist mit Sicherheit eine Bereicherung und das macht dann das Leben auf dem Lande plötzlich auch wieder attraktiv. Harsum, Niedersachsen. O-Ton Ralph-Ruprecht Bartels, Pfarrer, Gemeinde Harsum: Ich bin Pastor Ralph-Ruprecht Bartels und wir feiern heute hier in der Sankt-Martins Kapelle in Bavenstedt einen Gottesdienst. Es

5 ist eben abzusehen, dass viele Menschen, gerade wenn sie älter sind, nicht mehr zur Kirche kommen können. Und dass es für sie eigentlich eine schöne Sache ist, trotzdem teilhaben zu können an dem, was in ihrer Gemeinde geschieht. Und da ist so eine Idee bei uns gewachsen, dass wir versuchen wollen, mit Hilfe von Tablet-PCs Erleichterung zu schaffen. On-Ton Ralph-Ruprecht Bartels, Pfarrer, Gemeinde Harsum: Liebe Gemeinde, ein herzliches Willkommen hier in unserer Sankt-Martins Kapelle zum Gottesdienst. Ja, herzlich willkommen auch denen, die zu Hause am Tablet setzen, denn wir übertragen diesen Gottesdienst im Internet als Live-Stream. O-Ton Else Rehbein, Gemeinde Harsum: Dann hat man mehr Bezug zur Gemeinde. Das geht sonst alles verloren. Man ist isoliert, so ist man immer noch dabei und man kann das Ganze verfolgen. Man lebt damit. Speicher, Rheinland-Pfalz. Die Idee hinter diesen Mikroprojekten ist, dem Strukturwandel zu begegnen. Wir müssen Umdenken in Richtung Solidargemeinschaft. Und wir müssen den Gemeinsinn und gemeinschaftliche Aktionen auf Bürgerebene entwickeln, planen und umsetzen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.