Carsten Wippermann, Norbert Arnold, Heide Möller-Slawinski, Michael Borchard, Peter Marx: Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem
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- Rolf Gehrig
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1 Rezension Carsten Wippermann, Norbert Arnold, Heide Möller-Slawinski, Michael Borchard, Peter Marx: Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem 316 Seiten, Verlag für Sozialwissenschaften (Vs), Wiesbaden, 1. Auflage 2011 ISBN-10: , ISBN-13: Zusammenfassung Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Wohl jeder kennt diesen Ausspruch von Arthur Schopenhauer. Im Lebensalltag führt diese Erkenntnis jedoch viel zu oft nicht zu einer entsprechenden Lebensweise. Diese Diskrepanz zwischen der hohen Wertschätzung von Gesundheit einerseits und der geringen Bereitschaft andererseits, selbst etwas dafür zu tun, erweist sich in hohem Maße als milieuabhängig. Dabei gilt die Regel: Ein Lebensstil, der die Gesundheit erhält, ist in sozial gehobenen Milieus besser ausgeprägt als in sozial schwachen. Diese Unterschiede lassen sich allerdings nur bedingt durch die jeweiligen finanziellen Möglichkeiten erklären. Viele andere Faktoren scheinen eine Rolle zu spielen. Den Ursachen für das vielfältige gesundheitliche Verhalten geht die repräsentative Studie vom Heidelberger Milieu- und Trendforschungsinstitut SINUS Sociovision nach und untersucht dabei insbesondere milieuabhängig das vielfältige gesundheitliche Verhalten der Menschen und formuliert darüber hinaus Folgerungen für die Gesundheitspolitik. Die Studie zeigt darüber hinaus Folgerungen für die Gesundheitspolitik auf, deren Umsetzung zu mehr Chancengerechtigkeit führen soll. Einführung Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass nach dem aktuellen Kenntnisstand die Gründe für die sozialen Unterschiede bezüglich Gesundheit noch wenig verstanden sind. Zur weiteren Untersuchung bietet sich das lebensweltliche Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus an. Dieses bietet eine differenziertere Herangehensweise, weil nicht nur Merkmale der sozialen Lage und Schichtzugehörigkeit (Geschlecht; Einkommen; Bildung, Beruf, Arbeitswelt; Wohnlage etc.), sondern auch Wertorientierungen (Präferenzen, Interessen, Einstellungen) und Lebensstile (Routinen, Rituale, soziale Beziehungen) berücksichtigt werden (S. 26). In der vorliegenden repräsentativen empirischen Studie wurden dazu die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erwartungen der Bevölkerung untersucht (S. 27): Gesundheit und Krankheit Medizinische Versorgung Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen Bedingungen und Entwicklungen im Gesundheitssystem Untersuchungsdesign 120 narrative mehrstündige Einzelinterviews mit Frauen und Männern ab 18 Jahren aus allen sozialen Lagen (Einkommen; Bildung; soziale Milieus) Analyse von fünf bereits vorliegenden quantitativ-repräsentativen Erhebungen (S. 27 ff.)
2 Ausgangspunkt und wissenschaftlich fundiertes Modell für diese Studie sind die Sinus- Milieus, wie sie v.a. vom Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision, Heidelberg, entwickelt wurden. Diese Sinus-Milieus verbinden demografische Eigenschaften wie Bildung, Beruf oder Einkommen mit den realen Lebenswelten der Menschen, d.h. mit ihrer Alltagswelt, ihren unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen; Grundthemen: Welche grundlegenden Werte sind von Bedeutung? Wie sehen die Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld oder Konsum aus? Dadurch wird der Mensch ganzheitlich in seiner Lebenswelt - wahrgenommen, im Bezugssystem all dessen, was für sein Leben Bedeutung hat. Für die Gesundheits-Studie wurden die SINUS-Milieus bis 2010 verwandt: Sinus-Milieus bis 2010 in Deutschland Bevölkerungsanteil - Konservative 5 % - Traditionsverwurzelte 14 % - Etablierte 10 % - DDR-Nostalgiker 5 % - Bürgerliche Mitte 15 % - Konsum-Materialisten 12 % - Post-Materielle 10 % - Moderne Performer 10 % - Experimentalisten 8 % - Hedonisten 11 % Die Sinus-Milieus, Kurzcharakteristik: Die Gesellschaft und die Lebenswelten der Menschen verändern sich. Deshalb wird seit 2010 eine neues Sinus-Milieu-Modell verwandt, wobei u.a. das Milieu der DDR-Nostalgiker weggefallen ist und die entsprechenden Menschen anderen Milieus zugeordnet werden. SINUS-Milieus ab 2010: Sinus 2010 in Deutschland Bevölkerungsanteil - Traditionelles Milieu 15 % - Hedonistisches Milieu 15 % - Bürgerliche Mitte 14 % - Konservativ-etabliertes Milieu 10 % - Prekäres Milieu 9 % - Adaptiv-pragmatisches Milieu 9 % - Sozialökologisches Milieu 7 % - Liberal-intellektuelles Milieu 7 % - Milieu der Performer 7 % - Expeditives Milieu 6 %
3 Zentrale Befunde Neben den Besonderheiten in den einzelnen SINUS-Milieus zeigen die Studie folgende Milieuübergreifende Befunde (S. 31 ff.) auf, die zusammenfassend benannt werden: Der aktuelle Blick auf das Gesundheitssystem offenbart drei Prismen (S. 31): - Intransparenz des Systems - Ohnmacht des Einzelnen - Zukunftsangst Heute dominiert dabei bei den Menschen quer durch alle Milieus die Erfahrung (S. 32 f.): - dass das Gesundheitssystem kompliziert und (zu) teuer geworden ist, - dass der Apparat kaum noch zu finanzieren ist, - dass der Beitragssatz für die Versicherten immer mehr steigt und angesichts des demographischen Wandels weiter steigen wird, - dass die Versorgungssicherheit nach dem Gleichheitsprinzip nicht mehr gilt, - dass wir heute schon in einer Zweiklassen- (oder gar einer Dreiklassen)-Medizin leben. Milieuspezifische Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit (S. 34 ff.) Zur Messung von Gesundheitseinstellungen in der Bevölkerung wurde im Rahmen einer repräsentativen Befragung die Zustimmung zu 15 vorformulierten Aussagen erfragt. Die Auswertung findet sich auf den Seiten 35 ff. Die Tabelle hierzu auf den Seiten 35 und 36. Aussagen waren u.a.: - Preiswerte Medikamente sind oft genauso gut wie teure - Ich finde, dass sich viele Ärzte nicht ausreichend Zeit für ihre Patienten nehmen - Ich bin sehr darauf bedacht, durch mein Verhalten und meine Lebensweise Krankheiten vorzubeugen - Wenn ich zu meinem Arzt gehe, habe ich mich zuvor genau über mögliche Behandlungsmöglichkeiten informiert Bei der Auswertung der Antworten der Milieusegmente ergeben sich bereits grundlegende Dispositionen (siehe S ): die Leitmilieus der Etablierten, Postmateriellen und Modernen Performer zeigen das stärkste Involvement (Zuwendung, Einbezogenheit, Engagement) in Bezug auf Information, Selbstachtsamkeit und Prävention ihrer Gesundheit das traditionelle Milieusegment der Konservativen und Traditionsverwurzelten zeigt ein leicht überdurchschnittliches Gesundheitsbewusstsein mit dem Schwerpunkt auf Vorbeugung und Vertrauen auf das Bewährte die Mainstream-Milieus der Bürgerlichen Mitte und der Konsum-Materialisten betonen v.a. die Preissensibilität die hedonistischen Milieus der Hedonisten und Experimentalisten zeigen im Vergleich zu den anderen Milieus das geringste Gesundheitsbewusstsein Insgesamt zeigen die sozialwissenschaftlichen Befunde, dass das gegenwärtige Gesundheitssystem nicht passend ( kommensurabel ) ist mit den milieuspezfischen Bedarfen der Versicherten/ Patienten und dadurch an Legitimation verliert.
4 Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit Auf den Seiten werden dann die Ein- und Vorstellungen der einzelnen Milieus zu Gesundheit und Krankheit zusammenfassend dargestellt (Eine ausführliche Besprechung der einzelnen Ergebnisse würde den Rahmen dieser Rezension sprengen): Konservative Traditionsverwurzelte Konsum-Materialisten Post-Materielle Etablierte Moderne Performer Bürgerliche Mitte Hedonisten Experimentalisten [DDR-Nostalgiker: finden hierbei keine explizite Erwähnung] Milieuspezifische burden of disease (Krankheitslast) Einen weiteren interessanten und wichtigen Themenbereich stellen die Untersuchungen und Aussagen zur Krankheitslast ( burden of disease ) dar (S ), wobei sich hochsignifikante milieuspezifische Unterschiede der burden of disease anhand von 16 abgefragten Volkskrankheiten (Rückenschmerzen, Bluthochdruck, Übergewicht etc.) zeigen. Näher beleuchtet werden die Volkskrankheiten Depression (S ), Diabetes mellitus (S ), Allergien (S ) sowie der Risikofator Adipositas (S ). Medikation Hierbei wurde gefragt, welche Mittel die Menschen bei Beschwerden nehmen: zur Behandlung wie auch zur Vorbeugung. Die Ergebnisse sind hinsichtlich der einzelnen SINUS-Milieus übersichtlich in mehreren Tabellen auf den Seiten dargestellt Gesundheitliche Mitverantwortung Wie bereits am Anfang der Studie diskutiert, werden noch einmal Leit-Themen zum Gesundheitssystem als Kostenfaktor, seiner Finanzierung sowie der Eigen- und Mitverantwortung der Versicherten (Teilnahme an Prävention, Mitwirkung bei der Früherkennung sowie Mitarbeit bei der Behandlung von Krankheit) dargestellt (S ) Am Ende dieses Teils zu den Zentralen Befunden werden aufgrund der empirischen Befunde zehn Thesen aufgestellt (S ), die noch einmal die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten und Milieus und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Gesundheitsverständnis/-verhalten und die Gesundheitsversorgung zum Ausdruck bringen. Spektrum heterogener Verständnisse von Gesundheit und Krankheit Konkrete Aussagen zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit in den jeweiligen SINUS-Milieus umfasst der 2. Teil der Studie auf den folgenden 200 Seiten, und damit einem Umfang von 2/3 des Buches (S ). Ausführlich werden nacheinander folgende SINUS-Milieus beschrieben: Etablierte, Post- Materielle, Moderne Performer, Konservative, Traditionsverwurzelte, Bürgerliche Mitte, Konsum-Materialisten, Experimentalisten, Hedonisten, [ DDR-Nostalgiker : finden auch hierbei keine explizite Beschreibung, obwohl sie auf S. 30 mit benannt sind]
5 Hierbei werden jeweils folgende quantitative und qualitative Daten integriert: Kurzcharakteristik und Lebenswelt Bedeutung von Gesundheit Zwischen Schicksal und Verantwortung Informationsbedürfnisse und Informationsverhalten Gesundheitsvorsorge Präventionsmaßnahmen Der Gang zum Arzt: Auslöser, Arztwahl, Arztbild Einnahme von Medikamenten Vorsorgeuntersuchungen Zweiter Gesundheitsmarkt Bewertung der aktuellen Gesundheitsversorgung Wahrnehmung des aktuellen Gesundheitssystems Chancengleichheit Erwartungen an ein künftiges Gesundheitssystem Fazit: Die Studie Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem gibt einen ausführlichen, sehr differenzierten und empirisch untersetzten Überblick über das Thema Chancengerechtigkeit im deutschen Gesundheitssystem - aus ganzheitlicher, lebensweltlicher Sicht. Die Studie zeigt eine Vielzahl von Themenfeldern und Fragestellungen im Bereich der subjektiven, lebensweltbezogenen Gesundheitswahrnehmung und des Gesundheitsverhaltens auf. In diesem Sinne hat das Buch das Potential, zu einer wichtigen Quelle für die Analyse, Planung und Evaluation von Gesundheitsmaßnahmen (in Prävention, kurativer Medizin, Rehabilitation, Pflege) bei Krankenkassen, Ärztevereinigungen, der Politik/den Politikern, den öffentlichen Körperschaften (Gemeinden, Landkreisen, Bundesländern) etc. zu werden. Zugleich stellen das Buch und die Gesundheits-Milieu-Studie eine gute Basis für die weitere gesundheitswissenschaftliche (Public Health-)Forschung im Bereich v.a. der lebensweltlichen, milieubezogenen Gesundheitsforschung dar. Profitieren können von Ergebnissen der Milieu-Studie auch Unternehmen aus dem Zweiten Gesundheitsmarkt, die den Versicherten/den Patienten auch als Kunden für ihre Produkte und (Gesundheits-)Dienstleistungen gewinnen möchten. Ein Kritikpunkt: Leider wird das SINUS-Milieu DDR-Nostalgiker (obwohl zum SINUS-Milieu- Modell bis 2010 gehörend und auf S. 30 unter: Die resignierten Wendeverlierer... auch mit benannt) nicht näher beleuchtet. Dies ist v.a. für die Leser schade, die sich für die immer noch erheblichen Unterschiede in den lebensweltlichen Zusammenhängen und in den normativen Einstellungen im Osten Deutschlands gegenüber dem westlichen Teil interessieren. Autor der Rezension: Joachim Preißler Dipl.-Philosoph Dipl.-Gesundheitswissenschaftler Verein zur Förderung von Innovationen in der Gesundheitswirtschaft in der Region Dresden e.v.
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