Ausgewählte Probleme der Invalidität: Psychosomatische Leiden in der Invalidenversicherung und neue Schmerzrechtsprechung
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- Kasimir Grosse
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1 Ausgewählte Probleme der Invalidität: Psychosomatische Leiden in der Invalidenversicherung und neue Schmerzrechtsprechung Übersicht I. Invalidität als versichertes Risiko II. Problematik der somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbarer Leiden III. Alte Schmerzrechtsprechung (BGE 130 V 352) IV. Schmerzrechtsprechung 2.0 (BGE 141 V 281) V. Rechtsfragen rund um die Rentenrevision Seite 2
2 I. Invalidität als versichertes Risiko Seite 3 4
3 5 6
4 7 Invaliditätsbegriff gem. Art. 8 ATSG Art. 8 Invalidität 1 Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit. Seite 8
5 Seite 9 Insbesondere: Invalidenversicherung Charakteristika: 1959 geschaffen (10 Jahre nach AHV) Teil der 1. Säule (zusammen mit AHV) Volksversicherung (gesamte Bevölkerung versichert) Finale Versicherung ; d.h. Leistungen unabhängig von einem bestimmten Schadensereignis (z.b. Unfall wie bei UV) Finanzierung aus Beiträgen und Bundesmitteln (ca. 40 %) Erhebliche finanzielle Defizite, die erst langsam abgebaut werden Seite 10
6 II. Problematik der somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbarer Leiden Seite 11 Problematik I Ausrichtung der IV v.a. auf somatische Gesundheitsschäden Wenig Hinweise in den Materialien zu geistigen Gesundheitsschäden Keine Hinweise auf Umgang mit psychosomatischen Leiden Problematik Psychosomatischer Leiden Seite 12
7 Problematik II Ineinanderfliessen massgeblicher Faktoren Jurist. Würdigung Zumutbarkeit als unbestimmter Rechtsbegriff Tatsachen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit Freie Beweiswürdigung 13 III. Alte Schmerzrechtsprechung (BGE 130 V 352) Seite 14
8 Struktur der Praxis zur somatoformen Schmerzstörung Somatoforme Schmerzstörung bzw. gleichgestellte Krankheit. (Qualifizierte natürliche) Vermutung: Krankheit begründet keine Unzumutbarkeit der (Erwerbs-)Tätigkeit. Keine IV-Rente Ev. Widerlegung der Vermutung in Ausnahmefällen (Foerster- Kriterien) aufgrund eines medizinischen Gutachtens. IV-Rente Seite 15 Zumutbare Willensanstrengung bei somatoformen Schmerzstörungen Medizinische Unzumutbarkeit (nach bio-psycho-sozialem Krankheitsmodell) Rechtliche Unzumutbarkeit (bio-psychisches Rechtliche Unzumutbarkeit Krankheitsmodell) Vermutung: Schmerz ist zumutbarerweise überwindbar Gegenbeweis möglich: Erfüllen der «Foerster-Kriterien». 16
9 Entflechtung von medizinischer und juristischer Ebene: Die zweistufige Beurteilung (Jeger, 2008) 1. Ebene: Stellungnahme aus ärztlicher Sicht nach bestem Wissen und Gewissen (evidenzbasierte Medizin, bio-psycho-soziale Sichtweise). 2. Ebene: Stellungnahme unter Ausblendung psychosozialer Faktoren (so weit dies möglich ist), Stellungnahme zu den FOERSTER-Kriterien aus BGE 130 V 352 bzw. BGE 132 V Ausdehnung der Schmerzpraxis (BGE 130 V 352) Fibromyalgie Pathogenetischätiologische unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage? HWS Somatoforme Schmerzstörung CFS Neurasthenie Dissoz. Beweg.- Störung Dissoz. Sens.- Störung Seite 18
10 Dogmatische Probleme der alten Schmerzpraxis Fundamentalproblem: Worauf basiert die (qualifizierte natürliche) Vermutung, auf der die Praxis beruht? Welche Empirie liegt ihr zugrunde? (Eingehend Urs Müller in FS Murer, 2010) Divergenz zwischen medizinischer und juristischer Würdigung einer Krankheit. Seite 19 IV. Schmerzrechtsprechung 2.0 (BGE 141 V 281) Seite 20
11 Einordnung des Entscheids in die bisherige Praxis A. Entfallen der Überwindbarkeitsvermutung Die Überwindbarkeitsvermutung ist aufzugeben. (9C_492/2014 E. 3.5) Die Frage, ob die diagnostizierten Schmerzstörungen zu einer ganzen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit führe, stellt sich nicht mehr im Hinblick auf die Widerlegung einer Ausgangsvermutung. Das bisherige Regel/Ausnahme-Modell (Vermutung) wird durch einen strukturierten, normativen [ ] Prüfungsraster ersetzt. (9C_492/2014 E. 3.6) Seite 21 Strukturierte, normative Prüfung nach neuer Praxis (Stark) erhöhte Eintrittshürde: Viel präzisere Diagnostik und deutlicher Bezug auf ICD-Kriterien Keine (faktisch) vorweggenommene Entscheidung (Regel- Ausnahme-Verhältnis) Indikatoren Indikatoren Seite 22
12 B. Verhältnis von Recht und Medizin Kritik an der früheren Praxis (Auswahl): Marginalisierung der medizinischen Expertise durch normative Vorgaben (Vermutung, Foerster- Kriterien) Geringe Bedeutung der medizinischen Einschätzung Wirklichkeitsfernes Krankheitsverständnis der Invalidenversicherung Seite 23 Recht und Medizin bei Arbeitsunfähigkeit (vgl. BGE 140 V 193) 4. Element Juristische Zumutbarkeit Rechtsanwender 2. Element Einschränkung der Funktionellen Leistungsfähigkeit 3. Element Kausalzusammenhang 1. Element Gutachter Teilgutachten & Konsensbesprechung Einschränkung des Gesundheitszustandes Seite 24
13 BGE 140 V 193 (Arbeitsunfähigkeit)? BGE 130 V 352 (Schmerzrechtsprechung) BGE 137 V 210 (MEDAS) Seite 25 BGE 141 V 281 (9C_492/2014) Verlagerung auf Beweis (Diagnostik, Indikatoren) Präzisierte normative Vorgaben, (eher) gestärkte Rolle der Medizin. C. Auswirkungen auf die Fallzahlen? Steigende Zahl von Neurenten? Nicht zwingend. Erhöhte Anforderungen an Diagnose (ICD-Konformität etc.) Zusätzlicher Einbezug positiver persönlicher Ressourcen. Mehr Teilrenten? Wahrscheinlich. Differenziertere Beurteilung des Einzelfalls und genauere Ressourcenanaylse. Wegfall der Vermutung. Mehr Anmeldungen? Wahrscheinlich. Seite 26
14 D. Anwendungsbereich der neuen Praxis Somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Störungen. (BGE 141 V 281 E mit Hinweis auf BGE 140 V 8, E , S. 14) Seite 27 IV-Rundschreiben Nr. 339 ( ) Der Auftrag ist für alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar, da es im Hinblick auf eine ressourcenorientierte Abklärung keinen Sinn mehr macht, zwischen psychosoma-tischen und anderen Leiden zu differenzieren. Der Auftrag deckt die Standardindikatoren gemäss BGer- Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 [BGE 141 V 281] ab. Damit sollten die IV-Stellen von den medizinischen Sachverständigen alle relevanten Fragen beantwortet bekommen. Seite 28
15 Sinn und Zweck der Schmerzrechtsprechung Beweisprobleme bzw. «Beweisnotstand» bei nichtobjektivierbaren Gesundheitsbeeinträchtigungen. Vermutung als (möglicher) Versuch, die (beweisbelasteten) Versicherten nicht einfach scheitern zu lassen. Normativ strukturierter Prüfungsraster als neuer Versuch. Stets: Indirekter Beweis bei Beweisproblemen. Nicht nötig bei objektivierbaren Gesundheitsschäden. Gefahr der Ausweitung der Praxis: Gesamte Praxis könnte (schleichend) auch bei objektivierbaren Befunden Anwendung finden. Seite 29 E. Zur Diagnosestellung nach Klassifikationssystem Diagnose dient nicht nur der gesicherten Feststellung des Krankheitswertes, sondern stellt darüber hinaus Referenz für allfällige Funktionseinschränkungen dar. (BGE 141 V 281 E ) Nur funktionelle Ausfälle dürfen in die Beurteilung einbezogen werden, die sich aus denjenigen Befunden ergeben, die auch für die Diagnose der Gesundheitsbeeinträchtigung massgebend gewesen sind. (BGE 141 V 281 E , E ) Diagnosestellung und in der Folge Invaliditätsbemessung haben somit stärker als bis anhin die entsprechenden Auswirkungen der diagnoserelevanten Befunde zu berücksichtigen. (8C_10/2015 vom , E. 4.2, wird publ.) Seite 30
16 Bedeutung der «diagnoserelvanten Befunde»? Exploration Erhebung der Befunde (z.b. durch Psychiater) Enge Auslegung; nur klassifi zierte Befunde? Diagnose Einschränkung Invalidität? Diagnose (gem. Klassifikationssystem) (z.b. durch Psychiater) Feststellung der funktionellen Einschränkung (z.b. durch Psychiater) Feststellung der Invalidität Gestützt auf Befunde, durch IV Weite Auslegung; alle Befunde? Seite 31 Relevanz der Diskussion rund um Klassifikationssystem und Diagnoserlevanz bislang ausschliesslich bei psychiatrischen Diagnosen. Lebhafte Debatte um Klassifikationssysteme bis zur Schmerzrechtsprechung; seither kaum mehr (Überwindbarkeitsvermutung). Neue Diskussion seit neuer Schmerzrechtsprechung. Zutreffend und einschlägig ist Diagnoserelevanz wohl bei diagnoseinhärentem Schweregrad (wie bei somatoformer Schmerzstörung).
17 F. Gesamtwürdigung / Einordnung Hintergründe: Massive Kritik an bisheriger Praxis Medas-Rechtsprechung (BGE 137 V 210) stark gesunkene Neurentenzahlen Auslaufen der Übergangsbestimmung der IVG- Revision 6a Eingehende Auseinandersetzung mit aller Kritik Ersetzung der Vermutung durch ein strukturiertes Beweisverfahren Aufwertung der medizinischen Evidenz Differenziertere (und ev. auch fairere) Beurteilung Seite 33 V. Rechtsfragen rund um die Rentenrevision Seite 34
18 Systematik der Rückkommenstitel im Sozialversicherungsrecht Fehler in der Rechtsanwendung ATSG 53 II? Neues Gesetz: Anpassung Neue Praxis: I.d.R. keine Anpassung Ursprüngliche Fehlerhaftigkeit ATSG 53 I ATSG 17 Nachträgliche Fehlerhaftigkeit Seite 35 Fehler in der Sachverhaltsfeststellung Systematik der Rückkommenstitel im Sozialversicherungsrecht Anpassung von Dauerleistungen an die Rechtsprechung BGE 130 V 352 (somatoforme Schmerzstörung) aus Gründen der Rechtsgleichheit? BGE 135 V 201 E. 7: Die mit BGE 130 V 352 begründete Rechtsprechung bildet keinen Grund für die Herabsetzung oder Aufhebung einer laufenden Rente unter dem Titel der Anpassung an geänderte Rechtsgrundlagen 36
19 Systematik der Rückkommenstitel im Sozialversicherungsrecht Neu formulierter Art. 7 Abs. 2 ATSG als Rückkommenstitel auf laufende Renten von Personen mit somatoformen Schmerz- Störungen? BGE 135 V 215 E. 7: Art. 7 Abs. 2 ATSG ändert den Begriff der Erwerbsunfähigkeit nicht und bildet ebenfalls keinen hinreichenden Rückkommens-titel. 37 IVG-Revision 6a: Schlussbestimmung a. Überprüfung der Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden. 1 Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, werden innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Artikel 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Artikel 17 Absatz 1 ATSG nicht erfüllt sind. 2 Wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, so hat die Bezügerin oder der Bezüger Anspruch auf Massnahmen zur Wiedereingliederung nach Artikel 8a. Ein Anspruch auf eine Übergangsleistung nach Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe c entsteht dadurch nicht. Seite 38
20 IVG-Revision 6a: Schlussbestimmung 3 Werden Massnahmen zur Wiedereingliederung durchgeführt, so wird die Rente bis zum Abschluss der Massnahmen weiter ausgerichtet, längstens aber während zwei Jahren ab dem Zeitpunkt der Aufhebung oder Herabsetzung. 4 Absatz 1 findet keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen. 5 Änderungen von IV Rentenansprüchen nach den Absätzen 1 4 Schlussbestimmungen bewirken weder eine Anpassung der Rentenansprüche gemäss UVG (Komplementärrente) noch andere Ausgleichsansprüche der Versicherten. Seite 39 Problematik Was fällt alles unter die pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage? Eingliederungschancen der Betroffenen? Umgang mit bereits regulierten Schäden? Koordination mit anderen Versicherungen? Starke Einschränkung der Vorsorge der Betroffenen. Mehrbelastung der Sozialhilfe. Zur Verfassungs- und EMRK-Konformität der Übergangsbestimmung: BGE 139 V 547 Seite 40
21 Neue Herausforderung: BGE 141 V 9 ½-IV-Rente seit 1999 und ¾-IV-Rente seit 2004 wegen chronischer Rückenschmerzen Revision (6a) der Rente. Zusätzliches Schulterleiden festgestellt. Med. Gutachten erkennt auf 80 % Arbeitsfähigkeit, Aufhebung der Rente. BGer: Anwendbarkeit von 6a-Revision verneint, aber Anwendbarkeit von Art. 17 ATSG bejaht! D.h.: Ordentliche Revision der IV-Rente, die trotz objektiver Verschlechterung des bisherigen Gesundheitszustands zu einer Verbesserung der Arbeitsfähigkeit führt! Problematik? Seite 41
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