Sprachheilpädagogik aktuell
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- Kristin Graf
- vor 6 Jahren
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1 Sprachheilpädagogik aktuell Beiträge für Schule, Kindergarten, therapeutische Praxis Ulrich Stitzinger Stephan Sallat Ulrike Lüdtke (Hrsg.) Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis Schulz- Schulz- Kirchner Kirchner Verlag Verlag
2 Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis Im Kontext von Inklusion benötigen Kinder und Jugendliche mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen und entsprechenden heterogenen Ausgangslagen und Entwicklungsperspektiven eine besondere Unterstützung, um Bildungsziele chancengleich erreichen zu können. Dieser innovative Auftrag verlangt eine interdisziplinäre Herangehensweise auf der Basis spezifischer Expertisen und neu angepasster Konzepte für die Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie mit Blick auf Übergänge und Kooperationen zwischen Kita, Schule, sprachtherapeutischer Praxis und Berufsbildung. Mit diesem Themenspektrum beschäftigt sich der vorliegende Sammelband im Rahmen von Beiträgen des 32. Bundeskongresses der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e. V., der im September 2016 an der Leibniz Universität Hannover stattfand. Neben den Keynote-Beiträgen zu übergreifenden Perspektiven auf Chancen und Herausforderungen von inklusiver Förderung und Therapie im Bereich Sprache und Kommunikation werden folgende inhaltliche Schwerpunkte bearbeitet: Interventionen bei sprachlichen und schriftsprachlichen Inhalten interdisziplinäre Kooperation und Organisation inklusiver Bildung pragmatisch-kommunikative Unterstützung und ganzheitliche Ansätze Wortschatzlernen und Begriffsbildung Grammatikentwicklung phonetisch-phonologische Zusammenhänge im Schriftspracherwerb, digitale Medien und Unterstützung durch Eltern Interventionen bei mathematischen Inhalten zentrale sprachliche Einflussfaktoren sprachliche Lernbarrieren im Kontext der Fachsprache übergreifend konzeptionelle Überlegungen Interventionen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität frühkindliche Förderung des Zweitspracherwerbs Kinder mit Fluchterfahrung inklusive Unterstützung durch Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie Elterntraining Ergänzt wird der Band mit Beiträgen über aktuelle diagnostische Verfahren zu sprachlichkommunikativen Entwicklungsbereichen in der Anwendung für inklusive Settings. Ferner geben Beiträge aus praxisorientierten Workshops Einblicke in inklusive Perspektiven sprachlicher und kultureller Vielfalt. Schulz- Kirchner Verlag
3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Besuchen Sie uns im Internet: 1. Auflage 2016 ISBN eisbn Alle Rechte vorbehalten Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2016 Mollweg 2, D Idstein Vertretungsberechtigte Geschäftsführer: Dr. Ullrich Schulz-Kirchner, Nicole Haberkamm Umschlagfoto: Wavebreak Media Fotolia.com Druck und Bindung: medienhaus Plump GmbH, Rolandsecker Weg 33, Rheinbreitbach Printed in Germany Die Informationen in diesem Buch sind von den Herausgebern und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Herausgeber bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ( 53 UrhG) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar ( 106 ff UrhG). Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verwendung von Abbildungen und Tabellen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung oder Verarbeitung in elektronischen Systemen. Eine Nutzung über den privaten Gebrauch hinaus ist grundsätzlich kostenpflichtig. Anfrage über: info@schulz-kirchner.de
4 Inhalt SPRACHE UND INKLUSION ÜBERGREIFENDE PERSPEKTIVEN AUF CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEN Ulrich Stitzinger, Stephan Sallat Sprache und Inklusion als Chance?! Herausforderungen für den Förderschwerpunkt Sprache Marianne Nolte Sprache und Sprachverstehen in mathematischen Lernprozessen aus einer mathematikdidaktischen Perspektive Pascale Engel de Abreu Herausforderung Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklung Manfred Grohnfeldt Inklusion zwischen Anspruch und Wirklichkeit INTERVENTIONEN BEI SPRACHLICHEN UND SCHRIFTSPRACHLICHEN INHALTEN FOKUS: ORGANISATION UND KOOPERATION IN INKLUSIVEN SPRACHLICHEN BILDUNGSKONTEXTEN Ulrich Stitzinger, Kirsten Diehl, Annegret Gäbel, Ulrike Kopp Sprachlich-kommunikative Unterstützung im inklusiven Unterricht (Wie) kann das gelingen? Christian W. Glück, Anja Theisel, Markus Spreer Rahmenbedingungen inklusiver Beschulung: Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt Ki.SSES- Proluba... 83
5 Inhalt Henrike Petzold, Anja Fengler Praxis des Gemeinsamen Unterrichts von Schülerinnen und Schülern mit Förderschwerpunkt Sprache an sächsischen Grundschulen Barbara Kohl, Stefanie Brors Teamteaching konkret Eine Sprachheilpädagogin und eine Grundschulpädagogin berichten von ihren Erfahrungen Anselm Bajus, Susanne Witte, Ulrike Oberesch, Nicole Ehnert Sprachstörungen im Vorschulalter intensiv und interdisziplinär behandeln : Erfolge eines frühzeitigen interdisziplinären Förder- und Behandlungssettings als Voraussetzung für weitgehende Inklusion im Schulalter Gudrun Hagge Sprachförderung in der Kita: Organisation der vorschulischen Sprachförderung durch die Sternschule Förderzentrum Sprache INTERVENTIONEN BEI SPRACHLICHEN UND SCHRIFTSPRACHLICHEN INHALTEN FOKUS: PRAGMATIK UND KOMMUNIKATION, NARRATION UND GANZHEITLICH MUSIKALISCHE ANSÄTZE Stephan Sallat, Markus Spreer, Grit Franke, Franziska Schlamp-Diekmann Pragmatisch-kommunikative Störungen Herausforderungen für Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie in Schule und Berufsbildung Anja Schröder, Nitza-Katz-Bernstein, Anke Lengning, Uta Quasthoff, Laura Polke, Juliane Stude Erfassung und Förderung der interaktiven Erzählfähigkeiten von Kindern mit sprachlichem Förderbedarf Wilma Schönauer-Schneider, Karin Reber Quietsch, Quatsch, Matsch: Prototypische Unterrichtskontexte zur Förderung von Sprachkompetenz
6 Inhalt INTERVENTIONEN BEI SPRACHLICHEN UND SCHRIFTSPRACHLICHEN INHALTEN FOKUS: SEMANTIK UND LEXIK Kim Schick, Andreas Mayer, Martina Weitz Unterrichtsintegrierte Förderung lexikalischer Fähigkeiten am Beispiel des Englischunterrichts Ellen Bastians Wer weiß was? Wow! Wortschatz! Fach/Wortschatz-Lernstrategie-Training (FWLT) Ein Beispiel zur Adaption des Konzepts Wortschatzsammler für die Sekundarstufe I Melanie Jester Hast Du Angst, Kind? Mentale Begriffe im Symbolspiel von Vorschulkindern mit und ohne spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) INTERVENTIONEN BEI SPRACHLICHEN UND SCHRIFTSPRACHLICHEN INHALTEN FOKUS: MORPHOLOGIE UND SYNTAX Tanja Ulrich Grammatische Fähigkeiten deutschsprachiger Kinder zwischen vier und neun Jahren mit Fokus auf dem Kasuserwerb Margit Berg, Hubertus Hatz, Bettina Janke Produktive und rezeptive Grammatikentwicklung von Kindern mit SSES von der Einschulung bis zum Ende der 2. Klasse Ergebnisse aus der Ki.SSES-Studie
7 Inhalt INTERVENTIONEN BEI SPRACHLICHEN UND SCHRIFTSPRACHLICHEN INHALTEN FOKUS: PHONETIK UND PHONOLOGIE, SCHRIFTSPRACHERWERB UND LITERACY Reinhard Kargl, Christian Purgstaller Morphematische Bewusstheit Eine große Chance für die Förderung der Schriftsprache Michael Kalmár Und täglich grüßt das Murmeltier: Phonotaktische Regeln der deutschen Sprache (seit 25 Jahren) im Erstschriftspracherwerb noch immer weitgehend unbeachtet Tanja Jungmann, Ulrike Morawiak, Julia Böhm Alltagsintegrierte Sprach- und Literacy-Förderung Konzept und Wirksamkeitsforschung im Rahmen des KOMPASS-Projektes Christiane Miosga Zum Einfluss digitaler Medien auf das Lesen und die Literacy-Entwicklung Anke Buschmann, Bettina Multhauf Heidelberger Elterntraining zum Umgang mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten (HET LRS): Konzept und Evaluation INTERVENTIONEN BEI MATHEMATISCHEN INHALTEN Anja Schröder, Alexander Röhm, Monika London, Nadine Elstrodt Mathematisches Lernen unter besonderer Berücksichtigung der zentralen Einflussfaktoren Sprache und Arbeitsgedächtnis Margit Berg, Stephan Sallat, Susanne Ullrich, Birgit Werner Inklusiver Mathematikunterricht als sprach- und kommunikationssensibler Fachunterricht. Empirische Befunde und konzeptionelle Überlegungen
8 Inhalt Andreas Mayer Sprachliche Lernbarrieren beim Erwerb mathematischer Kompetenzen Heiko Seiffert Lernbarrieren beim Fachwortlernen zum Beispiel Mathematik Rebecca Klose Mathematische Begriffsbildung von bilingual unterrichteten Schülerinnen und Schülern Tanja Jungmann, Andrea Schulz, Julia Böhm, Katja Koch Alltagsintegrierte Förderung früher mathematischer Kompetenzen Konzept und Ergebnisse des KOMPASS-Projektes INTERVENTIONEN IM KONTEXT VON MEHRSPRACHIGKEIT UND INTERKULTURALITÄT Solveig Chilla, Inge Holler-Zittlau, Carla Sack, Susanne van Minnen Kinder mit Fluchterfahrung als sprachpädagogische Aufgabe Ellen Bastians Sprachförderung mit Qualitätsanspruch in der Inklusion!? Konzept und Umsetzung an der 11. Gesamtschule Köln-Mülheim im Rahmen von QuisS (Qualität in sprachheterogenen Schulen) Christina Haupt Inklusion von Roma-Schülerinnen und Schülern: (Wie) Können Sprachtherapie und Sprachheilpädagogik unterstützen? Yvonne Adler Ergebnisse und Bedingungen früher Förderung des Zweitspracherwerbs nach dem KomMig-Modell
9 Inhalt Katja Schmidt Zweitspracherwerb im bilingualen Kindergarten: auch für Kinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen? Ulla Licandro Die Analyse narrativer Fähigkeiten von ein- und mehrsprachigen Kindern Anja Starke Selektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern Welchen Einfluss haben Deutschkompetenzen, Ängstlichkeit und kulturelle Unterschiede auf die Entwicklung des Schweigens? Anke Buschmann Heidelberger Elterntraining zur Förderung von Mehrsprachigkeit: Alltagsintegrierte Sprachförderung zuhause DIAGNOSTIK SPRACHLICH-KOMMUNIKATIVER ENTWICKLUNGSBEREICHE FÜR INKLUSIVE SETTINGS Kathrin Mahlau Screening grammatischer Fähigkeiten für die 2. Klasse (SGF 2) ein Gruppenverfahren zur Feststellung der sprachlichen Fähigkeiten für Kinder zweiter Klassen Hans-Joachim Motsch ESGRAF 4-8: Grammatiktest für 4-8jährige Kinder. Diagnostik als unverzichtbare Voraussetzung vor Interventionen Katja Johanssen, Jens Kramer, Julia Lukaschyk Deutscher Mutismus Test (DMT-KoMut) aus der Praxis, für die Praxis Anja Starke, Katja Subellok Schüchtern oder selektiv mutistisch? DortMuS-Schule ein Fragebogen für Lehrkräfte im Primarbereich
10 Inhalt Lilli Wagner Sprachstandsdiagnostik bei ein- und mehrsprachigen Kindern im inklusiven Kontext mit dem Screening der kindlichen Sprachentwicklung SCREENIKS VON DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS IN DER PERSPEKTIVE SPRACHLICHER UND KULTURELLER VIELFALT Sabine Hirler Tanz durch das Tor der Sinne Wahrnehmungs- und Sprachförderung durch Rhythmik und Musik Michèle Lorang, Marc Schmidt Kontrastoptimierung Sprachtherapie mit mehrsprachigen Kindern Marianne Wiedenmann Ein Sprachprojekt für neu zugewanderte Jugendliche in dem ScienceCenter FrankfurtRheinMain EXPERIMINTA Matthias Jöde Akustische Optimierung im Klassenzimmer Index Autorenverzeichnis
11 Heiko Seiffert Lernbarrieren beim Fachwortlernen zum Beispiel Mathematik 1 Einleitung Der Konflikt zwischen Sprache und Mathematik wird im Unterricht ausgetragen (Lorenz, 2004, S. 194). Und er fördert sowohl die sprachlichen als auch die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden. Forschungsergebnisse der strukturgenetischen Soziologie (Oesterdiekhoff, 2008, s. auch Romonath, 2001) legen nahe, dass ein großer Teil der höheren kognitiven Fähigkeiten, die Menschen in modernen und postmodernen Gesellschaften auszeichnen, dem Schulunterricht und den darin gestellten sprachlichen und kognitiven Anforderungen zu verdanken ist. Im Umkehrschluss heißt dies, dass sich innere Lernbarrieren zum Beispiel Störungen des Wortschatzerwerbs negativ auf die kognitive Entwicklung auswirken müssten. Konkret mehren sich die Hinweise darauf, dass insbesondere der Taxonomie Constraint (Rothweiler, 2001) also der Fähigkeit, Ober- und Unterbegriffe zu gebrauchen und Inhalte verbal zu klassifizieren in der kognitiven Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine Schlüsselrolle zuzukommen scheint (s. hierzu Abschnitt 3). Nicht umsonst schreibt Grzesik (1992, S. 8): Niemand bezweifelt ernsthaft, dass im Unterricht Begriffe gelernt werden sollen, und niemand, dass im Alltag des Unterrichts auch tatsächlich Begriffe gelernt werden. Begriffe im Sinne Grzesiks setzen aber die Fähigkeit der Abstraktion vulgo des Operierens mit Ober- und Unterbegriffen und damit das Taxonomie Constraint voraus. Dies alles gilt in einem besonderen Maße für das Fach Mathematik, das als eine der wichtigsten Produktionsstätten von Intelligenz im modernen Sinne betrachtet werden kann. Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
12 Heiko Seiffert Neben dem Gebrauch der Aussagenlogik sowie der komplexen Syntax steht im Fach Mathematik die Nutzung abstrakter, semantisch und phonologisch komplexer Fachbegriffe im Vordergrund. 2 Innere Lernbarrieren beim Lernen von Fachwörtern im Mathematikunterricht Seiffert (2014) führt auf einer Literaturrecherche beruhende Zusammenstellung der folgenden inneren (durch eine Sprachentwicklungsstörung verursachte) Lernbarrieren im Unterricht an: Geringe Fast-Mapping-Leistungen bei komplexen Wörtern, grammatische Störungen und geringe Fähigkeiten im Bereich des syntaktischen Bootsstrappings, Festhalten an frühen lexikalischen Erwerbsstrategien (Mutual-Exclusivity- Assumption) statt des Gebrauchs altersgemäßer Strategien (Taxonomie- Constraint), Wortfindungsstörungen und eine geringe Automatisierung sprachlichen Wissens und Könnens, geringe Wortbildungs- und Dekompositionsfähigkeiten, mangelndes Verständnis von Funktionswörtern, Selbstmanagement und semantische Lernstrategien, geringe Fähigkeiten im Monitoring des Sprachverstehens. 3 Fachwortlernen im Mathematikunterricht 3.1 Begriffe im Mathematikunterricht Das Fachwortlernen im Mathematikunterricht vollzieht sich in den gleichen Stufen, die auch jeder andere Lernprozess durchschreitet. Anders als in vielen anderen Fächern sind im Fach Mathematik allerdings die Anforderungen an die Tiefe und Qualität der Begriffe höher. Nach Piaget (2000) erwirbt das Kind erst im Alter von etwa 11 bis 12 Jahren die Fähigkeit, Begriffe unabhängig von der konkreten Anschauung zu verwenden. 280 Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
13 Lernbarrieren beim Fachwortlernen zum Beispiel Mathematik Maier und Schweiger (1999) unterscheiden drei Arten mathematischer Fachausdrücke: Die Verwendung von Wörtern, die in der Alltagssprache nicht vorkommen (wie zum Beispiel Primzahl, Divisor, Dezimalbereich, Hypotenuse, Parallelogramm, Vektor, Sinus, addieren, orthogonal usw.). Die Verwendung von Wörtern, die auch in der Alltagssprache in gleicher oder ähnlicher Weise vorkommen (wie zum Beispiel Gerade, Dreieck, Quadrat). Es werden aber auch Lexeme der Alltagssprache verwendet, deren Bedeutung von der in der Alltagssprache üblichen abweicht (Produkt, rational, Wurzel und Ring als algebraische Struktur). Gerade bei Fachbegriffen aus dieser Gruppe sind die Konflikte mit der Mutual-Exclusivity Assumption (Rothweiler, 2001) vorprogrammiert. 3.2 Erwerb Der Erwerb eines neuen Lerninhaltes wird von Grzesik (2002) als Akquisitionsprozess des Lernens bezeichnet. Lernen wird dabei als Selbstveränderung des Prozessierens im operational geschlossenen psychischen System aufgefasst. Eine neue Operation wird dabei im Prozessieren des gesamten neuropsychologischen Systems erstmalig vollzogen (Grzesik, 2002, S. 253 und 435). Gruber et al. (2006, 119) bezeichnen die Erwerbsphase innerhalb des Lernprozesses im Anschluss an Ackermanns Theorie der Ability Determinations of Skilled Performance (Ackermann, 1990) als kognitive Phase. Sie ist gekennzeichnet durch eine hohe kognitive Belastung des Schülers. Um den Erwerb eines neuen, komplexen Lerninhaltes erfolgreich zu bewältigen ist entweder ein konsistentes prozedurales Wissen (also ein automatisiertes Vorwissen) oder aber ein hohes Maß an anlagebedingten kognitiven Voraussetzungen vorliegen. In diesem Zusammenhang ist besonders das Arbeitsgedächtnis zu nennen, das nach Grzesik (2002, 281) innerhalb des Lernprozesses Operationen als Prozesseinheiten aktiviert, aus denen sich jede Handlung zusammensetzt. Innerhalb des Fachwortlernprozesses spielt in dieser Phase das Fast-Mapping (Rice et al., 1994; Rothweiler, 2001) eine prominente Rolle. Bevor ein neues Fachwort im Unterricht inhaltlich verstanden werden kann, muss es zunächst den phonologischen Flaschenhals passieren. Bereits beim Fast-Mapping scheitert der Lernprozess der sprachentwicklungsgestörten Lernenden bereits häufig, weil es oftmals nicht gelingt, eine ausreichende phonologische Spur aufzubauen, die es ermöglicht, das Fachwort im Verlauf des weiteren Lernprozesses (Speichern, Automatisierung) wiederzuerkennen und auf dieser Grundlage eine immer genauere phonologische Repräsentation des Fachwortes aufzubauen. Gerade mathematische Fachbegriffe sind aber durch eine hohe phonologische und semantische Komplexität gekennzeichnet (Seiffert, 2012). Rothweiler (2001) weist darauf hin, dass bei sprachentwicklungsge- Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
14 Heiko Seiffert störten Lernenden die Fast-Mapping-Leistungen bei komplexen Wörtern deutlich schwächer als bei Normalsprechenden sind. Zudem gelingt das Fast-Mapping in der Regel nur, wenn die Lernenden im Unterricht dem neuen Fachwort die entsprechende Aufmerksamkeit entgegenbringen. Hierfür ist aber die Einsicht nötig, dass das neue Wort erstens relevant ist und zweitens im bisherigen Wortschatz fehlt. Diesem Monitoring des Sprachverstehens kommt deshalb in der Erwerbsphase eines neuen Fachwortes eine überaus wichtige Rolle zu (Seiffert, 2012, Reber & Schönauer-Schneider, 2009). Therapiedidaktisch kann diese Phase im Rahmen einer evidenzbasierten Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter (Motsch et al., 2015, Bastians, 2015) der Strategiestufe der Neuwortidentifikation zugeordnet werden. Seiffert (2012) schlägt zur Förderung des Monitorings des Sprachverstehens im Unterricht das Format Begriffe jagen vor. Beim Begriffe jagen handelt es sich um ein Spiel, das ohne jegliche didaktische Reduktion in der Regel mit der Doppelbuchseite eines Schülerbuches gespielt wird. Zu den genauen Regeln s. Seiffert (2011). Bastians (2015) nennt für diese Phase des Lernprozesses die Formate Fachwort- Kommissar ( finde in x Minuten mindestens y unbekannte Wörter im Text ), Refraiming ( Such und schau so wirst Du schlau! ), Fach-/Vokabel-Vorgabe (Silbenrätsel, im Raum versteckte Wortkarten, Briefpost für die Tischgruppen mit Silbenpuzzleteilen, Bild-Wort-Domino-Puzzlekarten). 3.3 Speicherung Die Speicherung eines neuen Lerninhaltes wird von Grzesik als Behaltensprozess des Lernens bezeichnet. Er besteht aus einem besonderen Zyklus, die wiederholte Aktivierung einer neuen Operation wird dadurch zunehmend erleichtert (Grzesik, 2002, S. 458). Gruber et al. bezeichnen die Phase der Speicherung im Anschluss an Ackermann (1990) als assoziative Phase. Sie dient der Verdichtung des Wissens und einer Prozedualisierung von Strategien. In dieser Phase sind besonders Fähigkeiten aus dem Bereich der Wahrnehmungsgeschwindigkeit notwendig (Gruber et al., 2006, S. 119). Im semantischen Lernprozess stehen bei der Speicherung Prozesse der phonologischen und semantischen Elaboration (Glück, 2000) im Vordergrund. Therapiedidaktisch kann diese Phase im Rahmen einer evidenzbasierten Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter (Bastians, 2015, Motsch et al., 2015) 282 Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
15 Lernbarrieren beim Fachwortlernen zum Beispiel Mathematik der Strategiestufen der Einspeicherungsstrategien und der Abrufstrategien zugeordnet werden. Seiffert (2012) schlägt zur Förderung der Speicherung von Fachbegriffen im Unterricht die Formate Power-Learning, Rhythmicals, Wauschtörter (phonologische Elaboration) und Kuckuckseier (semantische Elaboration) vor. Zu den genauen Regeln s. Seiffert (2012). Bastians nennt als Übungen zur Einspeicherstrategien unter anderem Chorsprechen, Artikel, Ober- und Unterbegriffe sortieren, Visualisierung, Bild-Wort-Dominokarten, Reim/Wortspiel und Modellieren. Als Übungen für Abrufstrategien nennt Bastians unter anderem Pantomime, Blitz- Lesen, Blitz-Hören, Tabu, Teekesselchen und Kim-Spiele. 3.4 Automatisierung Die Automatisierung eines Lerninhaltes wird von Grzesik (2002) als Reaktivierungsprozess des Lernens bezeichnet. Er besteht aus einem Zyklus von spezifischen Teilprozessen im gesamten Prozessieren des neuropsychischen Systems. Gruber et al. bezeichnen die Phase der Automatisierung im Anschluss an Ackermann (1990, S. 119) als autonome Phase. In ihr werden Fertigkeiten automatisiert, die Tätigkeiten benötigen nur noch wenig oder überhaupt keine Aufmerksamkeit, sie werden schnell und präzise. Dies bedeutet aber auch, dass das phonologische Arbeitsgedächntnis, ist diese Stufe des Lernprozesses einmal erreicht, maximal entlastet wird. Wie wir im Abschnitt 2 gesehen haben, ist aber genau die Tatsache, dass sich sprachentwicklungsgestörte Lernende mit der Automatisierung von sprachbezogenen Lerninhalten besonders schwertun, eine wichtige innere Lernbarriere. Im sprachlichen Lernprozess wird der Prozess der Automatisierung oft als Übergang in die Spontansprache bezeichnet. Therapiedidaktisch kann diese Phase im Rahmen einer evidenzbasierten Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter (Bastians, 2015, Motsch et al., 2015) der Strategiestufen der Sicherungsstrategien zugeordnet werden. Seiffert (2014) schlägt zur Förderung der Automatisierung von Fachbegriffen eine regelmäßige Anwendung des fachwortbezogenen Minimalwortschatzes im grammatischen und sachlichen Kontext mit einer Wiederholung und Weiterführung der Formate aus den vorausgegangen Phasen vor. Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
16 Heiko Seiffert Bastians (2015) führt als Arbeitsformate die Mindmap-Arbeit, Stadt-Land-Fluss mit Fachwörtern, Bingo, Drei in der Reih und Six bag pack an. 4 Minimalwortschätze Mathematik Im Internet finden sich eine Reihe von Vorschlägen für Minimalwortschätze im Fach Mathematik. Eine exemplarische Auswahl soll an dieser Stelle genügen: Mathematikunterricht/IM/Informationstexte/IM_Redemittel_erstes_ Schuljahr.pdf 5 Schluss Im Unterricht mit sprachentwicklungsgestörten Lernenden ist es außerordentlich wichtig, dass beim Erwerb, bei der Speicherung und Automatisierung neuer Fachwörter Hilfestellungen im Unterricht installiert werden. Der Beitrag hat aufgezeigt, welche Methoden innerhalb der verschiedenen Phasen des Lernprozesses unterstützend wirksam sein können. Literatur Ackermann, P. I. (1990). A corrational analysis of skill specificity: Learning, abilities, and individual differences. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 16, Bastians, E. (2015). Wer weiß was? Wow! Wortschatz! Fach-/Wortschatz Lernstrategie Training (FWLT). Ein Beispiel zur Adaption des Konzepts Wortschatzsammler für die Sekundarstufe I im Rahmen inklusiver Beschulung. Praxis Sprache, 3, Glück, C. W. (2000). Kindliche Wortfindungsstörungen. Ein Bericht des aktuellen Erkenntnisstandes zu Grundlagen, Diagnostik und Therapie (2. Aufl.). Frankfurt am Main: Lang. 284 Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
17 Lernbarrieren beim Fachwortlernen zum Beispiel Mathematik Gruber, H., Prenzel, M., & Schiefele, H. (2006). Spielräume für Veränderung durch Erziehung. In A. Krapp & B. Weidenmann (Hrsg.), Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch (5. Aufl.) (S ). Weinheim: BeltzPVU. Grzesik, J. (2002). Operative Lerntheorie. Neurobiologie und Psychologie der Entwicklung des Menschen durch Selbstveränderung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Lorenz, J. H. (2004). Mathematikverstehen und Sprachrezeptionsstörungen in den Eingangsklassen. In P. Arnoldy & B. Traub (Hrsg.), Sprachentwicklungsstörungen Früh erkennen und behandeln. XXVI. Kongress Werkstatt Sprachheilpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (S ). Karlsruhe: von Loeper. Maier, H., & Schweiger, F. (1999). Mathematik und Sprache. Zum Verstehen und Verwenden von Fachsprache im Mathematikunterricht. In H. Reichel (Hrsg.), Mathematik für Schule und Praxis. Abgerufen von Motsch, H. J., Marks, D. H., & Ulrich, T. (2015). Wortschatzsammler. Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Oesterdiekhoff, G. (2008). Kulturgeschichte der Menschheit und kognitive Entwicklung. In G. W. Oesterdiekhoff & H. Rindermann (Hrsg.), Kultur und Kognition. Die Beiträge der Psychometrie und Piaget-Psychologie zum Verständnis kultureller Unterschiede (S ). Münster: LIT Verlag. Piaget, J. (2000). Psychologie der Intelligenz. Mit einem Vorwort von Hans Aebli. Stuttgart: Klett-Cotta. Reber, K., & Schönauer-Schneider, W. (2009). Bausteine sprachheilpädagogischen Unterrichts. München: Reinhard. Rice, M. L., Buhr, J., & Marquis, J. (1994). Frequency of input effects on word comprehension of children with specific language impairment. Journal of Speech and Hearing Research, 37, Romonath, R. (2001). Schule als Sprachlernort Sprachstörungen als Lernschwierigkeiten. Die Sprachheilarbeit, 46, Rothweiler, M. (2001). Wortschatz und Störungen des lexikalischen Erwerbs bei spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kindern. Heidelberg: Winter (Edition S). Seiffert, H. (2012). Sprachassistenz im Mathematikunterricht. Praxis der Sprachförderung und Sprachtherapie, 1 (2), Seiffert, H. (2014). Spezifische Förderung im Unterricht bei Jugendlichen mit Sprachentwicklungsstörungen. In S. Ringmann & J. Siegmüller (Hrsg.), Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Bd. 5: Jugendliche und Erwachsenenalter (S ). München: Urban & Fischer. Seiffert, H. (2016): Lernbarrieren beim Fachwortlernen - zum Beispiel Mathematik. In: U. Stitzinger; S. Sallat; U. Lüdtke (Hrsg.): Sprache und Inklusion als Chance?! Expertise und Innovation für Kita, Schule und Praxis. Idstein: Schulz-Kirchner, S
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