VO Geschichte der angewandten Psychologie
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- Klaudia Michel
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1 VO Geschichte der angewandten Psychologie Martin Wieser 1
2 III. Verhören und Urteilen 2
3 1. Wie war das Wetter heute vor einer Woche in Berlin? 2. Wie lange benötigen Sie vom Eingang des Gebäudes bis zum Erreichen dieses Seminarraumes? 3
4 Measurements of the accuracy of recollection (1895) Experimentelle Überprüfung der Gedächtnisleistungen alltäglicher Ereignisse Große Varianz in der Beobachtungsgenauigkeit James McKeen Cattell ( ) 4
5 Measurements of the accuracy of It appears that in these cases there was a marked tendency to underestimate weight and to overestimate time recollection (1895).it would be of value to an individual and to those having dealings with him if he could be assigned a definite index of precision 5
6 Erinnerung und Wahrheit Erste Ansätze einer experimentellen Erforschung von Gedächtnisverzerrungen im Alltag von Cattell (1895), Bolton (1896) und Franz & Houston (1896) Juristische Relevanz schon von Cattel in Aussicht gestellt: the probable accuracy of a witness could be measured and his testimony weighted accordingly (1895, S. 756) 6
7 La suggestibilité Parallel dazu forschte Alfred Binet zur Wirkung der Suggestion bei Kleinkindern Einheit von Frage und Antwort : großer Einfluss suggestiver Fragen sowie von Gruppeneffekten I want to point out in passing the usefulness that could come from creating a practical science of testimony by studying errors of memory, the means of recognizing them, and also ways of recognizing the signs of fact (or accuracy) (Binet, 1900, S. 285) 7
8 Erinnerung und Wahrheit In den USA und Frankreich fand die psychologische Erforschung von Zeugenaussagen aber wenig Anschluss im juristischen System In Deutschland entwickelte sich hingegen ein umfangreiches, praktisch orientiertes Forschungsprogramm der Psychologie der Aussage vor dem Ersten Weltkrieg William Stern, Karl Marbe und Otto Lipmann: einflussreichste Vertreter dieser Form der angewandten Psychologie 8
9 Psychologie im Rechtssystem Großes Interesse an empirischer Reorientierung der Rechtswissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts Hans Gross, Franz von Liszt, Moritz Liepmann propagierten das Marburger Programm : Große Rückfallquote bei Kriminalität erfordert empirische Erforschung ihrer Ursachen Strafe soll als Präventionsmaßnahme zukünftiger Verbrechen dienen, nicht zur Vergeltung vergangener! 9
10 Die Psyche im Rechtssystem Interaktion von Psychiatrie und Juristik um 1900: Lombroso (1887) L uomo delinquente als Begründer der Kriminalanthropologie Gustav Aschaffenburg (1903) Das Verbrechen und seine Bekämpfung: Kriminalität als Produkt der Wechselwirkung von Umwelt und biologischer Degeneration 10
11 Der Ruf nach Wissenschaft gestehen wir es uns, dass wir die Jurispudenz nicht als Wissenschaft gelernt und behandelt haben, wir haben sie nie als Erfahrungswissenschaft angesehen. Wir brauchen als wissenschaftliche Legitimation vor allem das Hereinziehen forschender Disziplinen, die unmittelbare Verbindung mit unserer Arbeit haben Gross, Kriminalpsychologie, 1905, S. 7 11
12 die Antwort der Psychologie Erste Schritte: Stern publiziert 1902 in der von Liszt herausgegebenen Zeitschrift für die gesamte Strafwissenschaft zur Psychologie der Aussage Inwiefern *kann+ die Durchschnittsaussage des normalen einwandfreien Zeugen als eine korrekte Wiedergabe des objektiven Tatbestandes betrachtet werden? Stern 1902, S
13 die Antwort der Psychologie Zwei Fehlerquellen bei Zeugenaussagen: 1. In der Wahrnehmung 2. Durch die Erinnerung Unterscheidung objektiver (situationaler) und subjektiver (z.b. affektiver) Fehlerquellen Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und selbst der Eid ist kein Schutz gegen Erinnerungstäuschungen Stern, 1902, S
14 die Antwort der Psychologie 1903 wird Stern zum ersten Psychologen, der vor Gericht zum Prozess über einen Mißbrauchsfall geladen wird: Komparative Analyse der Aussagen eines Jungen zum Tatverlauf: Große Unterschiede weisen auf suggestive Fragen im Verlauf des Verhörs hin Prototyp für psychologische Praxis vor Gericht: Gutachten über Glaubwürdigkeit von Aussagen 14
15 die Antwort der Psychologie Psychologie der Aussage wird zum ersten großen Anwendungsfeld der forensischen Psychologie Gründung der gleichnamigen Zeitschrift 1903 William Stern, Karl Marbe und Otto Lipmann publizieren zahlreiche Arbeiten über die psychologische Begutachtung von Zeugenaussagen 15
16 Zur Psychologie der Kinderaussagen Verbindung von experimenteller Aussagepsychologie und Kindesforschung Die Aussage eines Menschen über ein Erlebnis ist nicht eine einfache Reproduktion dieses Ereignisses, sondern die eigenartige Reaktion einer bestimmten Persönlichkeit auf eine Reihe von Reizen Stern, 1908, S
17 Zur Psychologie der Kinderaussagen Aussagen von Kindern weniger glaubwürdig: Wahrheitsbewusstsein noch nicht voll ausgebildet Starke Beeinflussbarkeit (Suggestibilität) Der Weg von der Erweckung einer Vorstellung zum Glauben an ihre Realität ist beim Kinde unglaublich kurz, und die Antwort ja liegt ihm stets beträchtlich näher als nein Stern, 1908, S
18 Zur Psychologie der Kinderaussagen Sterns Forderungen für die Strafrechtsreform: 1. Spezielle Untersuchungsrichter für jugendliche Zeugen 2. Verhör nur einmalig in vertrauter, zwangloser Umgebung 3. Protokollierung des gesamten Verhörs, inklusive der Fragen 4. Einführung des psychologischen Sachverständigen zur experimentellen Überprüfung der Glaubwürdigkeit 5. Psychologische Schulung für Juristen 18
19 Psychologie der Aussage Umfangreichstes Forschungsprogramm der forensischen Psychologie vor dem 1. Weltkrieg Untersuchungen des Einflusses von zeitlichem Abstand, Aufregung, Form der Befragung, Einfluss der Suggestion und des Eides auf Zeugenaussagen Zwei Herausforderungen der jungen Disziplin: Mangelnde Lebensnähe des Labors Nachteil für Zeugen/Ankläger? Psychologen meist von Verteidigung bestellt 19
20 Interaktion Psychologie-Recht System Recht fragt nach wissenschaftlicher Legitimation: Anschluss an Anthropologie, Psychiatrie und schließlich Psychologie Psychologie antwortet mit systemimmanenten Methodeninventar: Experiment als Fundament psychologischer Expertise und Autorität Differenz USA vs. Deutschland: Allgemeine Glaubwürdigkeit der Person vs. spezifische Glaubwürdigkeit der Aussage 20
21 Müllheim, 19. Juli
22 Gutachten zum Prozess wegen des Müllheimer Eisenbahnunglücks 22
23 Gutachten zum Prozess wegen des Müllheimer Eisenbahnunglücks Anfragen des Gerichts an Marbe: Hat der Alkohol einen Ermüdungszustand hervorgerufen? Hat der Alkohol das Pflichtgefühl geschwächt? Hatten Zugführer und Heizer genug Zeit, den Zug zu stoppen? 23
24 Gutachten zum Prozess wegen des Müllheimer Eisenbahnunglücks Experimentelle Überprüfung der Reaktionszeiten durch Marbe im Labor: Sekunden! Bewusstseinslage des Zugführers zwischen Gleichgültigkeit und Pflichtbewusstsein Verteidigung: Laborversuch ist nicht valide! Reaktion Marbe: Wiederholung in vivo an der Lokomotive in Basel Resultat: Schuldspruch für Lokfahrer und Zugführer 24
25 Tatbestandsdiagnostik Wertheimer (1904), Jung (1906) und Lipmann (1908) entwickeln experimentelle Methoden zur Diagnose des Tatbestandes Frage nach der Reaktion auf Reizwörter geht auf Wundts Tradition des Assoziationsexperiments zurück: Assoziationen sind durch Vorstellungskomplexe determiniert! 25
26 26
27 Tatbestandsdiagnostik Methode der Tatbestandsdiagnostik registriert verbale Reaktionen und Reaktionszeiten auf spontane Antworten auf Reizwörter oder -bilder Unter den zufällig gewählten Wörtern finden sich auch mit dem Tatbestand verbundene Komplexreize, die mit Unlust verbunden sind Bei Vertrautheit mit Komplexreiz folgt verräterische Komplexreaktion mit verzögerter Reaktion Auch Jung bleibt skeptisch: Ich verarge es niemand, wenn er nicht auch überzeugt sein kann 27
28 Rechtspolitische Konsequenzen Sowohl Stern (1904) als auch Marbe (1913) fordern Reform der Strafrechtsordnung im Lichte der Aussagepsychologischen Ergebnisse Nicht reichsweit übernommen, aber im Laufe der 1920er Jahre in einzelnen Ländern: Preußen, Bayern, Braunschweig Hauptergebnis: Einschränkung der Zahl der Vernehmungen und Keine Vernehmung durch Polizei an Kindern tlw. auch durch Sachverständige 28
29 Zur Rechtspsychologie Zahlreiche psychologische Kurse und Vorlesungen für Juristen von Stern, Marbe und Lipmann vor dem Ersten Weltkrieg trotz Widerstand der Gerichtspsychiatrie Rückgang der Aussagepsychologie Ende der 1920er Jahre: Übergang zur Kasuistik, da Bezug der Experimentalpsychologie zur Praxis zu schwach! (Bis heute) keine eigenständige Ausbildung oder Studium für Rechtspsychologen, Gründung der Fachgruppen in BDP 1978 und DGPs
30 Literatur Jung, C. (1906). Die psychologische Diagnose des Tatbestandes. Juristisch-psychiatrische Grenzfragen, 4(3), Mülberger, A. (2009). Teaching psychology to jurists: Initiatives and reactions prior to World War 1. History of Psychology, 12(2), Sporer, S. (1982). A brief history of the psychology of testimony. Current Psychological Review, 2, Stern, W. (1904). Zur Psychologie der Kinderaussagen. Deutsche Juristen-Zeitung, 1,
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