Psychiatrische Krankheiten und Störungen. 2. Depression
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- Reinhold Böhme
- vor 6 Jahren
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1 Psychiatrische Krankheiten und Störungen 2. Depression
2 1. Depression ICD 10: - Depressive Episode: F 32 (leicht, mittelgradig, schwer, mit somatischen oder psychotischen Symptomen bzw. ohne) - Rezidivierende depressive Störungen: F33 (leicht, mittelgradig, schwer, mit somatischen oder psychotischen Symptomen bzw. ohne) - Dysthymia ("Melancholia"): F 34.1 DSM-IV (Major depression, Episode oder rezidivierend): Dysthymia: 300.4
3 2. Epidemiologie: - Heute als die häufigste psychiatrische Störung weltweit betrachtet. Prävalenz über 10%, wahrscheinlich noch höher, wenn die subklinischen, somatisierten bzw. nicht diagnostizierten Formen hinzunimmt. - Lebensprävalenz: 12-17%. Frauen leiden zweimal häufiger als Männer unter D. (?) - Latente D., versteckte D., psychosomatische D. "Smiling depression". - Begleitet viele akute und meist alle chronische Krankheiten: Krebs: bis 40% Schlaganfall: bis 35% Parkinson: bis 50% Myokardinfarkt: bis 20% Somatische Erkrankungen ausschließen! - Hohe "Co-morbidität" mit Angststörungen, Alkohol- und Drogenmißbrauch, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie
4 3. Symptome: Karl Jaspers (1913): "Tiefe Traurigkeit und Hemmung aller psychischen Funktionen". Von leicht bedrückter Stimmung bis schwerer, eingefrorener D. mit Vitalitätsverlust. Hohe Suizidrate - Verlust des "élan vital" (H. Bergson 1907), allgemein pessimistische Einstellung - Verlust von Aktivität (oder, alternativ, Überaktivität) - Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit - Chronische Müdigkeit, Erschöpfung - Gefühl innerer Leere ("innerlich tot, keine Gefühle") - "Morgentief" - Appetitverlust (oder, alternativ, übermäßiges Essen) - Schlafstörungen - Libidoverlust - Anhedonie (keine Freude, kein Lustgefühl) - Insuffizienzgefühl - Schuldgefühle (Freud) - Suizidalität
5 4. D. typen: - Agitierte D. / gehemmte D. (extreme Form: depressiver Stupor) - Psychotische D. ("Major D.") - Somatisierte D., manifestiert durch organische oder psychsomatische Symptomatik - Depression im Alter - Atypische D. (vegetative, Eß- oder Schlafprobleme, Übergewicht, Workoholics, extreme Sportler etc.) - Postpartale D. - Postschizophrene D.
6 5. Ätiologie: Genetische Faktoren: - Erhöhte famiäre Inzidenz. Zwillings- und Adoptionsstudien scheinen die Annahme eines genetischen Einflusses zu unterstützen (monozygotische Zwillinge zeigen 50% Konkordanzrate). Bestimmte Gene (TPH) scheinen involviert zu sein Biochemische Hypothese: Verminderte Neurotransmitter (Noradrenalin, Serotonin), erhöhte Aktivität der 5HT² Rezeptoren. Aktuelle Hypothese: allgemeine Balancestörung der verschiedenen Neurotransmittersysteme - Neuroendokrinologische Befunde: Regulationsstörung der Hypothalamus-Hypophyse- Nebennierencortex-Schilddrüsen-Axe. Bis zu 70% der depressiven Patienten zeigen hohe CRF- (Corticoid Releasing Factor), Kortisolund TRH (Thyrotropine-Releasing Hormone)-Spiegel
7 Immunologische Faktoren: Hohe Zytokin- und Interleukin-Aktivität, jahreszeitliche Schwankungen (Frühling und Herbst), cirkadiane Desynchronisation, gestörter Schlaf- Wach-Rhythmus Psychologische Faktoren: Life Event Theorie: signifikant höhere kritische life events (Tod von Angehörigen, Verlust der Arbeit, Alter [Film: About Schmidt, 2002, Jack Nicholson], chronische Krankheiten [Film: Ikiru, Kurosawa, 1952], Operationen, Emigration, Umzüge, Scheidung, aber auch erfolgreich beendete Abitur oder Studien, Kindergeburt etc.) Wahrscheinliche Reaktivierung früher Verlassenheits-, Krankheitsoder Mißbrauchs-Traumata Stress und Depression (Angst)
8 Kognitive Theorie: Negative Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Person, der Umgebung und der Zukunft (kognitive Trias). Spezifischer oder unspezifischer Stress aktiviert typische depressive Kognition. "Erlernte Hilflosigkeit" (Seligman 1975), giving up. Verallgemeinerung, selektive Abstraktion Depressive Persönlichkeit: "Melancholischer Typus" (Dysthymia) mit pessimistischen Ansichten, zwanghaft, überkorrekt, selbst-aufopfernd, "oraler Charakter". Romantisches Zeitalter Psychoanalytische Theorie: Freud: Trauer und Melancholie 1917, Abraham 1912: Objektverlust, unbewusste Aggression, Schuldgefühle, Ambivalenz, libidinöse Fixierung auf das eigene Ego. Scham, Einsamkeit
9 6. Verlauf und Prognose Individuell. Rezidivierend in 30 bis 90% (Major D.). Einzelne depressive Episode vs. zyklisch rezidivierende-remittierende Form Im Alter oft lang anhaltend oder chronischer Verlauf Residualsymptome (latente D.) > psychologische Tests Unipolar oder bipolar (25%). Prognose abhängig von: - Schwere und Frequenz der depressiven Episoden - Auslösendem life event - Sozialer Stabilität: Partnerschaft, Familienkreis, Gruppen. Suizidalität oft nach Abbruch familiärer Bindungen (Scheidung, Verlust von Partner) - Früherkennung und -behandlung (oft verkannt als somatische Krankheit: kardial, gastroenterologisch, Sucht etc.) - Soziale Folgen (Beruf, Schulden, Isolation) D. und Suizid: Besonders im Falle schwerer (major) D., in chronifizierten Fällen, begleitenden Störungen (Sucht) und bei Individuen mit verschlechterten sozialen Bedingungen (soziale Isolation, finanzieller Ruin)
10 7. Behandlung Pharmakologisch: Antidepressiva: - Trizyklische Antidepressiva (Amitriptilin) - Tetrazyklische Antidepressiva (Mirtazapin) - Serotonin (5-HT) Re-Uptake Hemmer (SSRI: Citalopram, Fluoxetin) - Noradrenaline Re-Uptake Hemmer (NRSI: Reboxetin) - Monoaminoxydase-Hemmer (MAO) - Stimmungs-Prophylaktika (Lithium, Valproat) Die Wirkung entfaltet sich erst nach ca. 2 Wochen Kombinierte pharmakologische und psychotherapeutische Behandlung oft Therapie der Wahl in schweren oder mittelschweren Verläufen. Leichte D. kann auch ohne Antidepressiva behandelt werden Wahl der optimalen Substanzen oder Substanzkombinationen ist eine komplexe Angelegenheit, die erfahrenen Psychiatern anvertraut werden soll Risiken: agitierte D., verwaschenes klinisches Bild mit Suizidalität (einschätzen!). Nebenwirkungen: Sedierung, Tremor, gastrointestinale, kardiale, orthostatische Symptome, Übergewicht, Libidoverlust, manische Symptomatik Elektrokonvulsive Therapie nur in Ausnahmefällen bzw. beim Versagen anderer Behandlungen
11 Verhaltenstherapeutisch: Unterbrechen des Teufelskreises zwischen depressivem Verhalten und Belohnung (durch die Familie) (Gesellschaft). Erkennen und Korrigieren der dysfunktionalen Denkmuster. Realitätsprüfung, Protokollieren negativer Gedanken. Soziales Lernen. Psychoanalytische / psychodynamische Therapie: Durcharbeiten der Kindheitskonflikte, v.a. Verlassenheitserfahrungen, in der Übertragungs-Gegenübertragungssituation mit dem Therapeuten. Arbeit an Angst, Scham, Neid, Aggression, Schuldgefühlen, Trennungstraumata. Aufbau positiver Beziehungen, Ausdruck von Aggression, Selbstwert. Arbeit mit Träumen. Arbeit mit Ressourcen
12 Gruppentherapie: Sehr effizient, da multiple und differenzierte Übertragungssituationen, gegenseitiges Verständnis, gemeinsame Erfahrungen, Möglichkeiten des Ausdrucks der Aggression, Koalitionen bzw. Identifikationen. Heterogene Gruppen bevorzugt Expressive Therapien: Kunsttherapie, Musik- und Tanztherapie, Theatertherapie sind sehr wirksam, da sie andere, nonverbale Kommunikationskanäle benutzen. Immer kombiniert und integriert mit verbaler Therapie (individuell oder Gruppe). Körperpsychotherapien: Reittherapie, Tanztherapie, Feldenkrais, progressive Muskelrelaxation, Sport, sind wesentliche Teile einer rationalen antidepressiven Behandlung. Über 15 verschiedene Schulen. In Europa Organisationen erst seit 1987, in Deutschland seit Stationäre Behandlung: Notwendig, wenn D. schwerwiegend oder bedrohlich (Suizidalität). Auch Zwangseinweisung möglich. Intensiv und wirksam durch die kombinierten,verbalen, nonverbalen und körperlichen Therapiemethoden. Milieutherapie mit Projektarbeit ermöglicht vielfältige Kontakte, Zugehörigkeitsgefühle, Solidarität. Höhere antisuizidale Sicherheit
13 8. Fallgeschichte Diskussion Literatur: Feigner JP & Boyer WF (1991): Diagnosis of Depression. Chichester: Wiley Freud, S. (1916): Trauer und Melancholie. GW X, Honig A & Van Praag HM (Ed.) (1997): Depression. Neurobiological, Psychopathological and Therapeutic Advances. Chichester: Wiley Kaplan & Sadock's Synopsis of Psychiatry (2003) (KSSP). Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins, Möller, H.-J.; Laux, G.; Kapfhammer, H.-P. (Hrsg.) (2011): Psychiatrie und Psychotherapie, 4. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer
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