Deutscher Apothekertag 2008 Arbeitskreis 1 Arzneimittelversorgung: Herausforderungen infolge der Bevölkerungsentwicklung am 19. September 2008 ICM München Dr. med. Max Kaplan Vizepräsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) Es gilt das gesprochene Wort!
I. Einleitung Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie persönlich und im Namen der Bayerischen Landesärztekammer ganz herzlich zum Deutschen Apothekertag in München. Ich möchte in meinem Kurzstatement auf die Problematik der Arzneimittelversorgung infolge der Bevölkerungsentwicklung aus der Sicht des niedergelassenen Arztes eingehen. Die Stichworte lauten also demographische Entwicklung, die damit einhergehende zu erwartende Zunahme bestimmter Krankheitsbilder und dem damit verbundenen erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf, insbesondere der Arzneimittelversorgung mit all ihren Herausforderungen. II. Demographische Entwicklung und gesellschaftspolitische Veränderungen Anrede Die Altersstruktur in Deutschland gleicht nicht mehr so richtig einer klassischen Pyramidenform. Vielmehr handelt es sich mittlerweile um ein zwiebelähnliches Gebilde. Durch die geburtenstarken Jahrgänge (von 1960 bis 1966) steigt bis 2020 besonders der Anteil der über-60-jährigen stark an. Deutschland und Bayern altern und darauf muss man sich einstellen. Und das ist eine Größe auch für die ärztlichen Konsultationen. Demographische Entwicklung: Über 60jährige von 20,5 auf 28,4 Mio. = + 37 % (2030) Über 80jährige von 3,6 auf 6,3 Mio. = + 73 % (2030) Durchschnittliche Lebenserwartung: Männer von 76,9 auf 81 Jahre (2030) Frauen von 81,3 auf 87 Jahre (2030) Seite 2 von 7
Auch gesellschaftliche Veränderungen haben einen Einfluss auf den medizinischen Versorgungsbedarf: Zunahme von Single-Haushalten (1/3 der über 60jährigen) in dünn besiedelten und wirtschaftsschwachen Gebieten Steigender Anteil der verbleibenden älteren Bevölkerung Demographische und gesellschaftspolitische Veränderungen sowie die weitere Morbiditätsentwicklung werden im Jahr 2020 zu einer mindestens 20 % erhöhten Anforderung an die Primärversorgung führen III. Zur Morbiditätsentwicklung Mit welchen Krankheiten werden wir es zunehmend zu tun haben? 1. Ein gutes Beispiel für den gestiegenen ärztlichen Behandlungsbedarf im fortgeschrittenen Alter ist die Behandlung und Betreuung von Demenzkranken. Hier kann man jetzt schon von einer Unterversorgung sprechen. Dabei steht uns die eigentliche Herausforderung erst noch bevor, wenn die Experten recht behalten, die einen rasanten Anstieg in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten prognostizieren. Von den 75- bis 78-Jährigen sind circa zwölf Prozent, von den 80- bis 90- Jährigen ein Viertel und von den über 90-Jährigen schon die Hälfte von Demenzen betroffen. Bei einer moderaten Steigerung der Lebenserwartung ist bis zum Jahr 2040 mit einer Erhöhung um etwa 120 Prozent beziehungsweise mit einer Gesamtzahl von 2,2 Millionen Fällen von Demenz zu rechnen. Sollte es einen Durchbruch in der Behandlung von Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen geben, könnte diese Zahl sogar bis auf drei Millionen anwachsen. 2. Weitere Beispiele sind psychische Erkrankungen: vor allem die Zunahme bei Jüngeren. Aus dem DAK Gesundheitsreport geht hervor, dass auch gerade psychische Erkrankungen (Depressionen, Verhal- Seite 3 von 7
tensstörungen) auf dem Vormarsch sind. Der Arbeitsausfall aufgrund von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen erhöhte sich bei den Versicherten der DAK z. B. zwischen 1997 und 2001 um 51 Prozent. 3. Auch bösartige Neubildungen zeigen eine zunehmende Tendenz. z. B. der schwarze Hautkrebs (malignes Melanom) nimmt jährlich fast um 10 %, der weiße Haukrebs (Basalzell- und Stachelzellkarzinom) um 15 % zu. 4. Aufgrund der demographischen Entwicklung kommt es insbesondere zu einer Zunahme der degenerativen Erkrankungen (Gelenke, Wirbelsäule, etc.) und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus (heute 8 Mill. Patienten). 5. Ungefähr die Hälfte aller ambulant und stationär behandelten Patienten in der Bundesrepublik leidet heute schon an einer chronischen Krankheit, bis 2020 werden diese um ca. 40 % zunehmen. Chronisch Kranke sind die größte Herausforderung für das Gesundheitswesen. Chronische Krankheiten verursachen einen erheblichen Teil der direkten und in einem noch höheren Maße indirekten Krankheitskosten, z. B. durch Produktionsausfälle, Lohnersatzleistungen oder vorgezogene Rentenzahlungen Studien belegen, dass 16 % der Betroffenen mehr als eine chronische Erkrankung aufweisen (Multimorbidität). Die Aufwendungen betragen ca. 3/4 der gesamten Gesundheitsausgaben. Auf chronisch Kranke entfallen: - 80 % der Krankenhaustage, - 69 % der Krankenhausfälle, - 66 % der ambulanten Arztkontakte, - 83 % der Arzneimittelverschreibungen, - 96 % der Hauspflegebesuche. Seite 4 von 7
Und: Die Angehörigen unterer sozialer Schichten sind deutlich häufiger und früher von Multimorbidität betroffen als Personen mit höherem sozioökonomischem Status. Anrede Wenn die Menschen älter werden, dann steigt das Risiko der Multimorbidität und damit nimmt auch die Polypharmazie zu, d. h. die Arzneimittelkosten werden steigen und die niedergelassenen Ärzte sollen weiterhin mit ihrem Honorar für die verordneten Medikamente haften, teilweise bis zur Existenzbedrohung. IV. Polypharmazie, wie viel Verantwortlichkeit kann der einzelne Vertragsarzt noch übernehmen? Die Regelungsdichte im Bereich der Arzneimittel-Verordnung ist mittlerweile so hoch, dass ganze 16 (!) Instrumente gleichzeitig am Preis eines Arzneimittels angreifen. Durch viele Gesetze in immer kürzeren Abständen, angefangen beim Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz von 2002 bis hin zum Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) 2007, wurde die Ausgabenverantwortung auf immer mehr Akteure verteilt. Gleichzeitig schwand der Einfluss der Ärzte, sodass sie heute längst nicht mehr die Ausgaben auf dem Arzneimittelmarkt beeinflussen. Welche Steuerungselemente beeinflussen die Preisgestaltung? Wir unterscheiden zentrale, kollektivvertragliche Instrumente (zum Beispiel Festbeträge, Bonus-Malus-Regelung, Richtgröße, Wirtschaftlichkeitsprüfungen) und dezentrale, einzelvertragliche (Rabattverträge oder krankenkassenspezifische Positivlisten). Seite 5 von 7
Das Problem für die Ärztinnen und Ärzte ist, dass sie Rabattverträge, Festbetrags- und Aut-Idem-Regelung in ihren Aus- und Wechselwirkungen nicht überschauen können. Die Krankenkasse bezahlt das Präparat des Herstellers, mit dem sie Verträge abgeschlossen hat. (Stichworte: Belastung der Patienten- Arztbeziehung, Teilbarkeit) Bereits jetzt ist jedes dritte in der Apotheke abgegebene Arzneimittel ein Rabattarzneimittel nach 130 a Absatz 8 SGB V. Der Markt der festbetragsgeregelten Arzneimittel (47 Prozent des Gesamtmarkts) entzieht sich fast vollständig der Kontrolle der Vertragsärzte, wenn es darum geht, Verordnungen und Ausgaben zu steuern. Der Verordnungsprozess mutiert zu einer Blackbox. Deshalb fordern wir eine Teilung der Zuständigkeiten: Krankenkassen und Industrie müssen die Preisverantwortung und damit das Kostenmanagement vollständig übernehmen. Die Ärzte hingegen bleiben zuständig für das Versorgungsmanagement, das heißt die Indikationsstellung sowie Auswahl und Menge des Wirkstoffs. Hierbei befürworte ich einen verstärkten Meinungsaustausch der Ärzte untereinander, vor allem bei hochpreisigen Medikamenten aber auch zwischen Ärzten und Apothekern. Wenn die Ärztinnen und Ärzte sich wieder auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können und mit der Auswahl von Wirkstoffen verantwortungsbewusst umgehen, wird das letztlich zu mehr Therapiesicherheit und weniger impliziter Rationierung führen. Dazu gehört es auch, den Patienten besser in die Therapieverantwortung einzubinden. (Zuzahlungsbefreiungen als Marketinginstrument der Krankenkassen eher kontraproduktiv). Das alles würde es auch dem Vertragsarzt ermöglichen, sich (wieder) mehr auf seine eigentliche Arbeit, die Behandlung seiner Patienten, zu konzentrieren. Damit wäre ein wichtiger Schritt getan, in Richtung mehr Attraktivität für den Arztberuf. Seite 6 von 7
Die Herausforderungen in der Arzneimittelversorgung sind nur zu schultern, wenn Industrie, Krankenkassen, Apotheker, Ärzte und insbesondere unsere Patientinnen und Patienten hierfür gemeinsam Verantwortung übernehmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf eine interessante Diskussion. Seite 7 von 7