ZUR PROBLEMATIK DER FORM IN JOHANNES BRAHMS KLAVIERQUINTETT OP. 34 F-MOLL

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Diese Analysen sollen als Anregungen zum eigenen Weiterdenken dienen.

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Transkript:

ZUR PROBLEMATIK DER FORM IN JOHANNES BRAHMS KLAVIERQUINTETT OP. 34 F-MOLL Von Stephan Maulbetsch Für Tina, Moritz und Marie sowie den 4-stündigen Musikkurs des Abiturjahrgangs 2017 ENTSTANDEN IM DEZEMBER 2017

Inhalt Einleitung... 3 I Musikalische Grundprinzipien... 6 I.1 Satz und Periode... 6 I. 2 Achttaktiger Satz und Barform... 10 I. 3 Satz und Periode am Beispiel des Popsongs Rhythm oft he Rain... 12 II Die Behandlung des achttaktigen Satzes im Klavierquintett... 14 II. 1 Das Devisenthema des Klavierquintetts... 14 II. 2 Achttaktiger Satz und Periode im 2. Satz... 17 II.3 Achttaktiger Satz und Fuge... 20 II. 4 Der achttaktige Satz in der langsamen Einleitung des vierten Satzes... 24 II. 5 Zusammenfassung... 26 III Sonatenhauptsatzform und achttaktiger Satz... 27 III. 1 Die Sonatenhauptsatzform im 18. Jahrhundert... 27 III. 2 Sonatenhauptsatzform im Klavierquintett - Begriffsklärung... 30 III. 3 Sonatenhauptsatzform im ersten und zweiten Satz des Klavierquintetts... 31 III. 4 Sonatenhauptsatzform im dritten Satz hybride Formteile... 35 III. 5 Sonatenhauptsatzform im vierten Satz... 40 III. 6 Zusammenfassung... 44 Literaturverzeichnis... 46 Anhang 1: Formale Übersicht Satz 1... 49 Exposition:... 49 Durchführung... 51 Reprise... 52 Anhang 2: Formale Übersicht Satz 2... 53 Exposition und Durchführung... 53 Reprise... 54 Anlage 3: Formale Übersicht Satz 3... 55 1

Exposition und Reprise:... 55 Durchführung... 57 Anhang 4: Formale Übersicht Satz 4... 58 Aufbau der langsamen Einleitung:... 58 Exposition:... 59 Durchführung und Reprise... 61 Coda... 62 2

Einleitung Die vorliegende Formanalyse ist im Laufe mehrerer Jahre entstanden, in denen Brahms Klavierquintett f-moll op. 34 Schwerpunktthema des vierstündigen Neigungskurses Musik der Kursstufe am Gymnasium in Baden-Württemberg war und noch immer ist. Aus dem Versuch, Brahms hochkomplexes und umfangreiches Werk didaktisch so aufzubereiten, dass es für Schülerinnen und Schüler, die bis zur Klasse 10 nur wenig Berührung mit detaillierter Analyse sowie der klassischen Formenlehre und ihrer Entwicklung hatten, verständlich wird und einen Erkenntnisgewinn bereithält, entstand schon bald der Eindruck, das ausgesuchte Schwerpunktthema sei zu schwierig für den Unterricht und die dafür bereitgestellte Literatur zu gering. Die vorhandenen Werkbeschreibungen sind oft äußerst knapp, berücksichtigen nur einzelne Sätze des Zyklus, erscheinen häufig als additive Aneinanderreihung von Themen und Formteilen, ohne deren Auftreten und Funktion für den Gesamtkontext zu klären, oder sehen in den einzelnen Sätzen eine Überlagerung verschiedener Formmodelle, deren Beziehung zueinander im Dunkeln bleibt. (Diese Umstände mögen auch ein Beleg für die Komplexität des Werkes sein.) Die meisten Analysten bedienen sich der Sonatenhauptsatzform als eines möglichen Analyseinstruments für die Form der vier Sätze. Dabei schenken sie, wie es der pragmatischen Sonatenhauptsatzform entspricht, die historische Entwicklung der Formenlehre aber letztlich auf den Kopf stellt, der Betrachtung motivisch-thematischer Beziehungen vor der Untersuchung harmonischer Entwicklungen stärkeres Gewicht. Fred Ritzel erkennt das Postulat des Themendualismus als eines der störendsten Kriterien der modernen pragmatischen Sonatendefinition, das zu einer zwanghaften Suche nach einem zweiten Thema führt, das einerseits den Anforderungen eines Kontrasts zum ersten Thema genügen und dabei gleichzeitig gesanglich sein soll. 1 Vollends schwierig wird es, wenn die Anzahl der festgestellten Themen über zwei hinausgeht, da deren Beziehung und Wertigkeit untereinander durch das Modell nicht geregelt ist. So ergeben sich in Frank Kleinheins umfassender und detailreicher Analyse als Folge der Fokussierung motivisch-thematischer Gebilde allein für den ersten Satz vier (Haupt-)Themen und ein Nebenthema sowie zahlreiche formal eigenständige Variationen derselben. 2 Die Musikanschauung der Wiener Klassik fordert dagegen in den Tonstücken von größerem Umfang die Einheit der dargestellten Empfindungen, die durch eine Ordnung der Nebensätze unter einen musikalischen Hauptgedanken entsteht: 1 F. Ritzel, Die Entwicklung der Sonatenform, Wiesbaden 1974, S. 102. 2 F. Kleinheins, Handreichung zum Schwerpunktthema Johannes Brahms Klavierquintett f-moll op. 34, Stuttgart 2012, Teil 1, S. 12 f. 3

Unter den verschiedenen Absätzen eine [sic] Melodie enthält gemeiniglich der erste derselben den Hauptgedanken, das ist denjenigen, der gleichsam die Empfindungen bestimmt, welche das Ganze erwecken soll, und dieser wird das Thema oder der Hauptsatz genennet, die übrigen Absätze aber, die gleichsam die verschiedenen Aeusserungen dieser Empfindung darstellen, kann man billig, weil sie in der Ausführung auf verschiedene Art zergliedert werden, Zergliederungssätze nennen. 3 Den Zergliederungssätzen kommt die Aufgabe zu, die einmal durch den Hauptsatz, das Thema, erweckte Empfindung zu unterhalten und ihr durch mannigfaltige Wendungen und Perspektivwechsel neue Nahrung zu geben. Sie müssen dabei immer aufs engste mit den Hauptgedanken verbunden sein und gegebenenfalls zu ihm zurückführen: Allein bey der Darstellung dieser Mannigfaltigkeit, oder bey dem Verfahren, wodurch die Haupttheile durch verschiedene erklärende und verbindende Nebentheile verschiedene Wendungen bekommen, ist Behutsamkeit, vorzüglich aber ein feiner Geschmack nötig, damit man keinen Gedanken als Nebengedanken mit den Haupttheilen des Ganzen verbindet, welcher unter den vorhandenen Umständen nicht schicklich damit verbunden werden kann. [ ] Durch einen fortgesetzten Hauptgedanken kann eigentlich nur ein Nebengedanke entstehen; oder dieser Nebengedanke muss immer so beschaffen seyn, daß er uns wieder zur Hauptvorstellung leitet. 4 Brahms gilt spätestens mit der Unterzeichnung einer öffentlichen Erklärung, die sich gegen die Vertreter der Neudeutschen Schule und ihre Kompositionen wandte, als Traditionalist. In seinem Aufsatz Brahms und die Tradition der Kammermusik reflektiert Carl Dahlhaus diese Sichtweise auf den Komponisten kritisch. 5 An anderer Stelle räumt er jedoch ein: Von Tradition war nach 1800, anders als seit 1900, selten die Rede; als musikalische Revolution, zu deren Abwehr eine Berufung auf das alte Wahre, also die Herausbildung eines emphatischen Traditionsbegriffs erforderlich gewesen wäre, ist offenbar der Übergang zur Romantik nicht empfunden worden. Ein Bruch in den tragenden Prinzipien des musikalischen Satzes, wie er sich um 1730 ereignete, ist weder um 1815 noch um 1830 fühlbar [ ] Im 3 H. C. Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, Teil 2, Leipzig 1787, S. 347 f. Kochs dreibändiges Werk wird im Folgenden als Versuch 1, 2 und 3 zitiert. 4 Ebda., S. 100f. 5 C. Dahlhaus, Brahms und die Tradition der Kammermusik, in: Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1996, S. 210-217. 4

Bewußtsein der Nachgeborenen ist, anders als um 1730, die Kontinuität zwischen Klassik und Romantik nicht abgerissen 6 Unabhängig davon, ob Brahms nun als Traditionalist oder als Neuerer zu bewerten ist, vollzieht sich im Wandel der Epochen von der Wiener Klassik zur Romantik kein Schnitt, der es rechtfertigt, die musiktheoretischen Grundlagen des ausgehenden 18. Jahrhunderts über Bord zu werfen. Dies gilt umso mehr, als die Musiktheoretiker des frühen 19. Jahrhunderts in ihren musikalisch-technischen Ausführungen nicht einmal den Stand der Entwicklung um 1780 erreichen. 7 Noch Heinrich Birnbach geht in seinem 1827 in der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschienenen Artikel Über die verschiedene Form größerer Instrumentalstücke aller Art und deren Bearbeitung wie zuvor Heinrich Christoph Koch im späten 18. Jahrhundert von einer Hauptform größerer Tonstücke aus und lässt sich bei seinen Ausführungen von den harmonischen Gegebenheiten innerhalb einer Komposition leiten. 8 Es liegt daher nahe, Brahms Musik an den formalen und satztechnischen Kriterien zu messen, die zu seiner Zeit als klassisch und traditionsgebunden gelten konnten. Die vorliegende Arbeit verfolgt diesen Ansatz. Dabei bestätigt sich, was Carl Dahlhaus als doppelte Determinierung der musikalischen Struktur bezeichnet: Brahms versucht zu einem Ausgleich zwischen architektonischer und logischer Form zu kommen. 9 Erstere beruht nach Dahlhaus auf dem Gleichgewicht zwischen Phrasen, Perioden und Periodengruppen, d. h. auf dem Prinzip, daß in wachsenden Größenordnungen einem metrisch Ersten ein metrisch Zweites entspricht, letztere besteht in Motivbeziehungen, die einen Satz von innen her zusammenhalten, oder einem thematischen Prozeß, der eine zunächst unscheinbare melodische Substanz durch die Konsequenzen, die aus ihr gezogen werden, allmählich immer reicher erscheinen läßt. 10 In Kapitel II Die Behandlung des achttaktigen Satzes im Klavierquintett wird sich zeigen, dass diese Grundsubstanz für die Entwicklung der logischen Form nicht zwangsläufig nur melodischer Art sein muss, sondern beides, auch architektonische Elemente beinhalten kann, die im Laufe des Stückes entwickelt werden. Dies geschieht, wie in Kapitel III Sonatenhauptsatzform und achttaktiger Satz beschrieben, hauptsächlich durch das Mittel der 6 C. Dahlhaus, Tradition und Restauration, in: Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1996, S. 21 f. 7 F. Ritzel, Die Entwicklung der Sonatenform, Wiesbaden 1974, S. 196. 8 Ebda., S. 213 ff sowie Stephan Maulbetsch, Heinrich Christoph Kochs Form- und Gattungsbeschreibungen vor dem Hintergrund seiner konkreten Werk- und Repertoirekenntnisse, mschr. Wissenschaftl. Arbeit zum Erlangen des Staatsexamens, Staatliche Hochschule für Musik Trossingen im Februar 2001, S. 61. 9 C. Dahlhaus, Brahms und die Tradition der Kammermusik, in: Die Musik des 19. Jahrhunderts, Laaber 1996, S. 213. 10 Ebda., S. 212. 5

Potenzierung, also durch Vergrößerung eines musikalischen Bausteins bzw. durch dessen Übertragung auf größere Einheiten. Die in dieser Arbeit vorhandenen Analysen folgen mit der Konzentration auf die historischen Voraussetzungen der Formenlehre im frühen 19. Jahrhundert einem eigenständigen Denkansatz, der sich grundlegend von den bisherigen Werkbetrachtungen unterscheidet. Deshalb finden sich in diesen Teilen nur wenige Querverweise auf ältere Literatur. I Musikalische Grundprinzipien I.1 Satz und Periode Die Form der einzelnen Sätze des Klavierquintetts entwickelt sich der vorliegenden Analyse zufolge aus einer musikalischen Keimzelle heraus, die bereits das sogenannte Devisenthema durchdringt. Dieser Baustein wird in der musiktheoretischen Literatur gemeinhin als Satz bezeichnet. In seiner geläufigsten Form handelt es sich dabei um einen in sich geschlossenen achttaktigen Verlauf, der anders als die achttaktige Periode keine zur Mitte quasi-symmetrische Bogenform aufweist, sondern in zwei Zweitakter und einen Viertakter zerfällt. Wolfgang Budday stellt in seinem Buch Grundlagen musikalischer Formen der Wiener Klassik drei für das 18. Jahrhundert wesentliche Formen des Satzes fest, die er der Kompositionslehre Joseph Riepels ableitet: 1.) Einem wörtlich oder variiert wiederholten Zweitakter folgt ein viertaktiger Satz, 2.) der dem ersten folgende Zweitakter wird transponiert, worauf ein ungeteilter Viertakter folgt, 3.) der erste Zweitakter wird auf eine anderen Tonstufe versetzt aber leitereigen wiederholt und von einem Viertakter gefolgt. 11 Während Budday lediglich formale Strukturen im Blick behält, gehen Winfried Fischer und Erwin Ratz auch auf die funktionalen Unterschiede zwischen achttaktigem Satz und achttaktiger Periode ein. Ratz unterscheidet zwei grundlegende Gestaltungsprinzipien der klassischen Instrumentalformen: fester Gefügtes wie zum Beispiel Hauptgedanken (von Sonatensätzen) und locker Gefügtes wie Seitensatz, Überleitung, Rückführung und Durchführung. Den achttaktigen Satz und die achttaktige Periode ordnet er beide den fester gefügten Verläufen zu. 12 Wilhelm Fischer hingegen grenzt Satz und Periode sehr viel deutlicher gegeneinander ab. Die achttaktige Periode geht in einem Verlauf auf, den Fischer als Liedtypus bezeichnet, der achttaktige Satz steht demgegenüber unter dem Oberbegriff Fortspinnungstypus. 13 Über den Liedtypus schreibt er: 11 W. Budday: Grundlagen musikalischer Formen der Wiener Klassik, Kassel 1983, S. 49 ff. 12 E. Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 22. 13 W. Fischer: Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils, in: Studien zur Musikwissenschaft 3, Leipzig 1915, S. 25 ff. 6

Der Liedtypus entstammt den Tanz- und Liedweisen des Volkes. An der Hand der Beispiele in Böhmens Geschichte des Tanzes läßt er sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Auch die stilisierte, kunstvolle Suitenkomposition hat sich in allen ihren Epochen seiner bedient. [ ] Um 1680 gehört er geradezu zu den Hauptcharakterisika der französischen Tanzmusik und kein Suitensatz in stile francese kann seiner entraten. Besondere Bedeutung war dem auf der Tonika schließenden Grundtypus 3 [ ] bestimmt; er wurde zur stehenden Norm für den Bau des Rondoritornells, das ja ursprünglich immer ein Tanzsatz war (Menuet en Rondeau, Gavotte en Rondeau usw.). 14 Fischers Grundtypus 3 entspricht der achttaktigen Periode mit jeweils viertaktigem Vorder- und Nachsatz sowie einem Halbschluss in der Mitte und einem Ganzschluss am Ende, die beide in der Grundtonart stehen. Der klare, in sich geschlossene Bau dieses Typus legt eine Verwendung in den von Fischer genannten, auf rhythmische und melodische Wiedererkennbarkeit angelegten Gattungen nahe. Der Fortspinnnungstypus ist dagegen deutlich offener, lockerer angelegt, was vor allem der Gestaltung der zweiten Hälfte, dem Nachsatz, geschuldet ist: Die zweite wichtige Strukturform erster Teile von Tanzsätzen ist der Fortspinnungstypus : auf einen Vordersatz mit Ganz- oder Halbschluss folgt eine motivisch verwandte oder fremde modulierende Fortspinnung, aus einer oder mehreren aneinander gereihten Sequenzen bestehend; manchmal schließt eine dritte Gruppe als Schlußsatz oder Epilog das Ganze ab. 15 Wie am Beginne unserer melodietechnischen Untersuchungen erwähnt, beherrscht der Fortspinnungstypus die Melodik der größeren Formen. 16 Den auf Entwicklung angelegten Charakter des achttaktigen Satzes räumt auch Erwin Ratz in seiner Definition ein: Der achttaktige Satz, (2 x 2) + 4, besteht aus einem Zweitakter, seiner Wiederholung und einer viertaktigen Entwicklung, deren Wesen darin besteht, daß ein Teil der im Zweitakter exponierten Motive fallen gelassen und so eine Verdichtung und Beschleunigung der 14 W. Fischer: Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils, in: Studien zur Musikwissenschaft 3, Leipzig 1915, S. 29. 15 Ebda., S. 29. 16 Ebda., S. 31. 7

musikalischen Darstellung erzielt wird. In der Regel findet im Entwicklungsteil auch eine Beschleunigung in der harmonischen Disposition statt. 17 Der achttaktige Satz zielt damit viel mehr auf Weiterführung auf Überleitung, Rückführung, Durchführung 18 als die in sich geschlossenere achttaktige Periode. Dies gilt umso mehr als die achttaktige Periode und auch die meisten anderen Varianten des Liedtypus, die Fischer nennt, mit einem Ganzschluss enden, was im achttaktigen Satz der seltenere Fall ist: Als Satz bzw. Satzgefüge wird (im Unterschied zur Periode) ein zweiteiliger Abschnitt bezeichnet, der aus der Rhetorik in die Musik übernommen meist aus vier, acht oder sechzehn Takten besteht und das Nachfolgemodell des barocken Fortspinnungstypus ist. Der Vordersatz hat öffnenden Charakter und besteht meist aus 2 + 2 Takten. Er korrespondiert mit dem Nachsatz, der das Material weiterentwickelt. D.h. es wird verdichtend fortgeführt, öffnet sich weiter und endet meist halbschlüssig auf der Dominante. Eine Wiederholung des Anfangsmaterials im Nachsatz fehlt. Während bei der Periode die Rundungen der Taktgruppen das prägende Modell der Formung darstellen, sind es beim musikalischen Satz die Strebungen. 19 Ratz bezeichnet die Achttaktigkeit als den Normalfall, weist aber auf die Möglichkeit der Vervielfachung hin, ohne dies jedoch genauer auszuführen. Neben Taktgruppen, die auf der Grundzahl 2 beruhen, erwähnt er auch die Möglichkeit, zwölftaktige Perioden und Sätze zu bilden, die auf Dreitaktern aufbauen. Ferner nennt er die Existenz unregelmäßiger Bildungen, die durch Dehnungen und Verkürzungen zustande kämen. 20 Umfänge von weniger als acht Takten sieht er hingegen wohl deshalb nicht vor, weil eine bloße Teilung der Verhältnisse im achttaktigen Satz bzw. in der achttaktigen Periode zu ein- und zweitaktigen Gebilden führen würde, denen traditionell keine Eigenständigkeit zugestanden wird. 21 Dabei stellt gerade der Nachsatz des achttaktigen Satzes häufig einen Satz im Kleinen dar. Ratz ist sich wie viele andere Musikwissenschaftler und -theoretiker des Prinzips der Verkleinerung im Nachsatz sehr wohl bewusst, wenn er das Hauptthema der f-moll Sonate Op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven analysiert und dabei in kleinste Einheiten zerlegt (Notenbeispiel 1). Grundlage seiner Untersuchung ist der harmonische Verlauf dieses Abschnitts, den er als ein Immer- 17 E. Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 22. 18 Ebda., S.22. 19 R. Amon, Lexikon der musikalischen Form, Wien 2011, S. 323. 20 E. Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 22. 21 4, 8, 16 und wohl auch 32 Täcte sind diejenigen, welche unserer Natur dergestalt eingepflanzet, daß es uns schwer scheinet, eine andere Ordnung (mit Vergnügen) anzuhören. Joseph Riepel: Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst, Augsburg 1752, zitiert nach: W. Budday: Grundlagen musikalischer Formen der Wiener Klassik, Kassel 1983, S. 47. 8

kleiner-werden der Einheiten beschreibt, wodurch eine dramatische Steigerung gegeben sei. 22 Seine Ergebnisse hält er in Form einer tabellarischen Übersicht fest: 23 Notenbeispiel 1 24 Ratz Methode bezieht sich (freilich ohne ausdrückliche Erwähnung) auf die von Arnold Schönberg in seiner Definition des achttaktigen Satzes angesprochenen Kompositionstechniken der Kondensierung, Liquidierung und Verminderung, die Schönberg neben Wachstum, Vermehrung, Erweiterung und Ausdehnung ausdrücklich zu den Mitteln musikalischer Entwicklung zählt. 25 Indem er sein Hauptaugenmerk auf die Harmonik legt, verstellt Ratz aber den Blick für den melodischen Verlauf, der sowohl im Vorder- als auch im Nachsatz deutlich durch Pausen gegliedert ist und die zweite Hälfte des Satzes in drei Abschnitte im Umfang von 1 + 1 + 2 Takte (oder (2 x 1) +2) unterteilt, was gerade den halben Proportionen des achttaktigen Satzes (2 + 2 + 4 oder (2 x 2) +4) entspricht. Der sich an die ersten beiden Takte und ihre (variierte) Wiederholung anschließende Viertakter ist also nicht zwingend ein ungeteilter Vierer 26 er ist es auch bei Ratz und Schönberg nicht sondern kann dieselbe Struktur aufweisen wie der gesamte achttaktige Satz. 27 Durch die Verschachtelung ein und derselben Struktur im Nachsatz erfährt der ganze Satz eine Beschleunigung, Verdichtung und Entwicklung, die auf dem Prinzip der Verkleinerung beruht. Sie ist aber anders als bei Ratz und Schönberg nicht das Ergebnis einer Verkleinerung im Sinne einer Auflösung. Sie entsteht 22 Ebda., S. 23. 23 Ebda., S. 23. 24 E. Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 23. 25 A. Schönberg, Grundlagen der musikalischen Komposition (1967), deutsche Ausgabe Wien 1979, S. 31. 26 W. Budday: Grundlagen musikalischer Formen der Wiener Klassik, Kassel 1983, S. 49 ff. 27 Clemens Kühn weist in seinem Buch Formenlehre in Zusammenhang mit einer Analyse des Themas aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate g-moll op. 49, 1, 1. Satz auf die Möglichkeit eines verkleinerten Satzes als Nachsatz hin. C. Kühn: Formenlehre, Kassel 2007, S. 59 f. 9

vergleichbar einer Kristallstruktur durch Wiederholung des gleichen Bausteins in einer kleineren Maßeinheit. Clemens Kühn verwendet in seiner Formenlehre für diese Kompositionstechnik den Begriff Potenzierung, meint aber damit hauptsächlich die Übertragung einer musikalischen Struktur im Kleinen auf einen größeren Formabschnitt. 28 Die Verkleinerung jedenfalls erhält durch ihre strukturelle Identität zum gesamten Satz eine höherwertige Qualität als ein bloßer Nachsatz, der etwas Angefangenes zu Ende bringt oder fortführt. Sie wird in gewisser Weise selbst formgebend und gewinnt an Eigenständigkeit. Deshalb ist für die Komponistengenerationen nach der Wiener Klassik eine Verwendung dieses viertaktigen Satzes als unabhängiger, tragender Formteil in Betracht zu ziehen. I. 2 Achttaktiger Satz und Barform Die Barform ist wie der achttaktige Satz ein dreiteiliges, asymmetrisches Gebilde. Sie besteht aus einem Stollen, einem zweiten, metrisch und melodisch gleich gebauten Gegenstollen, die zusammen den Aufgesang bilden, und einem Abgesang, der in seinem Umfang für gewöhnlich länger als ein Stollen, aber kürzer als der Aufgesang ist. In der Reduktion auf ein einfaches Buchstabenschema sind sich Barform und achttaktiger Satz gleich: Aus der (variierten) Wiederholung eines Zweitakters mit anschließendem Nachsatz ergibt sich genauso die Struktur a a b wie aus der Abfolge von Stollen, Gegenstollen und Abgesang. In ihrem Charakter unterscheiden sie sich jedoch grundlegend. Schon die Begriffe Aufgesang und Abgesang machen deutlich, dass die Barform mehr im Sinne einer Bogenform zu verstehen und damit in sich geschlossen ist. Sie neigt eher zur strophischen Wiederholung als zur variierenden Fortentwicklung oder allgemeiner: zur thematisch-motivischen Arbeit. Beiden gemein ist jedoch das Prinzip der Potenzierung, d. h. der Verwendung desselben Formprinzips in kleinerer oder größerer Maßeinheit. So kann beispielsweise der Abgesang selbst stollig gebaut sein. Da die Barform und die von ihr abgeleiteten Varianten wie die Gegenbarform (a b b) und der Reprisenbar (a a b a) die kompositionstechnische Ausgestaltung ihrer einzelnen Bestandteile offenlassen, spielen sie für die Analyse des Klavierquintetts f-moll op. 34 allenfalls in der Frage der Reihung der motivischen und thematischen Gebilde eine Rolle. So weist beispielsweise die Durchführung des ersten Satzes eine gewisse Spiegelsymmetrie auf, die auf einem barförmig oder satzartig angelegten Anfangsteil beruht, gefolgt von einem gegenbarförmigen Schlussteil, für den in dieser Arbeit auch die Begriffsbildung gegenläufiger Satz verwendet wird. 29 Ein ähnliches Phänomen zeigt sich im Aufbau des Hauptthemas im vierten Satz, das aus einem achttaktigen Satz (a a b) und einer dazu spiegelsymmetrischen 28 C. Kühn: Formenlehre, Kassel 2007, S. 64. 29 Siehe: Anhang1: Formale Übersicht Satz 1, S. 49. 10

Struktur (c d d ) besteht (siehe Notenbeispiel 2), die sich in der Motivik, der Harmonik und der Instrumentierung niederschlägt. Notenbeispiel 2: Klavierquintett f-moll op.34, 4. Satz, T. 162 ff. 11

I. 3 Satz und Periode am Beispiel des Popsongs Rhythm oft he Rain Der unterschiedliche Charakter und die daraus resultierenden verschiedenartigen Funktionen von Satz und Periode werden im Folgenden an dem einfachen Popsong Rhythm of the Rain verdeutlicht (Notenbeispiel 3). Das Lied besteht im Wesentlichen aus zwei melodischen Teilen A und B. Teil A erscheint im Verlauf des Liedes leicht variiert und mit anderem Text als A wieder. In der weithin bekannten Aufnahme durch die Gruppe The Cascades sind die Teile in die folgende Anordnung gebracht: Intro A A B A A B A Outro Das deutliche Übergewicht des Formteils A bzw. A, der textlich keine Änderungen erfährt, spricht dafür, diesen als Refrain des Liedes zu betrachten. Teil B, der zweimal mit unterschiedlichem Text auftritt, bildet die Strophen. Entsprechend verlangt Teil A einen höheren Wiedererkennungswert und eine größere Geschlossenheit als Teil B, der mit den unterschiedlichen Strophen Neues bringt und die in den Abschnitten A und A gemachten Aussagen konkretisiert und kommentiert. Bezeichnenderweise bestehen A und A jeweils aus einer achttaktigen Periode, während Teil B einen achttaktigen Satz darstellt. Passend dazu verwendet Teil A (bzw. A ) nahezu ausschließlich die Hauptdreiklänge der Grundtonart F-Dur, lediglich in der Kadenz am Ende des Nachsatzes tritt die Subdominantparallele als Nebendreiklang in Erscheinung. Teil B besteht im Gegensatz zu Teil A hauptsächlich aus einer Sequenz, welche die Nebendreiklänge a-moll, d-moll und g-moll streift. In Teil B erscheint ferner das cis2 als einziger leiterfremder Ton des gesamten Stückes. Der achttaktige Satz aus Teil B zeigt damit die für diese formale Struktur typischen Merkmale: tonartliche Offenheit, Sequenzgänge (insbesondere durch Versetzung des melodischen Materials der ersten beiden Takte in den Takten drei und vier), Aufnahme und Abwandlung des thematisch-motivischen Materials des Vordersatzes im Nachsatz. Teil B endet melodisch zwar nach sieben und nicht nach acht Takten, der achte Takt ist dennoch für die Form maßgebend, bringt er doch die charakteristische Halbschlusswendung, die eine Wiederaufnahme des Grunddreiklangs im A- Teil ermöglicht. 12

Notenbeispiel 3 13

Interessant ist auch die Anordnung der Teile in der Aufnahme der Cascades : Die Teile A und A folgen zweimal unmittelbar aufeinander, bevor Teil B zu hören ist. Das Lied zeigt somit auch im Großen die für den achttaktigen Satz so typische Dreiteilung A A B, wenn auch die Länge der Teile nicht mit den bekannten Verhältnissen 1:1:2 (bzw. 2:2:4) korrespondiert. 30 In Brahms Klavierquintett wird die variierte Wiederholung eines Formteils in Kombination mit einem weiteren Abschnitt, der überleitenden Charakter hat, die Wiederholung eines übergeordneten Formteils vorbereitet oder einen Teil zu einem vorläufigen Abschluss bringt, zum formbestimmenden Prinzip aller vier Sätze, die in ihren Grundzügen Sonatenhauptsatzform aufweisen. Brahms nutzt darin den achttaktigen Satz zur Gewinnung der Themen, die (variierte) Wiederholung der Themen zur Generierung der Haupt- und Seitensätze, die (meist ebenfalls variierte und oftmals auch verlängerte) Wiederholung von Haupt-und Seitensatz zur Gestaltung eines Haupt- bzw. Seitensatzbereichs, die in Kombination mit Überleitungs- und Schlusssätzen wiederum die für die Sonatenhauptsatzform typischen Tonartbereiche der Exposition ausprägen (vergleiche dazu die formalen Übersichten der einzelnen Sätze im Anhang). Das kompositionstechnische Prinzip der Potenzierung, wie Kühn es nennt, spielt also eine zentrale Rolle. 31 II Die Behandlung des achttaktigen Satzes im Klavierquintett II. 1 Das Devisenthema des Klavierquintetts Die Form des achttaktigen Satzes wird im Devisenthema schon in der Notation sichtbar (Notenbeispiel 4). Der punktierten Viertelnote in Takt 1 des unisono gespielten Themas folgen eine einzelne Achtelnote und vier durch Balken verbundene Achtel, die zusammen einen Des- Durdreiklang ergeben. Derselbe Rhythmus findet sich in Takt 2 wieder, ebenso der Des- Durdreiklang. Allerdings erscheint Takt 2 wie eine Verkürzung und Weiterentwicklung dessen, was in Takt 1 angestoßen wurde: Der Auftakt, mit dem der erste Takt beginnt, fehlt, der Quartsprung c1 f1 wird zur Quinte c1 g1 gedehnt, wodurch der Grundton f1 zwangsläufig entfällt. Dem wiederaufgenommenen Des-Durdreiklang folgen in den Takten 3 und 4 ein c- Molldreiklang ein leerer Quint-Oktavklang, der als G-Durdreiklang und somit doppeldominantisch zu f-moll interpretiert werden kann, sowie ein C-Durdreiklang, auf dem die durchgehende Achtelbewegung stehen bleibt und folglich halbschlüssig endet. Eine einfache Zählung der Takte legt eine Unterteilung in 1 + 1 + 2 Takte nahe. Noch klarer zeigt 30 Die Abfolge der Teile kann auch als Bezug zur Barform bzw. Reprisenbarform gewertet werden. 31 C. Kühn: Formenlehre, Kassel 2007, S. 64. 14

sich der musikalische Satz bei doppelter Taktzählung, die durch den 4/4-Takt gerechtfertigt ist, der in der klassischen Theorie als ein aus zwei 2/4-Takten zusammengesetzter Takt beschrieben wird und beim Vergleich der melodischen Teile gedanklich in zwei Teile zerlegt werden muss. 32 Demnach besteht das Devisenthema aus 2 + 2 + 4 Takten mit einem Halbschluss am Ende. Der nachfolgende Abschnitt bis Takt 11 folgt ebenfalls dem Muster des achttaktigen Satzes. Die in Takt 4 im Klavier ausgelöste Sechzehntelbewegung rennt sich schon im nächsten Takt auf zwei staccato gespielten Achtelnoten fest, ein deutlicher Bezug zum letzten Takt des Devisenthemas. Auch die Schlussformeln sind vergleichbar: Das Klavier endet in Takt 5 auf den Tönen des1 bzw. des2. Unter Berücksichtigung des vorausgegangenen Ges-Dur- und des angedeuteten Des-Dur-Dreiklangs, der freilich wie in Takt 3 des Devisenthemas nur als Quint-Oktav-Klang erscheint, ließe sich der Schlusston des halbschlüssig lesen, käme nicht in der zweiten Violine auf Zählzeit 3 das e1 ins Spiel, das aus der vermeintlichen Tonika Ges- Dur einen verminderten Septakkord mit tiefalterierter Quinte macht. Halbtaktig versetzt und aufwärts sequenziert finden wir dieselbe Rhythmik in den Takten 6 und 7 wieder. Takt 8 greift die Sechzehntelbewegung ebenfalls auf, um sie bis Takt 11 zu erweitern und wiederum auf einem Halbschluss, hier in f-moll, enden zu lassen. Die Abfolge der Klänge in den Takten 8 bis 11 jeweils auf der Zählzeit 1 ist Des-Dur c-moll G-Dur C-Dur und damit dieselbe wie im Devisenthema ab Takt 2. Bei einfacher Taktzählung ergibt sich für den betrachteten Abschnitt ein asymmetrisches Bild: 1 + 2 + 4 (alternativ 2 +1 + 4, wenn die Sechzehntelbewegung in Takt 6 als Auftakt gewertet wird). Bei doppelter Taktzählung verschwindet diese Asymmetrie und eine Abwandlung des Satzes tritt zum Vorschein: 3 + 3 +8 statt 3 + 3 + 6 in der von Ratz erwähnten zwölftaktigen Form. 33 Auch bei doppelter Taktzählung bleibt das allegro non troppo vorgetragene Devisenthema überraschend kurz, ja beinahe unfertig. Sein Charakter ist unter anderem dem Wesen des achttaktigen Satzes geschuldet, der auf Fortführung zielt. Wer aus diesem Grunde die einfache (sichtbare) Taktierung bevorzugt, muss einräumen, dass Brahms offenbar auch einen viertaktigen Satz als selbstständigen kompositorischen Baustein betrachtet. Die Takte 5 bis 11 wiederum zeigen, dass sich die Proportionen innerhalb eines Satzes zugunsten des einen 32 Weil nach Anleitung des 70sten phs jeder Tact einer zusammengesezten Tactart zwey Tacte einer einfachen Tactart enthält, und weil man gewohnt ist, den Umfang der Sätze blos nach der Anzahl der einfachen Tacte zu bestimmen, so muß bey allen Sätzen die in einer zusammengesezten Tactart dargestellt sind, jeder Tact doppelt gezählet werden [ ] H. C. Koch: Versuch 2, S. 371. 33 E. Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 22. 15

oder anderen Satzteils verschieben können, wohingegen die Dreiteilung geradezu zum Wesensmerkmal von musikalischer Form erhoben wird. Zweiteilungen erscheinen in diesem Licht als Überreste satzartiger Gebilde, bei denen der Nachsatz entfällt. Entsprechend zeigen die beiden übrigen Teile meist eine sehr enge motivisch-thematische Verwandtschaft und sind oft selbst satzartig angelegt. Häufig schließt sich einem solchen zweiteiligen Abschnitt seine variierte (und oftmals verlängerte) Wiederholung an. Beide gehen schließlich in einer vergrößerten satzartigen Struktur auf. Dieses Prinzip tritt beispielsweise in den Takten 1 bis 23 des ersten Satzes auf, die in einen zweiteiligen Hauptsatz und seine variierte Wiederholung zerfallen. Ab Takt 23 schließt sich dann ein dritter Satz mit Überleitungscharakter an. Der dritte Teil einer satzartigen Struktur kann aber auch aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraustreten und in einem vergrößerten Satz aufgehen, wie es beispielsweise in der Exposition des zweiten Satzes der Fall ist: Dort besteht der Hauptsatz aus insgesamt drei Teilen. Zusammen mit seiner Wiederholung und dem Überleitungssatz bildet er nochmals einen potenzierten Satz. Notenbeispiel 4: Klavierquintett f-moll op. 34, 1. Satz T. 1 ff. 16

II. 2 Achttaktiger Satz und Periode im 2. Satz Der Andante, un poco Adagio überschriebene zweite Satz steht in As-Dur. Das Hauptthema, das gleich zu Beginn von Takt 1 erscheint (siehe Notenbeispiel 5), trägt die Züge einer achttaktigen Periode mit vier Takten Vorder- und vier Takten Nachsatz, dem zu erwartenden Halbschluss in der Mitte und einem Ganzschluss am Ende. 34 Die Verwendung dieser kompositorischen Struktur muss als Besonderheit gelten, ist das gesamte Werk doch ansonsten durch das fortwährende Auftreten satzartiger Gebilde geprägt. Lediglich das Hauptthema des letzten Satzes, der in vielerlei Hinsicht wie eine Zusammenfassung der ersten drei Sätze wirkt, folgt einem ähnlichen Bauplan. Der in sich ruhende und abgeschlossen wirkende Charakter der achttaktigen Periode des zweiten Satzes steht im Gegensatz zum kurzatmig und hektisch wirkenden Anfang des ersten. Brahms schließt die aufgespannte Periode freilich nicht mit dem für eine Kadenz typischen Quintfall es as, sondern lediglich mit dem Schritt einer kleinen Sekunde von der vierten zur dritten Tonstufe in As-Dur. Die Terz des Grunddreiklangs erscheint überdies um eine Achtelpause verzögert. Als wäre die Schlussformel in Takt 8 damit noch nicht genug abgeschwächt, wendet Brahms die harmonische Entwicklung sogleich zurück zur Dominante Es-Dur (Zählzeit 3, 2. Achtelnote). Offensichtlich möchte er eine allzu deutliche Zäsur, wie sie die achttaktige Periode mit sich bringt, vermeiden. Auch der Beginn des Nachsatzes ist untypisch. Statt einer Wiederholung des Vordersatzes mit einer zur Tonika 34 Kleinheins räumt dem ersten Thema wie Siegfried Oechsle insgesamt 22 Takte ein, die sich in vier Viertakter und einen um zwei Takte erweiterten Viertakter unterteilen. Grundlage dieser Sichtweise ist der strophenartige Verlauf, der sich durch die variierte Wiederholung der beiden ersten Viertakter ergibt. F. Kleinheins, Handreichung zum Schwerpunktthema Johannes Brahms Klavierquintett f-moll op. 34, Stuttgart 2012, Teil 1, S. 33. S. Oechsle, Klaviertrios, Klavierquartette und Klavierquintette, in: Brahms Handbuch, hrsg. von Wolfgang Sandberg, Stuttgart 2009, S. 433. 17

zielenden, abgeänderten Schlussformel bringt Brahms das Anfangsmotiv nun auf der Dominante, was eher wie eine Versetzung wirkt. Die Verwendung der achttaktigen Periode erscheint hier wie eine Reminiszenz an die Werke der Wiener klassischen Epoche, in denen eine unterschiedliche Gewichtung der Zäsuren und Einschnitte in den Rahmen- bzw. Mittelsätzen eine zentrale Rolle spielt: Der äußerliche beträchtliche Unterschied bestehet darinne, daß bey dem Andante die melodischen Theile weniger erweitert, und nicht so oft zusammen gezogen, und daher mehr förmliche Absätze gebraucht werden, als in dem Allegro. 35 Brahms folgt offenbar dem klassischen Muster. Er möchte Kleingliedrigkeit darstellen, ohne sich dadurch Entwicklungsmöglichkeiten zu verbauen. Dies gelingt ihm über die angesprochenen Mittel hinaus, indem er die achttaktige Periode in die Struktur eines insgesamt zwölftaktigen Satzes einbaut, der in drei Teile gleichen Umfangs zerfällt. In Takt 1 entspinnt sich in der rechten Hand des Klaviers zunächst eine in Terzen geführte Melodie im lombardischen Rhythmus. Die linke Hand hat ebenso wie die erste Geige und Bratsche einen nachschlagenden Begleitrhythmus, der den Eindruck einer Betonungsverschiebung weiter verstärkt. Sie springt in den ersten drei Takten jeweils vom Grundton As eine Quarte bzw. eine Quinte tiefer. In den Takten 5 bis 8 wird dieses As durch den Grundton der Dominante Es-Dur ersetzt. 36 (Die Versetzung liefert ein starkes Argument gegen die periodische Struktur der ersten beiden Viertakter und für eine Betrachtung als Teil eines satzartigen Gebildes). Der nachfolgende Viertakter behält den nachschlagenden Rhythmus der ersten Geige, Bratsche und des Klaviers bei und verstärkt ihn durch eine zusätzliche Abwandlung im Cello. Der lombardische Rhythmus der rechten Hand des Klaviers hingegen ist aufgehoben, die Bewegungsrichtung der Melodie umgekehrt, die harmonische Geschlossenheit zugunsten eines Quintfalls aufgegeben, der in Takt 9 seinen Anfang nimmt und in Takt 12 in einen Dominantseptakkord und dessen Auflösung mündet. 37 Die in Takt 13 angestrebte Zieltonart c- Moll wird ausgeflohen, der Dominantseptakkord über g stattdessen in den Trugschluss As-Dur 35 H. C. Koch: Versuch 3, S. 308. Zum Verhältnis von Satz und Periode und ihrer unterschiedlichen Verwendung bemerkt Clemens Kühn: Der offene Satz ist charakteristisch für den Beginn eines Sonatensatzes, der auf Entwicklung zielt Die geschlossene Periode ist charakteristisch für den Beginn eines Rondo, dessen wiederkehrendes Thema auf Faßlichkeit zielt, und für den Beginn langsamer Sätze. C. Kühn: Formenlehre, Kassel 2007, S. 61. 36 Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in den Takte 1 bis 22 des dritten Satzes, in denen der tonikale Orgelpunkt der Anfangstakte im Cello durch ein Ostinato auf der 5. Stufe in Violine 1 und Bratsche abgelöst wird. 37 Kleinheins bezeichnet die Melodieführung in Takt 9 im Vergleich zu Takt 1 als umgedrehte Bogenform. F. Kleinheins: Handreichung zum Schwerpunktthema Johannes Brahms Klavierquintett f-moll op.34, Stuttgart 2012, Teil 1, S. 35. 18

weitergeführt, womit die variierte Wiederholung des Themas beginnen kann. Unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Viertakter ergibt sich die Form a a b. Diese findet sich bereits in jedem der drei Viertakter im Kleinen als 1 + 1 + 2 angelegt. Notenbeispiel 5: Klavierquintett f-moll op. 34, 2. Satz Takte 1 ff. 19

Im Gegensatz zum Devisenthema des ersten Satzes, das selbst einen äußerst knappen, nämlich viertaktigen Satz bildet, füllt das Thema des zweiten Satzes nur den Vordersatz eines zwölftaktigen Satzes. Der Vergleich der jeweiligen Abschnitte bis zur Wiederholung des Hauptsatzes (vergleiche die formalen Übersichten im Anhang) ergibt einen nahezu identischen Umfang (elf bzw. zwölf Takte). Im Falle des ersten Satzes beinhaltet dieser Abschnitt allerdings zwei musikalische Sätze nach dem Schema a a b (Thema und stark variiertes Thema), die in atemberaubendem Tempo auf Entwicklung und Fortgang zielen, im zweiten nur einen einzigen. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint: Die Integration des Themas in den Ablauf eines gedehnten achttaktigen Satzes, ist verantwortlich für die Kleinteiligkeit der Form, für den längeren Atem des Andantes. Die Takte 9 bis 12 bringen im 2. Satz eine tonartliche Öffnung und thematische Entwicklung, die nicht zwangsläufig in den wiederholten Hauptsatz führen muss (oder es wegen ihrer Kürze gerade doch tut). Der diesem Satz entsprechende Abschnitt der Takte 21 bis 35, die den Überleitungssatz innerhalb der Sonatenform bilden, hat entsprechend auch einen deutlich gewachsenen Umfang, womit er über und aus dem wiederholten Hauptsatz bzw. dem Hauptsatzbereich hinausragt und funktional mehrdeutig wird. 38 II.3 Achttaktiger Satz und Fuge In seinen Gedanken, den achttaktigen Satz als zentralen Baustein zur Gewinnung größerer Formen zu verwenden, bezieht Brahms auch polyphone Satztechniken mit ein. Im dritten Satz des Klavierquintetts entwickelt er ab Takt 67 eine Fuge oder genauer ein fugato, das von den Gestaltungsprinzipien des achttaktigen Satzes überlagert wird und folgerichtig zu einer Abwandlung des üblichen Fugenschemas führt. Das musikalische Geschehen dieses Abschnitts wird zunächst durch die linke Hand des Klaviers und die Bratsche bestimmt, während die anderen Stimmen pausieren. Welcher der beiden Stimmen die Ehre gebührt, das Thema des fugato vortragen zu dürfen, lässt sich nicht abschließend beantworten. Das musikalische Material der Bratsche jedenfalls leitet sich von den Takten 13 bis 22 des dritten Satzes ab. Sein Charakter ist durch einen kurzen Sechzehntelauftakt und die wiederkehrende Abfolge von Achtelnote, Sechzehntelpause und Sechzehntelnote eher rhythmisch geprägt. Die sich anschließende Sechzehntelkette wirkt wie eine Drehfigur, vergleichbar einer barocken circulatio, die wenig Entwicklung bringt, sondern wieder in die hämmernde Rhythmik des Anfangs mündet. Dieses zwei Takte umfassende Motiv wird leicht verändert wiederholt, bevor es um eine Quarte nach unten versetzt von der rechten Hand des Klaviers aufgenommen wird. 38 Siehe: Anhang 2: Formale Übersicht Satz 2, S. 53. 20

Tempo und Kürze, ostinate Rhythmik und mangelnde Melodik sowie die Unterteilung in zwei nahezu identische Hälften dieser lediglich vier Takte umfassenden Gestalt entsprechen sicherlich nicht der Vorstellung eines typischen Fugenthemas, eher schon der eines untergeordneten Begleitrhythmus. Der linken Hand des Klaviers fehlt es dagegen an rhythmischer Prägnanz. Auch hier treten Wiederholungskorrespondenzen auf (insbesondere in den Auftakten) und die Länge der einzelnen Bestandteile entspricht exakt denen der Bratschenstimme. Allerdings dominiert hier die melodische Substanz, sodass beide Stimmen einander kontrapunktieren. Der Behauptung, die Bratschenstimme enthalte schon bekanntes motivisch-thematisches Material, das in den Takten 57 bis 67 wieder aufgegriffen werde, um sich dann als Thema einer Fuge zu emanzipieren, kann entgegengesetzt werden, dass gerade der vorausgehende Abschnitt eher überleitenden Charakter besitzt, während die erstmalige Verwendung des Materials (Takt 13) ein sehr dominantes, fanfaren- oder marschartiges Thema einleitet. Beides zusammen widerspricht seiner Erhebung in den Rang eines vollwertigen und eigenständigen Themas. Daneben ist das eigentlich Neue die Stimme des Klaviers und nicht die der Bratsche. Nun zu argumentieren, die Klavierstimme sei es auch, die in Takt 226 im Trio wieder aufgegriffen, während gleichzeitig der Sechzehntelrhythmus der Bratsche zugunsten eines geglätteten Triolenrhythmus im Klavier aufgegeben werde, verfängt aber so wenig wie das Argument der Bekanntheit des Bratschenmotivs in Takt 67. Für die Form des Abschnitts ist die Frage, welche der beiden Stimmen nun das Thema vorträgt, letztlich auch unbedeutend. Schwerer wiegt die Tatsache, dass beide Stimmen in zwei korrespondierende Abschnitte a und a unterteilt werden können. Dieser Einteilung genügen folgerichtig auch die weiteren Kontrapunkte, die zuerst in der linken Hand des Klaviers in Takt 71 bzw. der Bratschenstimme ab Takt 80 auftreten. Eine nochmalige Betrachtung der Bratschenstimme ab Takt 67 zeigt, dass die zweite Hälfte (a ) aufgrund der veränderten Sechzehntelfigur wie eine Versetzung aufgefasst werden kann. Diese Versetzung findet eine Entsprechung in der Potenzierung des Themas, nämlich in der Abfolge von Dux (Thema in der Grundtonart) und Comes (Thema in der Quinttonart), die ihrerseits eine Potenzierung mit dem dritten und vierten Fugeneinsatz, der Wiederholung von Dux und Comes, der verstärkten Besetzung und den weiteren Kontrapunkten erfährt. Das Ende des vierten Themeneinsatzes in Takt 84 bedeutet zugleich das Ende der Fugenexposition. Der nächste Einsatz des Themas erfolgt wieder in der Bratsche bzw. der linken Hand des Klaviers. Die Bratsche hat dieselbe Tonhöhe wie zu Beginn, das Klavier ist dagegen um eine Oktave nach oben versetzt. Anders als in den Einsätzen zuvor, verlässt dieser Abschnitt den tonartlichen Bereich von es- und b-moll und wendet sich nach Des-Dur (der Schlussklang C As as c2 in Takt 88 ist halbschlüssig zu lesen). Der erneute Einsatz 21

von Bratsche und Klavier könnte folglich allenfalls als eine Art überzähliger Einsatz der Exposition gewertet werden. Was danach kommt, ist nach der Theorie der Fuge entweder Zwischenspiel oder bereits die nächste Durchführung. Brahms hält sich jedoch in der Folge nicht mehr an die gattungsspezifischen Abläufe. Die Fuge entwickelt sich zum Fugato, das in Takt 100 mit einem Halbschluss in es-moll sein Ende findet. Wie schon weiter oben behauptet, überlagern die Prinzipien des achttaktigen Satzes den gesamten Abschnitt des Fugato von Takt 67 bis 100. Die Exposition, die lediglich vier Stimmen bzw. vier der insgesamt sechs Systeme der Partitur umfasst, bildet die erste Hälfte des Satzes, bestehend aus erstem und zweitem Einsatz und ihrer variierten Wiederholung durch den dritten und vierten Einsatz, die durch weitere Kontrapunkte verstärkt werden: A A. 39 Die Exposition umfasst siebzehn Takte, der nachfolgende Abschnitt von Takt 84 bis 100 insgesamt 16. Beide Hälften sind also etwa im Gleichgewicht. Wie im achttaktigen Satz üblich, endet die zweite Hälfte halbschlüssig. Der mit der ersten Hälfte korrespondierende Beginn ermöglicht die Abgrenzung zur Exposition und damit die Wahrnehmbarkeit der beiden Formteile. Der erneute Einsatz von Bratsche und Klavier ist folglich nicht überzählig und damit als Anhängsel zu werten, sondern als motivischthematische Wiederaufnahme und veränderte Fortführung des Vordersatzes eines achttaktigen Satz. Obwohl weder das musikalische Material der linken Hand des Klaviers noch das der Bratsche zu einem griffigen Thema taugen, verortet die vorliegende Analyse das Seitenthema des dritten Satzes genau an dieser Stelle. Begründet wird diese Auffassung durch die tonartlichen Gegebenheiten des Satzes und den satztechnischen Kontrast zum homophonen Hauptthema, das in Takt 23 (mit Auftakt) bis 29 gesehen wird. Ferner ergeben sich durch diese Auffassung weitreichende Übereinstimmungen mit der Anlage der Themenbereich in den ersten beiden Sätzen. 40 39 Zur Abgrenzung gegenüber den Takten 67-71 werden hier Großbuchstaben verwendet. 40 Siehe: Anhang 3: Formale Übersicht Satz 3, S. 55. 22

Notenbeispiel 5: Klavierquintett f-moll op. 34, 3. Satz, T. 63 ff. Die Takte 68 mit Auftakt bis 76 bilden die erste Hälfte a, die Takte 77 mit Auftakt bis 84 die zweite Hälfte a des Vordersatzes des satzartig angelegten Fugato. Beide Hälften zerfallen ihrerseits in zwei gleichartige Teile. Der Vordersatz entspricht der Exposition des Fugato. Der Nachsatz, der in Takt 84 bzw. Takt 85 mit Auftakt beginnt, kann als Zwischenspiel aufgefasst werden. 23

II. 4 Der achttaktige Satz in der langsamen Einleitung des vierten Satzes Der vierte Satz beginnt mit einer im Tempo poco sostenuto vorgetragenen Einleitung, deren polyphones Geflecht und halbschlüssige Endung in f-moll an eine barocke Sonate erinnert. Formal zeigt die langsame Einleitung den Bauplan einer Fuge mit einer ersten Durchführung (Exposition), einem als Quintfallsequenz angelegten Zwischenspiel und einer tonartlich veränderten zweiten Durchführung: A B A. Die Rahmenbildung kann ebenso wie die Satztechnik einerseits als Rückbezug zum 3. Satz (Scherzo Trio Scherzo) interpretiert 24

werden, andererseits weisen die Dreiteilung und die beiden motivisch-thematisch ähnlich gestalteten Teile auf den achttaktigen Satz als grundlegendes Formprinzip hin. Die drei Teile selbst sind wiederum von den Gestaltungsmerkmalen des achttaktigen Satzes durchzogen: In Takt 1 stellt das Cello das Thema oder soggetto vor, das aus einem aufwärtsgeführten Oktavspung F f und zwei ebenfalls nach oben gerichteten kleinen Sekundschritten besteht. Es folgen nacheinander jeweils im Abstand eines Taktes die erste Geige, die linke Hand des Klaviers und die Bratsche mit Themeneinsätzen auf anderen Tonstufen, ehe das Cello erneut die Führung übernimmt, das Thema jedoch diesmal um eine Oktave höher versetzt vorträgt. Im Gefolge des Cellos setzen mit der ersten und zweiten Geige sowie der Bratsche wieder drei weitere Stimmen ein. Der dritte Einsatz des Cellos, nun um einen Ganzton versetzt auf es, klingt wie schon der zweite in die Schlusstöne der übrigen Stimmen hinein. Bis Takt 12 bilden sich auf diese Weise drei Blöcke aus, die aus jeweils vier Takten bestehen und vom eingangs eingeführten Thema bestimmt werden. Dabei zeigen die ersten zwei Blöcke untereinander große Ähnlichkeit: Das Cello beginnt auf einem f, die Einsatzfolge der Stimmen ist nahezu identisch, das motivische Material erfährt nur geringfügige Abwandlungen. Demgegenüber weist der dritte Block größere Unterschiede auf. So folgen auf den Einsatz des Cellos auf es in Takt 10 gleich zwei Instrumente, wobei die erste Geige den charakteristischen Oktavsprung des Themas aufgibt, dafür aber ihre letzten beiden Takte des vorherigen Einsatzes wiederholt. In den Takten 11 und 12 treten mit der linken und rechten Hand des Klaviers und der Bratsche ferner die zur Vollstimmigkeit fehlenden Stimmen hinzu. Die Entwicklung der Takte 9 bis 12 mündet schließlich in Takt 13 in eine ausgedehnte Quintfallsequenz. Die beiden Blöcke der Takte 1 bis 8 können folglich als Vordersatz gemäß dem achttaktigen Satz aufgefasst werden, während die Takte 9 bis 12 einen verkürzten Nachsatz mit der für diesen typischen thematischen Verknüpfung zum Vordersatz mit veränderter Fortführung darstellen. Die Quintfallsequenz bildet zunächst zwei harmonische Plateaus aus: In den Takten 13 bis 16 spielt das Klavier einen Dominantseptakkord mit (leitereigener) tiefalterierter None über dem Ton c, in den Takten 17 bis 20 folgt dann ein Dominantseptakkord über dem Ton as, der auch als f-moll-septakkord mit Nonvorhalt (Takt 17 auf 18) gedeutet werden kann, wodurch sich die Sequenzstruktur ergibt. Den beiden ähnlich gestalteten Blöcken (A A ) folgt ein neuntaktiger Abschnitt B bis Takt 29, in dem die Quintfallsequenz im zweitaktigen Wechsel zunächst fortgeführt, in Takt 26 aber verlassen wird und in eine chromatisch abwärts geführte Basslinie mündet. Mit dem Grundton der nun erreichten Tonart e-moll greift Brahms das Thema im Cello in verkürzter Form wieder auf. Die übrigen Stimmen folgen teils auf anderen Tonstufen, teils mit Umkehrungen und Sekundbewegungen bis Takt 33. Dort erklingt abermals 25

das Cello mit dem stark verkürzten Thema. Der zweite Themenblock endet in Takt 35 und wird überlagert vom dritten Einsatz des Cellos. Dieser letzte und verlängerte Abschnitt wendet sich wieder der Tonart f-moll zu, in der er halbschlüssig endet. II. 5 Zusammenfassung Das Devisenthema des Klavierquintetts hat die Struktur a a b des achttaktigen Satzes. Je nach Taktzählung kann es als verkleinerter viertaktiger Satz vergleichbar mit dem Nachsatz des Themas der Sonate f-moll Op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven oder als herkömmlicher achttaktiger Satz gewertet werden. Als bauliche Grundlage einer thematischen Devise wird der achttaktige Satz so zur Keimzelle von ( architektonischer und logischer ) Form. Der für den achttaktigen Satz typische Halbschluss wird folgerichtig zur häufigsten Endigungsformel in Brahms Klavierquintett. Stärker noch als der achttaktige Satz der Wiener Klassik ist Brahms Behandlung dieses Bausteins auf Entwicklung angelegt, indem er die zweite Hälfte des Vordersatzes vermehrt abwandelt und den Beginn des Nachsatzes selten wörtlich vom Vordersatz übernimmt. Dieses Prinzip ist bereits im Devisenthema angelegt. Das Prinzip der Entwicklung steht einer Reihung von festgefügten Bausteinen im Umfang von 2+2+4 oder 3+3+6 Takten entgegen. Folgerichtig variiert Brahms die Länge der Abschnitte stärker. So fehlt beispielsweise der zweiten Hälfte des Vordersatzes im Devisenthema der Auftakt. Insbesondere die Nachsätze der auf der Grundlage des achttaktigen Satzes konzipierten Formteile variieren in ihrer Länge stark. Sie müssen nicht mehr zwingend den Umfang der Vordersätze aufwiegen oder gar übertreffen. Gerade bei größeren Formteilen erscheint der Nachsatz oft verkürzt. 41 Im zweiten Satz des Klavierquintetts reiht Brahms drei Viertakter aneinander, die zusammen die Struktur a a b aufweisen. Größere Formteile entstehen im Klavierquintett durch Potenzierung des achttaktigen Satzes oder durch Wiederholungskorrespondenzen, die als Überreste genauer Vordersätze von vergrößerten achttaktigen Sätzen aufgefasst werden können. Dabei meidet Brahms, wie oben schon erwähnt, die wörtliche Wiederholung. Als Beispiel hierfür möge nochmals der zweite Satz dienen, in dem Brahms jedem der anfangs vorgetragenen Viertakter die Struktur 1+1+2 verleiht. 41 Vergleiche dazu die Ausführungen und formalen Übersichten zur Sonatenhauptsatzform im ersten Satz des Klavierquintetts auf den Seiten 31 ff. bzw. 49 ff. 26