It s the middle class, stupid! Wohlfahrtsstaatliche Leitideen und die diskursive Konstruktion der gesellschaftlichen Mitte Beitrag zur Tagung Aktivierend investiv prädistributiv: Neue Paradigmen in der Sozialpolitik(forschung)? 27./28. April 2017, Universität Kassel Dr. Marlon Barbehön, Marilena Geugjes, Prof. Dr. Michael Haus Institut für Politische Wissenschaft Universität Heidelberg
Die Mittelschicht im Wohlfahrtsstaat: Zentralität, Normativität, Ambivalenz Zentralität der Mittelschicht politische Zentralität: wohlfahrtsstaatlicher Grundkonsens und darauf aufbauende demokratische Mehrheiten ressourcenspezifische Zentralität: Finanzierung mehr oder weniger anspruchsvoller Dienstleistungen und Transfers institutionelle Zentralität: Robustheit des Grundkonsenses und der Ressourcenbasis im Rahmen von Institutionalisierung wohlfahrtsstaatlicher Politiken (Pfadabhängigkeit) konzeptionelle Zentralität: sowohl für etablierte Ansätze der Wohlfahrtsstaatsforschung (Typologien) als auch für Thematisierung von deren Grenzen angesichts neuartiger Entwicklung relevanter Bezugspunkt
Die Mittelschicht im Wohlfahrtsstaat: Zentralität, Normativität, Ambivalenz Normativität der Mittelschicht normative Adressierung der Mittelschicht ( Werte ) Mittelschicht als normatives Maß der Gesellschaft ( gutes Leben ) Mittelschicht als diagnostische Referenz für normativen Zustand der Gesellschaft ( gute Gesellschaft ) diskursive Affirmation vs. Subversion der Normativität
Die Mittelschicht im Wohlfahrtsstaat: Zentralität, Normativität, Ambivalenz Ambivalenz der Mittelschicht Mittelschicht kein natürlicher Verbündeter des Wohlfahrtsstaates keine eindeutige Kosten-Nutzenkalkulation Unklarheit individueller Bilanz Vertrauen in Effizienz/Effektivität staatlicher Institutionen soziale Mobilität als Chance und Gefährdung keine eindeutige normative Bewertungsgrundlage Autonomie durch vs. Autonomie oder Wohlfahrtsstaat Mittelschicht kein klarer politischer Akteur hohe individuelle Handlungsfähigkeit unklare kollektive Identität/Handlungsfähigkeit wohlfahrtsstaatlicher Grundkonsens möglich, aber nicht zwangsläufig ( contingent consent, Margaret Levi)
Die Mittelschicht im Wohlfahrtsstaat: Zentralität, Normativität, Ambivalenz Schlussfolgerungen wohlfahrtsstaatliche Institutionalisierung von Mittelschichtsdiskursen als konzeptioneller Ausgangspunkt Typen von Wohlfahrtsstaaten als spezifische Formen der Deutung der Zentralität und Ambivalenz der Mittelschicht im Wohlfahrtsstaat, Einbettung in Normativitätskonstruktionen kontextspezifische Verschränkung von Semantik und Strukturbildung als Kommunikations- und Evolutionslogik unterschiedliche Aufnahme von Autonomiemotiven als konzeptioneller Kern Zentralität, Ambivalenz und Normativität in je spezifischer Weise transformiert und reflexiv bearbeitet
Die Mittelschicht im Wohlfahrtsstaat: Zum empirischen Zugang Ziel: interpretative Analyse der Bedeutung der Mittelschicht bzw. der gesellschaftlichen Mitte in den medialen Diskursen Deutschlands und Schwedens (und perspektivisch Großbritanniens) sowie Verschränkung mit sozialpolitischen Wandlungsprozessen Materialquellen: Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung, Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet Berücksichtigung aller Artikel mit expliziter Bezugnahme auf Mitt* oder medel*/mitten* aus den Jahren 2005 und 2015 Rekonstruktion der Bedeutungsgehalte der Mitte und deren argumentative Verwendungsweise v.a. in sozialpolitischen Diagnosen und Forderungen
Mittelschicht und Wohlfahrtsstaat in Deutschland Zentralität und Normativität die Mittelschicht als die Gebildeten, Autonomen und Eigenverantwortlichen, die gesellschaftliche Mitte als Raum des Rationalen, des Ausgleichs und der Kompromissfähigkeit Stabilität und Wohlbefinden der Mitte als Gradmesser für den Zustand von Politik und Gesellschaft Aufstieg in die bzw. innerhalb der Mitte als zentrales (aber prekäres) gesellschaftspolitisches Versprechen, kondensiert im Deutungsmuster der Sozialen Marktwirtschaft die Mittelschicht ist maßgebend i.s. einer expliziten Zielgruppe politischer Maßnahmen oder eines Orientierungspunkts für andere Gruppen
Mittelschicht und Wohlfahrtsstaat in Deutschland Ambivalenz (am Beispiel des Aktivierungsparadigmas) einerseits dient die aktive und autonome Mittelschicht als (impliziter) Orientierungspunkt für die Aktivierung der Inaktiven und Abhängigen andererseits stellen die allgemeine Aktivierungsaufforderung und der Abbau von spezifischen Statusrechten eine Quelle für die Problematisierung einer Prekarisierung der Mittelschicht dar
Mittelschicht und Wohlfahrtsstaat in Schweden Zentralität und Normativität die Mittelschicht als spezifischer Werthorizont und Modus der Lebensführung (wohlhabend, gebildet aber prätentiös, selbstbezüglich, unpolitisch, spießig) überwiegend negativ konnotiert, mit Ausnahme der mittleren Einkommensbezieher (autonom entscheidend, arbeitend) Problematisierung von Distinktionspraktiken Existenz einer abgegrenzten und sich abgrenzenden Mittelschicht als Problem in der klassenlosen Gesellschaft, kondensiert im Deutungsmuster des Jante-Gesetzes die Mittelschicht ist maßgebend i.s. eines Fixpunktes für die Problematisierung einer auseinanderdriftenden Gesellschaft
Mittelschicht und Wohlfahrtsstaat in Schweden Ambivalenz (am Beispiel des Wahloptionenparadigmas) einerseits werden autonomiefördernde Wahloptionen als spezifischer Bedarf der mittleren Einkommensbezieher gefordert und durchgesetzt andererseits dient die Einführung von Wahloptionen zur Problematisierung einer Abkehr vom universalistischen Prinzip und einer Verstärkung von schichtspezifischen Ungleichheiten (Distinktion einer Mittelschicht)
Vorläufige Schlussfolgerungen Deutschland und Schweden als zwei Varianten (oder Typen?), wie das generelle Problem des Verhältnisses von Mittelschicht und Wohlfahrtsstaat in einer Gesellschaft gedeutet und bearbeitet wird kontextspezifische Ausdeutung und reflexive Bearbeitung dieses Verhältnisses als Schlüssel zum Verständnis der (widersprüchlichen) Paradigmen und Paradigmenwechsel im Wohlfahrtsstaat offene Aufgaben Analyse des britischen Falls (als Vertreter des liberalen Regimes) Rückbindung der diskursanalytischen Ergebnisse an die Handlungsorientierungen und Strategien sozialpolitischer Akteure in Reformprozessen