23.06.2011 in Steyregg/Linz Prof. Dr. Klaus Dörre, FSU Jena
Prekarität eine politische Herausforderung 1. Definitionen Seiner etymologischen Bedeutung nach lässt sich prekär mit widerruflich, unsicher oder heikel übersetzen. Sozialwissenschaftlich wird der Begriff genutzt, um die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse zu thematisieren. In einer weiten Fassung dient Prekarität als zeitdiagnostische Kategorie, die Veränderungen an der Schnittstelle von Erwerbsarbeit, Wohlfahrtsstaat und Demokratie thematisiert.
Prekarität eine politische Herausforderung Prekarität ist historisch gesehen zwar nichts Neues, sie nimmt seit den 1970er Jahren jedoch eine historisch neue Gestalt an. Es vollzieht sich ein Übergang von marginaler zu diskriminierender Prekarität, weil sukzessive auch solche Gruppen erfasst werden, die zuvor zu den gesicherten zählten. Von der zeitdiagnostischen Verwendung hebt sich eine eher eng gefasste arbeitsmarkt- oder ungleichheitssoziologische Kategorisierung ab, die Prekarität als eine Spezialform atypischer Beschäftigung oder als eine soziale Lage zwischen Armut und Normalität fasst.
Prekarität eine politische Herausforderung Nach der Definition unserer Jenaer Forschergruppe gilt ein Erwerbsverhältnis dann als prekär, wenn es nicht dauerhaft oberhalb eines von der Gesellschaft definierten kulturellen Minimums existenzsichernd ist und deshalb bei den Möglichkeiten zur Entfaltung in der Arbeitstätigkeit, den sozialen Netzwerken, den politischen Partizipationschancen und der Fähigkeit zur Lebensplanung dauerhaft diskriminiert. Prekär Beschäftigte sinken aufgrund ihrer Tätigkeit und deren sozialer Verfasstheit deutlich unter das Schutz- und Integrationsniveau, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert wird. Ihr Beschäftigungsverhältnis und/oder ihre Arbeitstätigkeit sind daher auch subjektiv mit Sinnverlusten, Partizipations- und Anerkennungsdefiziten sowie Planungsunsicherheit verbunden.
Prekarität eine politische Herausforderung Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einer Prekarität der Beschäftigung und der Prekarität von Arbeit.
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Schaubild 2
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Schaubild 4
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1995 2000 2004 2005 2006 Niedriglohnschwelle West 8,19 8,89 9,71 9,77 9,61 Niedriglohnschwelle Ost 5,73 6,26 7,14 7,22 6,81 Ø Niedriglohn West 5,93 6,75 7,25 7,16 6,89 Ø Niedriglohn Ost 4,63 4,95 5,48 5,38 4,86 Entwicklung der Niedriglohnschwellen und der Stundenlöhne von Niedriglohnbeziehenden 1995 bis 2006 (alle abhängig Beschäftigten inklusive Teilzeit und Minijobs, in ): Quelle: SOEP 2006, eigene Berechnung.
Anteil geringfügige Beschäftigung (Bund) 30 000 000 25 000 000 20 000 000 15 000 000 10 000 000 Anteil geringfügige Beeschäftigung Anteil sozialversicherungspflichtige Beschäftigung 5 000 000 0
1 200 000 Atypische Beschäftigung: Zeitarbeiter 1 000 000 800 000 674 641 600 000 400 000 200 000 179 650 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Zwischen 1997 und 2008 sind knapp eine halbe Millionen atypische Beschäftigungsverhältnisse in Form von Zeitarbeit entstanden.
1 200 000 Atypische Beschäftigung: Zeitarbeiter 1 000 000 800 000 600 000 gesamt Männer Frauen 400 000 200 000 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Der Anteil von Frauen an Zeitarbeitern hat sich seit 1997 von 21% auf 30% im Jahr 2009 erhöht.
6 000 000 Atypische Beschäftigung: Geringfügig Beschäftigte 5 000 000 4 931 783 4 000 000 3 658 212 3 000 000 2 000 000 1 000 000 0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
Leiharbeiter und Anteil Hilfsarbeiter 700 000 600 000 500 000 400 000 300 000 Leiharbeiter Hilfsarbeiter 200 000 100 000 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
800 000 Zeitarbeiter und Hilfsarbeiter 700 000 600 000 500 000 400 000 Leiharbeiter Hilfsarbeiter 300 000 200 000 100 000 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
Anteil Hilfsarbeiter an allen Leiharbeitern 31% 33% 31% 35% 33% 34% 38% 37% 38% 39% 40% 41% 36% Hilfsarbeiter Leiharbeiter 69% 67% 69% 65% 67% 66% 62% 63% 62% 61% 60% 59% 64% 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
Organisations-,Verwaltungs-,Büroberufe Allgemeine Dienstleistungsberufe Übrige Dienstleistungsberufe 300 000 Leiharbeit nach Tätigkeit 275 865 250 000 200 000 195 389 150 000 100 000 140 262 Metallfacharbeiter Dienstleistungsberufe Gesundheitsdienstberufe Hilfsarbeiter 50 000 0 64 755 55 749 40 787 937 14 984
Beschäftigungsentwicklung in der Leiharbeit 1 400 000 1 200 000 1 000 000 800 000 600 000 400 000 200 000 0 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 1999 1998 1997 1996 1995
Beschäftigungsentwicklung und Leiharbeit
Einsatzbranchen
(De-)Regulierung der Leiharbeit Reform des AÜG zum 1.1.2003 entfallen sind Überlassungshöchstdauer besondere Befristungsverbot eingeführt wurde Gleichbehandlungsgrundsat z unter Tarifvorbehalt
Ziele der Liberalisierung des AÜG (HARTZ III) Wettbewerbspolitik: Leiharbeit neutralisiert als Atmungsinstrument den gesetzlichen Kündigungsschutz Arbeitsmarktpolitik: Durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes brach-liegende Beschäftigungspotenziale ausschöpfen
Leiharbeit im internationalen Vergleich
Zusammensetzung der Zeitarbeit
Betriebliche Nutzungsformen von Leiharbeit Funktion des Flexibilisierungsinstruments Leiharbeit Ad Hoc Einsatz Flexibilitätspuffer Strategische Nutzung Flexibilität Personalersatz (Suchkosten) Schwankungen des Auftragsvolumens (Rekrutierungskosten) Sicherheitsnetz für die Profitabilität (Entlassungskosten) plus Lohnkosten Form des Leiharbeitseinsatzes Nutzungsintensität minimal mittel bis hoch (>5%) mittel bis hoch (>5%) Reichweite punktuell begrenzt auf Randbelegschaft umfassend in allen Arbeitsbereichen Dauer temporär temporär verstetigt Verhältnis Stammkräfte Leiharbeitskräfte im Arbeitsprozess punktuelle Interaktionen Segmentierung in Kernund Randbelegschaft Verflechtung von Stammund Leiharbeitskräften
Betriebliche Nutzungsstrategien von Leiharbeit
Beschäftigungsdauer in der Leiharbeit
Die strategische Nutzung - Nutzungsmotive Personalleiter, Maschinenbaubetrieb, 600 Mitarbeiter, 21% Leiharbeiter Als Vorsichtsmaßnahme für schlechtere Zeiten sind wir dazu übergegangen, verstärkt Leiharbeitnehmer hier im Betrieb einzusetzen, um darüber für ein konjunkturelles Loch auch letztendlich atmen zu können, [ ] um in solchen Situationen nicht in das Thema Interessenausgleichsverhandlungen, Sozialplanverhandlungen, Kurzarbeit reinzurutschen. [ ] Dann rekrutieren wir uns Leute, die an der Mitbestimmung vorbei relativ schnell wieder in ein Trennungsszenario geführt werden können. (B PA)
(Des-)integrationspotentiale von Erwerbsarbeit eine Typologie Zone der Integration 1. Gesicherte Integration ( Die Gesicherten ) 2. Atypische Integration ( Die Unkonventionellen oder Selbstmanager ) 3. Unsichere Integration ( Die Verunsicherten ) 4. Gefährdete Integration ( Die Abstiegsbedrohten ) Zone der Prekarität 5. Prekäre Beschäftigung als Chance / temporäre Integration ( Die Hoffenden ) 6. Prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrangement ( Die Realistischen ) 7. Entschärfte Prekarität ( Die Zufriedenen ) Zone der Entkoppelung 8. Überwindbare Ausgrenzung: ( Die Veränderungswilligen ) 9. Kontrollierte Ausgrenzung / inszenierte Integration ( Die Abgehängten ) Die Typologie basiert auf einer qualitativen Erhebung mit ca. 100 Befragten aus allen Zonen der Arbeitsgesellschaft, die ich gem. mit K. Kraemer und F. Speidel durchgeführt habe. Die Prozentzahlen stammen aus einer quantitativen Befragung des INIFES, die auf einer geschichteten, zufällig ausgewählten Stichprobe (n=5.388) basiert. Die Prozentangaben müssen insofern relativiert werden, als die Zuordnung des repräsentativen Materials zu unseren Typen nur annähernd erfolgen konnte. 3,9 % der quantitativ Befragten waren nicht zuzuordnen
Die strategische Nutzung Folgen für die Leiharbeiter Helfer Produktion, Zeitarbeiter, Logistik, 25 Jahre Ich streng mich schon an, meinen Job gut zu machen. Ich hab mich vom ersten Tag bemüht. Mein Chef sagt: Das ist eine Chance, Du musst Dich hier jeden Tag aufs Neue bewerben. CNC-Dreher, Zeitarbeiter, 24 Jahre Ich habe mich gestern mit einem Kollegen unterhalten, der wurde dazu gezwungen sozusagen. Da wurde gesagt: Entweder du kommst zur Inventur oder du fliegst raus. Quelle: Eigene Forschungen (Hajo Holst), Maschinenbaubetrieb.
Die strategische Nutzung Folgen für die Leiharbeiter Leiharbeiter, Facharbeiter in der Produktion, Maschinenbau, männlich, "Na ja, gut. Hauptsache du bleibst hier." Alles andere ist erstmal zweitrangig. Nicht andauernd wechseln. Jedes Mal, wenn man irgendwo hingekommen ist muss man sich wieder neue wieder reinfinden. Mit den Kollegen wieder neu und neue Arbeit und die Fahrt dorthin neu und nach hause. Man muss sich immer wieder ein bisschen umstellen. Ich sage: "Wenn du hier bist, ich setze mich ins Auto und das Auto weiß schon. Hier runter fährt es von alleine." Das ist alles schon das geht alles schon automatisch. Hier hat man das Umfeld, was mir sehr gut gefällt, weil ich habe auch schon anderes erlebt. Also, was sie vorhin schon gefragt haben, zwischen den Kollegen und so, also da ging es richtig zur Sache. Da war ich in [XXX] heißt das, also da ging's richtig ab.
Prekarität eine politische Herausforderung Prekarität wirkt als Herrschafts- und Kontrollsystem, das auch formal integrierte Gruppen diszipliniert. Durch Konfrontation mit unsicher Beschäftigten forciert die Prekarisierung auch innerhalb der Stammbelegschaften ein Trend zur Produktion gefügiger Arbeitskräfte.
Abschluss: Politischer Regulierungsbedarf Betriebliche Regulierung ist möglich, eine dauerhafte Entprekarisierung aber nur auf dem Wege einer politischen Re- Regulierung der Leiharbeit erreichbar: Auf dem Feld der Zeitarbeit zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Spaltung zwischen Rand- und Kernbelegschaften ohne belastbare Hinweise auf eine Brückenfunktion. Ohne die originäre Funktion der Zeitarbeit als Puffer für Auftragsspitzen in Frage zu stellen, bietet sich eine Annäherung der Arbeitsbedingungen in der Zeitarbeit an die Entlohnung und die Arbeits-bedingungen der Kernbelegschaften sowie ein Zuwachs an Bestandssicherheit mit wachsender Verweildauer an. Bertelsmann Stiftung, Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit, April 2010.