Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie Nutzen und Grenzen von Richtlinien am Beispiel der SAMW Paul Hoff Tagung high noon? Gewalt und Deeskalation in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen Wien, 6./7. Dezember 2017
SAMW, 2015 www.samw.ch 2
Agenda Das medizin-ethische Spannungsfeld Das rechtliche Spannungsfeld Die Richtlinien: Gliederung & Eckwerte Eine Auswahl diskussionsbedürftiger Punkte Résumé 3
Agenda Das medizin-ethische Spannungsfeld Das rechtliche Spannungsfeld Die Richtlinien: Gliederung & Eckwerte Eine Auswahl diskussionsbedürftiger Punkte Résumé 4
Gesellschaft & Psychiatrie: Eine (notwendig?) ambivalente Beziehung Delegation von heiklen Fragen an die Psychiatrie und zugleich Skepsis bis Misstrauen gegenüber der Psychiatrie 5
Klassiker der Antipsychiatrie 6
Zwang: Die Achillesferse der Psychiatrie Einweisung per FU, Rückbehalt Behandlung gegen den Willen («ohne Zustimmung») Freiheitsbeschränkende Massnahmen Einige Grauzonen, zum Beispiel...... wenn, dann-verknüpfungen... psychologischer Druck... indirekter Zwang 7
Medizinethische Grundprinzipien (nach Beauchamp & Childress, 2013 7 )! Respekt vor der Autonomie des/der Patienten/-in Gebot, nicht zu schaden Gebot, zum Wohl des/der Patienten/-in zu handeln Gebot der fairen Verteilung von Nutzen, Risiken und Kosten im Gesundheitswesen 8
Das medizin-ethische Spannungsfeld (I) - Anspruch des Pat. auf Behandlung, auch wenn krankheitsbedingt nicht oder eingeschränkt urteilsfähig - Rechtlich Behandlungspflicht (ärztliche Garantenstellung) - Aufbau einer tragfähigen Beziehung trotz diametral unterschiedlicher Interessen 9
Das medizin-ethische Spannungsfeld (II) - «Autonomie» als bloss theoretischer Rahmen ist in der Medizinethik ungenügend. - Es braucht die Adaptation auf die konkrete Situation der betroffenen Person («shared clinical decision making», «empowerment», «assistierte Autonomie», «advance care planning»). 10
Die unkritische Überdehnung des Autonomiebegriffes ist ein Risiko 11
Values-Based und Evidence-Based medicine / practice: Eine notwendige Ergänzung CUP 2012 12
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Aber: Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (2013) stimuliert die Debatte zu... Zwang im Gesamtgebiet der Medizin z.b. Überarbeitung der SAMW-Richtlinien Zwang in der Psychiatrie, im Lichte von - Recovery / Empowerment / peer involvement - Identitätsfragen der beteiligten Berufsgruppen Schnittstellenproblemen Klinik / Praxis / Wohneinrichtung ( geeignete Einrichtung ) Patientenverfügungen... 16
Agenda Das medizin-ethische Spannungsfeld Das rechtliche Spannungsfeld Die Richtlinien: Gliederung & Eckwerte Eine Auswahl diskussionsbedürftiger Punkte Résumé 17
Eine weite Definition von «Zwang» Aber: Hier geht es nur um die Definition, nicht um die Legalität oder Legitimität von Zwang. 18
Die Erstellung von Richtlinien ist ein komplexer Prozess. 19
Gliederung der Richtlinien 20
ad Präambel - Wie kann Zwang verhindert werden? (Prävention) - Zwang ist immer ein Eingriff in grundrechtlich verankerte Persönlichkeitsrechte - Die Befolgung prozeduraler Richtlinien allein kann Zwang nicht rechtfertigen - Nicht nur Zwangsmassnahmen schränken die Ausübung von Grundrechten ein, sondern auch viele Erkrankungen als solche 21
ad Grundsätze - Respektierung der Selbstbestimmung - Subsidiarität und Verhältnismässigkeit von Zwangsmassnahmen - Das Umfeld muss geeignet sein - Effiziente, klare und offene Kommunikation im Team und mit der betroffenen Person 22
ad Anwendungsfelder (I) Beginn des Kap. 4.2. 23
ad Anwendungsfelder (II) - Kinder und Jugendliche haben (im jetzigen Kontext) gleiche Rechte wie Erwachsene, sind aber besonders schutzbedürftig - Einbezug auch der urteilsunfähigen Person, Berücksichtigung ihrer Präferenzen - Geeignetes Monitoring bei bewegungseinschränkenden Massnahmen - Äquivalenzprinzip im Straf- und Massnahmenvollzug 24
Agenda Das medizin-ethische Spannungsfeld Das rechtliche Spannungsfeld Die Richtlinien: Gliederung & Eckwerte Eine Auswahl diskussionsbedürftiger Punkte Résumé 25
Diskussionsbedürftige Punkte (Auswahl) - Zwang wird als solcher erlebt, auch wenn die urteilsunfähige Person im Vorfeld zugestimmt hat; dies stellt aber juristisch keine Zwangsmassnahme (i.e. keine Behandlung ohne Zustimmung) dar. - Zwang liegt auch dann vor, wenn die Ablehnung der Behandlung eindeutig und unmittelbar aus der (psychischen) Erkrankung resultiert. 26
Diskussionsbedürftige Punkte (Auswahl) Die «neue» Rolle des/der Chefarztes/-ärztin 27
Diskussionsbedürftige Punkte (Auswahl) Die «neue» Rolle des/der Chefarztes/-ärztin Abläufe klarer, mehr Entscheidungskompetenz, mehr Rechtssicherheit Aber: Übernahme hoheitlicher Aufgaben - Massnahme ohne Zustimmung wird angeordnet, nicht beantragt; Rollenverständnis? Meine Bewertung: Praktikabel und schnell, bedarf aber nachhaltiger kritischer Reflektion - Cave: Zwang als Routine qua einfache Regeln! 28
Diskussionsbedürftige Punkte (Auswahl) Medizinische Zwangsmassnahme trotz Urteilsfähigkeit? «Sonderfall Fürsorgerische Unterbringung» Art. 426 ZGB Die Urteilsunfähigkeit wird im Gesetz nicht als Voraussetzung einer FU genannt. 29
Diskussionsbedürftige Punkte (Auswahl)! - Ethischer und rechtlicher Stellenwert der! Patientenverfügung unter FU-Bedingungen - Abwarten der Beschwerdefrist / des Gerichtsentscheides bei Anordnung einer Behandlung ohne Zustimmung: Ja oder nein? - Rechtlicher Rahmen für Heimplatzierung dementer Personen: FU oder vertretungsberechtigte Person / Betreuungsvertrag? 30
Agenda Das medizin-ethische Spannungsfeld Das rechtliche Spannungsfeld Die Richtlinien: Gliederung & Eckwerte Eine Auswahl diskussionsbedürftiger Punkte Résumé 31
Thesen 1 Medizin-ethische Richtlinien stellen einen konzeptuellen Rahmen sowie zahlreiche Einzelargumente zur Verfügung. 2 Sie verhandeln Prozesse, nicht Fakten. Ihre Entstehung ist selbst ein Prozess. 3 Sie liefern keine abschliessenden Antworten, sondern müssen Teil einer nachhaltigen Debatte über Zwangsmassnahmen in der Medizin sein bzw. werden. 32
Thesen 4 Zwang darf nicht als weniger problematisch betrachtet werden, nur weil es Richtlinien gibt. 5 Die Übernahme persönlicher Verantwortung für Zwangsmassnahmen kann durch Richtlinien erleichtert, aber nicht ersetzt werden. Cave: «Delegation» von Verantwortung an Gesetze und Richtlinien 33
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Burghölzli 2012 Fragen und Kommentare? Gerne jetzt oder später an paul.hoff@puk.zh.ch 34