Wie gesund ist krank? Wird die Menschheit kränker oder die Krankheit menschlicher?

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Transkript:

Wie gesund ist krank? Wird die Menschheit kränker oder die Krankheit menschlicher? Prof. Dr.Thomas Bock Universitätsklinik Eppendorf, Irre menschlich Hamburg HAG 8.11.2018

Hamburg - Stadt der Widersprüche? Hamburg: meiste Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankung - Warum? Hamburg: Bestwerte im Glücksatlas Ungerecht? Blankenese glücklich, Jenfeld krank? Oder beides im Leben möglich - Krankheit u. Glück? Herausforderung: Gerade Menschen mit längerfristiger Erkrankung Perspektiven eröffnen Verteilung der Ressourcen? Je kränker, desto weniger Hilfe? - in der allg. Medizin undenkbar

Menschheit kränker? Im Kernbereich eher keine Zunahme! Verschiebungen zwischen Diagnosen Zunahme Demenzen Evtl. somatoforme Störungen (früher somat. Diagnose) Erkrankung früher (s. kulturelle/sexuelle Akzelleration) Menschheit älter (mit/ohne Erkrankung, Unterschiede!) Annäherung zwischen Geschlechtern (z.b. mehr Männer depressiv, mehr Frauen Alkohol)

Einfluß sozialer Faktoren in benachteiligten Wohngebieten höhere Prävalenz Verursachung oder Selektion? (Muntaner u.a. 2004) höheres Risiko bei Männern, als bei Frauen (Bundesgesundheitssurvey - Mauz & Jacobi 2008) Zuviel und zuwenig Streß/Arbeit machen krank Mehr Erkrankungen je mehr soziales Gefälle (Wilkinson & Pickett 2010) Gewalterfahrung, Missbrauch, Folter, Flucht PRÄVENTION=POLITIK

Krankheit menschlicher? Welches Bild von psychischer Erkrankungen vermittelt Psychiatrie? Welches Bild vermitteln die Medien? Angst / Vorurteile abhängig von Diagnosen! Schizophrenie - Psychose - Depression - Burn out Erfahrung, Bildung, Schicht! Krankheitskonzept! Reduktionismus erhöht Stigma

Annäherung psychische Besonderheit Pathologisch Was ist besonders, fremd, anders? Vorteil: Ordnung Risiko: Reduktionismus Ausweitung Anthropologisch Was ist uns gemeinsam, zutiefst menschlich? Vorteil: Antistigma Aneignung Risiko: Verharmlosung

Wie gesund ist krank? eine Übersicht Ängste: zunächst (Selbst)Schutz vor Gefahr, Risiko: Verselbständigung, Verallgemeinerung, Zuspitzung, Lähmung und Panik Zwänge: Rituale geben Halt, Schutz vor Zerfall Gefahr: Einengung, Blockade, Gefängnis Depressionen: emotionaler Totstellreflex, Schutz aber: kognitive/affektive Teufelskreise, Verzweiflung, Leere, Selbstgefährdung

Manien: Flucht nach vorne, aus Überanpassung, Grenzen sprengen o. Befreiung, Abwehr Verzweiflung aber: Selbstgefährdung, sozialer Schaden Borderline: Grenzgänger, Langzeit-Pubertät? schwierige Balance von Bindung und Autonomie, bis zu: Selbstverletzung, Fremdgefährdung Psychosen: Reizoffenheit/ Dünnhäutigkeit, Traum ohne Schlaf, Rückgriff kindliche Wahrnehmung bis zum: Verlust eigener Grenzen Komorbidität - Addieren oder verstehen?

EigenSinn und Psychose Sinne gehen eigene Wege Nerven im Hörzentrum nur zu 1/3 vom Ohr... Suche nach Eigenem und Sinn Verbindung von Psychotherapie und Sozialpsychiatrie eigener Sinn der Psychose Subjektive Bedeutung, Sinn-Bedürfnis (s. Hamb.SuSi-Projekt) Psychose als Form des Eigensinns Unverständlichkeit = letzter Hort von Eigenheit, Herausforderung Eigensinn und Psychose, Paranusverlag Eigensinn und Genesung, Psychiatrieverlag

Gibt es ein Sinnbedürfnis? Gegenpositionen: Psychosen sind sinnlos und zufällig. Hirnstoffwechsel entgleist ohne Bezug zum Erleben. Symptome zu hinterfragen, sinnlos und schädlich. Psychotische Erfahrung verschafft ungewohnten und überwältigenden Zugang zu unbewussten Erlebnissen und Konflikten. Aufarbeitung notwendig für nachhaltige Stabilisierung. Symptomreduktion mit Medikamenten kann helfen, doch nur im Rahmen einer tragenden, reflektierenden Beziehung, um das Erlebte zu integrieren. (D.Buck)

Aufbau des SuSi-Fragebogens: Subskalen Positives Erleben Meine Psychose Verstehbarkeit hat mit meiner der Entstehung d. Biografie bisherigen Lebenserfahrung zu tun. In meiner Psychose fühle ich Positives Symptomerleben mich viel lebendiger. Ich habe in meiner Psychose einiges fürs Leben gelernt. Positive Auswirkungen Negatives Erleben Unverständnis/ Unbelastete Vergangenheit gefallen Meine Psychose ist vom Himmel In meiner Psychose war ich Negatives Symptomerleben stark verunsichert. Seit meiner Psychose bin ich gleichgültiger Negative mir selbst und dem Auswirkungen Leben gegenüber geworden. Zeitebenen Vergangenheit: Entstehung der Psychose Gegenwart: Symptomerleben Zukunft: Auswirkungen der Psychose

Sinnbedürfnis Ca. 80 % bringen Psychose mit eigener Lebenserfahrung in Verbindung? Ca. 50 % erleben psychotische Symptome auch positiv Ca. 60 % sehen in Psychose auch Anlaß für konstruktive Entscheidungen Je mehr Verbindung / Aneignung, desto Hoffnungs-voller Gegenwart und Zukunft. Auftrag an Psychotherapie / Peerarbeit u.a.!

Eigensinn und Psychose Höllenhunde am Eingang der Psychiatrie Krankheitseinsicht Patient denkt wie Arzt Vorleistung des Patienten? oder primär unsere Aufgabe? Wer nimmt Einsicht in was? Compliance Patient tut, was Arzt will Unterwerfungsritual des Patienten? oder Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen? Wieviel Eigensinn tut gut?

Noncompliance oder Eigensinn? Noncompliance Eigenschaft? Krankheitsmerkmal? Misslungene Kooperation! Eigensinn Herausforderung Ringen um Autonomie Lebensqualität Andere Kooperationskultur: Unbedingter Gehorsam - schlechtes Zeichen Eigensinn, Ringen um Identität - gute Prognose Besonderes Beziehungsangebot

Peer-Beratungs-Projekt (Gesundheitsmetropole TP 5) Peer-Beratung von/für Betroffene/Erfahrene Peer-Beratung von/für Angehörige in allen Hamburger Kliniken! Ziele: Mehr Selbst- und Familienhilfe Stärkung Selbstwirksamkeit / Vermittlung Selbsthilfe Mehr Angehörigenbeteiligung in der Behandlung Mehr Lebensqualität / Funktionsniveau u.a. Weniger Hospitalisierung

Viele Angehörige mit betroffen_ Verschiedene Perspektiven der Angehörigen: Eltern: Was haben wir falsch gemacht? Balance zw. Bindung und Autonomie, Gleichzeitigkeit - Krisenintervention, Trialog Geschwister: Warum er/sie, nicht ich? Überlebensschuld, Enttäuschung - Einbindung, Katalysatorfunktion! Partner: Warum tut er/sie mir das an? Krankheit oder Beziehung? Was kann ich tragen? Balance zw. Nähe und Distanz, eigene Grenzen Kinder: Wie kann ich Mama/Papa retten? mystische Sicht. Entlastung, Beistand in Krisen - Entlastung v. Schuldgefühlen Freunde:: Wieso verändert er sich? Passt sie noch zu uns? Funktion der Peer-group? - Aktive Info + Einbeziehung,

(5) Irre menschlich Hamburg Beispiel für eine trialogische Bürgerinitiative Info für Journalisten aus erster Hand 1000 (Hoch)Schulprojekte (Toleranz und Sensibilität) Tage der offenen Tür Psychiatrie macht Schule Betriebsprojekte Fortbildung Gesundheitsberufe, Jugendhilfe, Lehrer, Pastoren, Polizei, Strafvollzug, Wohnungswirtschaft, Quartiere, Hochbahn Kulturprojekte, Ausstellungen, Filme u.a. Allgemein: Website, Hörfunkspot Kampagne psychenet : Plakate, KinoSpot www.irremenschlich.de Irre menschlich Hamburg

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Kampagne: Plakate, Spots, Begegnung, trialog.fortbildung

Das Einzige, das mich von meinen psychotischen Patienten unterscheidet, ist meine Fähigkeit, sie gesünder zu sehen, als sie das z.z. können. Prof. Thea Schönfelder, Pionierin der Familientherapie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit