Sept. 2010, S vgl. Baier, Andrea/ Biesecker, Adelheid 2010: Ökonomie für das Leben. In: politische ökologie Nr ,

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Adelheid Biesecker Wertschöpfung für Wachstum? Nein Wertschöpfung für gutes Leben. Vorsorgendes Wirtschaften als zukunftsfähige Alternative (Vortrag beim 14. Norddeutschen Forum Feministische Theologie am 4.2. 2012 in Hamburg) Einführung Wie wäre die Auflösung der perversen Kopplung von Produktivität an Zerstörung noch denkbar? fragt Christa Wolf, die leider kürzlich gestorbene große Mahnerin, in ihrem wunderbaren Buch Ein Tag im Jahr 1. Sie legt damit den Finger in die klaffende Wunde der modernen kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise: in den Gegensatz von den Prozessen und Produkten, die als produktiv, wertvoll und wertschaffend angesehen werden, und dem, was durch diese Wertschöpfungsprozesse 2 ge- und zerstört wird. In den Gegensatz von dem, was an Märkten geschieht, und dem, worum es jenseits des Marktes geht. In den Gegensatz von Warenproduktion und Lebensprozessen. Die Zerstörung, die Christa Wolf meint, ist die Zerstörung der lebendigen Grundlagen des Wirtschaftens, der vor allem von Frauen geleisteten sorgenden Tätigkeiten und der Leistungen der Natur. Beide gehen nicht in die ökonomischen Wertrechnungen ein, gelten als nicht-wertschöpfend, als nicht- oder bestenfalls reproduktiv, als wertlos eben. Beide reagieren auf ihre Ausgrenzung und Beschädigung mit Krisen mit sozialen und ökologischen Krisen. Über die Vielfalt der ökologischen Krise (Klimakrise, Biodiversitätskrise, Wasserkrise, Nahrungsmittelkrise z. B.) wird inzwischen viel gesprochen. Die Vielfalt der sozialen Krise (Kinder- und Frauenarmut in den Ländern des Nordens und des Südens, soziale Spaltungen gerade auch in den reichen Ländern z. B.) dringt erst allmählich ins gesellschaftliche Bewusstsein. Dabei sprechen wir inzwischen offen von der sozialen Spaltung der Stadt, auch hier in Hamburg, auch in meiner Stadt Bremen. Sie drückt sich z. B. darin aus, dass die Lebenserwartung für Männer im Bremer Stadtteil Gröpelingen ca. 8 Jahre geringer ist als für Männer im Stadtteil Schwachhausen. Ungleichheit kostet Lebensjahre. Ja. Der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer geht in seiner Kritik noch einen Schritt weiter: In seinem Artikel Rohe Bürgerlichkeit in der ZEIT fragt er nach den Akteuren dieser Spaltungsbewegung und findet die intellektuellen Diskursagenten bei den wissenschaftlichen, insbesondere den wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Eliten. 3 Und weiter: Die Missachtung derer da unten wächst. Eine rohe Bürgerlichkeit bildet sich heraus, und so geraten wir auf den Weg zu einer eskalierenden Spaltung. Und: Die Gruppen mit höheren Einkommen werten immer stärker ab Die rohe Bürgerlichkeit zeichnet sich durch den Rückzug aus der Solidargemeinschaft aus (In ihr) wird deutlich, dass der autoritäre Kapitalismus außer Kontrolle geraten ist. Mit seiner spezifischen Gewalt des Desinteresses an sozialer Integration aus den Sphären von Wirtschaft und Politik ist er tief in die sich aufspaltende Gesellschaft eingedrungen. Die rohe Bürgerlichkeit wird zum Mittel der gesellschaftlichen Spaltung. Nein, so kann es nicht weitergehen. Es ist Zeit ist, sich von diesem Wirtschaftssystem mit dieser einäugigen Wertrechnung, dieser Spaltungstendenz und dieser Zerstörungskraft zu 1 Christa Wolf 2003: Ein Tag im Jahr. Luchterhand, S. 292 2 Der Begriff Wertschöpfung wird in der deutschsprachigen ökonomischen Wissenschaft synonym verwendet mit Wertbildung oder Wertentstehung. Je nach Werttheorie werden die Quellen des Werts und die damit verbundenen Wertbildungsprozesse unterschiedlich erklärt. 3 DIE ZEIT Nr.39/ 2011, S. 37 1

verabschieden es ist Zeit ist für eine neue große Transformation. So bezeichnete Karl Polanyi die Entstehung unseres heutigen Wirtschaftssystems mit einer aus dem Sozialen und Ökologischen heraus gelösten, entbetteten Ökonomie 4. Heute, so schreibt der Wiss. Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem neuen Gutachten 5, müsse unsere Gesellschaft auf eine neue Geschäftsgrundlage gestellt werden. Es gehe um einen neuen Gesellschaftsvertrag für die Transformation zur Nachhaltigkeit. Ja. Wenn wir Verantwortung für die Zukunft übernehmen wollen, für zukünftige Lebensmöglichkeiten unserer Kinder, Enkelkinder und Ur-, Ur-, Urenkel und wenn dieses Leben auch noch ein gutes Leben sein soll dann müssen wir mit dieser Art des Wirtschaftens und Bewertens aufhören, müssen laut und vernehmlich Stopp! rufen. Dann gilt es, nach Alternativen zu suchen, nach einem gerechten, zukunftsfähigen Geschäftsmodell. Aber: Haben wir eine Chance, eine solche Wirtschaftsweise und eine diese einbettende demokratische Gesellschaft zu entwickeln? Christa Wolf ist da skeptisch: Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich mir statt eines zerstörerischen Wettlaufs eine solidarische Gesellschaft wünsche, weiß ich doch, wie lächerlich das auf einflussreiche Mächte wie die Atomlobby wirken muss. Die lachen sich über die Idee eines solidarischen Miteinander krank. 6 So sehr ich Christa Wolf schätze an diese Stelle bin ich mit ihr uneins. Doch, wir haben eine Chance. Denn meine zentrale These lautet: Ein neues Geschäftsmodell, eine zukunftsfähige Ökonomie kann mithilfe des Konzepts vom Vorsorgenden Wirtschaften gestaltet werden. Das Konzept liegt ausgearbeitet durch das gleichnamige Netzwerk 7 in seiner Grundstruktur, seinen Handlungsprinzipien und seiner Entwicklungskonzeption vor und bezieht sich auf vielfältige Formen wirtschaftlichen Handelns, die es schon heute in und jenseits der Marktökonomie gibt 8 (vgl. Baier/Biesecker 2010). Vorsorgendes Wirtschaften orientiert sich nicht nur an Märkten, sondern an der ganzen Ökonomie. Was in dieser Ökonomie als wichtig, wertvoll, als Wert schöpfend gilt, wird nach Kriterien von Zukunftsfähigkeit und gutem Leben bestimmt. Um diese These verständlich zu machen, möchte ich zunächst noch einen Moment bei dem herkömmlichen Wirtschaftssystem und seinen Bewertungen verharren (1), um meine Kritik am bestehenden Wirtschaftssystem zu vertiefen. Sodann stelle ich mein Leitbild für eine nachhaltige Alternative das Konzept sustainable development vor (2), um so Kriterien für die Gestaltung des Neuen zu bestimmen. Auf dieser Grundlage werde ich im nächsten Abschnitt (3) das Konzept des Vorsorgenden Wirtshaftens erläutern. Dieses Konzept orientiert sich an der Gestaltung eines dauerhaften guten Lebens. Mit seiner Hilfe kann der Weg hin zu Nachhaltigkeit beschritten werden. Maßstäbe für diesen Transformationsprozess werden entwickelt (4), um schließlich die Grundstruktur dessen, worum es geht, aufzuzeigen die Struktur eines neuen Gesellschaftsvertrages (5). Dieser entsteht nicht in einem großen Wurf, sondern in vielen kleinen Projekten, durch viele kleine neue Gesellschaftsverträge(6). Hier sollen an einigen Beispielen Ansatzpunkte für Um- und Neubewertungen für ein anderes Wertschöpfungsverständis also - diskutiert werden. 4 Vgl. Polanyi, Karl 1978/ 1944: The Great Transformation. Politische und ökonomischen Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 5 WBGU 2011: Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin 6 Christa Wolf in der ZEIT Nr. 12/ 2011, a. a.o. 7 vgl. www.vorsorgendeswirtschaften.de 8 vgl. Baier, Andrea/ Biesecker, Adelheid 2010: Ökonomie für das Leben. In: politische ökologie Nr. 121-122, Sept. 2010, S. 55-57 2

1. Die moderne kapitalistische Ökonomie maßlos, sorglos und blind für das Ganze (a) Im Kern der modernen Ökonomie verbirgt sich ein spezifisches Verständnis von Vernunft, von Rationalität. Maßlosigkeit mit diesem Begriff lässt sie sich kennzeichnen. Denn ökonomisch rational ist, was in möglichst kurzer Zeit so viel Profit wie möglich erbringt. Vernünftig ist Profitmaximierung, ausgedrückt in Geld. Geld, das ausgegeben wird, um mehr Geld zu werden, ist Kapital. Auf den Finanzmärkten wird das Profitmachen möglichst ohne Zwischenstufen wie Arbeit und Produktion versucht, ohne irgendein stoffliches oder soziales Maß. Auf der persönlichen Ebene drückt sich diese Maßlosigkeit als Gier aus. So wird die Gier der Manager heute vielfach kritisiert. Ja. Aber sie sind nur wie Marx es ausdrückte Charaktermasken dieses in seiner ureigensten Qualität maßlosen Kapitals 9. Dieses ist ja, wie Marx ebenfalls analysiert hat, gerade dadurch gekennzeichnet, dass es jedes Maß abgeworfen hat, dass es an keinerlei Qualität gebunden ist, dass es sich nur noch als Quantität auf sich selbst bezieht, als Wert heckender Wert. Kapital ist maßlos und die Akteure, in denen es sich personifiziert, sind es folglich auch. (b) Das zweite Kennzeichen dieser ökonomischen Rationalität ist Sorglosigkeit: Schon 1867 schrieb Marx: Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter. 10 Ja. Diese Profitmaximierungsrationalität (auf Seiten der KonsumentInnen ausgedrückt als Nutzenmaximierungsrationalität) kümmert sich nicht um den Erhalt der produktiven Grundlagen, sondern nutzt sie sorglos aus und zerstört sie dadurch. Aber: Marx spricht nur den Arbeiter an wie alle Männer seiner Zeit (und viele heute noch) vergisst er die sozial weibliche Care-Arbeit. Durch diese erst wird menschliches Leben ermöglicht, ihre Produktivität ist grundlegend für das Wirtschaften am Markt. Allerdings wurde und wird sie nicht als solche gesehen Care-Arbeit gilt bestenfalls als reproduktiv. Wie gegenüber dem anderen Element des Reproduktiven, der Natur, bleiben Theorie und Praxis des kapitalistischen Wirtschaftens blind für dieses Reproduktive. Genauer: Es wird nicht bewertet, aber ökonomisch alltäglich gebraucht, und gerade das wirkt so zerstörerisch und ruft Krisen hervor Krisen des Reproduktiven. Soziale und ökologische Krisen sind gleichursprünglich, sind Ausdruck dieser grundlegenden Systemfehler der Maßlosigkeit und der Sorglosigkeit gegenüber den lebendigen Grundlagen. (c) Aber: Ließen sich Maß und Sorglosigkeit nicht beheben? Könnten wir nicht alle einfach weniger verbrauchen und effizienter produzieren und so die Umwelt schonen? Ja, das können und müssen wir aber leider reicht das nicht. Denn der Kern des Problems liegt in dem oben schon angesprochenen heutigen Verständnis von Wirtschaft: Wirtschaften geschieht an, für und koordiniert über Märkte anderes zählt nicht. In diesem ganz engen Konzept von Ökonomie werden die Basisproduktivitäten (Naturproduktivität und Produktivität der sozial weiblichen Care-Arbeit) abgetrennt. Ökonomie wird ausschließlich verstanden als von diesen lebendigen Grundlagen unabhängige Marktökonomie. Und als Arbeit gilt nur Erwerbsarbeit. (d) Diese ökonomische Grundstruktur geht in der ökonomischen Theorie zurück auf Adam Smith (1723 1790), der bis heute als Vater der ökonomischen Wissenschaft gilt (eine Mutter wurde nie erwähnt!). Zentrale Begriffe sind bei ihm Arbeit und Produktivität. Letztere ist ausschließlich Produktivität der Waren produzierenden Arbeit, der Arbeit für den Markt, der 9 Marx, Karl 1972/1867: Das Kapital Bd. 1, Berlin: Dietz, S. 100 10 Ebenda, S. 529/530. 3

Erwerbsarbeit 11. Die Fülle sorgender, reproduktiver Arbeiten d. h. die ganze Care-Arbeit, wie wir es heute nennen - ist explizit davon ausgenommen. Dasselbe gilt für die produktiven Leistungen der Natur. Die Naturproduktivität wird zwar als Lieferantin des Stoffs der Gebrauchswerte der Waren benötigt, kommt jedoch in der Bewertung am Markt, an dem nur Tauschwerte zählen, nicht vor. Dasselbe gilt für die sozial weiblichen Leistungen bei der Herstellung der Ware Arbeitskraft sowie der nötigen Markt-Moral der männlichen Marktakteure, ohne die für Smith kein Markt funktionieren kann. Von Anbeginn der Entwicklung der ökonomischen Theorie der Moderne an wird somit der ökonomische Raum als autonomer Handlungsraum, als Markt, abgetrennt von ökologischen Prozessen und sozial-lebensweltlichen Tätigkeiten, verstanden. Der Begriff der Produktivität wird von Anfang an ohne seine reproduktiven Grundlagen definiert. Diese werden nicht bewertet, gehen in die ökonomische Kalkulation nicht ein werden aber als stabilisierende Grundlagen des von Smith entworfenen kapitalistischen marktökonomischen Systems gebraucht. Er setzt sie als unhinterfragte Existenzbedingungen seiner auf Märkte eingeengten Ökonomie voraus. (e) Die Theorieentwicklung geht zwar weiter diese Trennungsstruktur wird jedoch nicht aufgehoben, sondern vertieft. Zwar gibt es immer wieder auch kritische, das Abgespaltene integrierende Ansätze, sie werden jedoch nie zum Mainstream. Für zentrale ökonomische Kategorien können wir festhalten: Kategorien wie Arbeit, Produktivität, Wohlfahrt, ökonomisches Menschenbild, Rationalität beziehen sich auf dieses enge Ökonomiebild: Ökonomie = Marktökonomie Arbeit = Erwerbsarbeit Produktivität = Erwerbsarbeit Produktivität und Kapitalproduktivität Wohlfahrt = Warenwohlfahrt, gesteigert durch Wachstum. Indikator: Sozialprodukt Menschenbild = homo oeconomicus Rationalität = Effizienz, kurzfristige Maximierungsrationalität Natur und unbezahlte Sorgearbeit dagegen sind keine ökonomischen Kategorien. Sie werden vom Ökonomischen abgetrennt, dem Produktionsprozess für den Markt jedoch unhinterfragt vorausgesetzt. Dieser Dualismus enthält eine Hierarchie was am und für den Markt geschieht, ist Wert schaffend (produktiv) und daher wertvoll und bezahlt, sichtbar, öffentlich. Was jenseits des Marktes geschieht, ist un- oder bestenfalls reproduktiv, daher ohne Wert und unbezahlt, unsichtbar, privat. Und diese Hierarchie ist geschlechtlich konnotiert: Die Marktökonomie ist eher männlich, die unbezahlte Sorge- oder Care-Ökonomie bis heute eher weiblich. Männer managen oben, Frauen sorgen unten ja. (f) Aufgrund dieser Blindheit gegenüber dem Ganzen des Wirtschaftens, das gerade auch die sog. reproduktiven Kräfte einbezieht, kann die ökonomische Disziplin das, was ihr am meisten zugetraut wird, überhaupt nicht: Rechnen! Diese Ökonomie rechnet falsch! Sie rechnet weder die Leistungen von unbezahlter Care-Ökonomie noch die der Natur ein, und sie vernachlässigt vollständig die Kosten, die die Marktökonomie diesen beiden Bereichen aufbürdet. Ernst Ulrich v. Weizsäcker hat einmal gefordert: Die Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen ja, und die soziale auch. Nötig sind natur- und lebenserhaltende Preise und Löhne. Löhne ermöglichen Leben, sie sind Lebensmittel, nicht nur Kostenfaktor. 11 Vgl. Smith 1776 4

(g) Das falsches Rechnen setzt sich auf gesamtwirtschaftlicher Ebene fort: Im Sozialprodukt werden nur die in Geld bewerteten Waren (Güter und Dienstleistungen) der Marktökonomie erfasst. Auch hier kommen die Leistungen der unbezahlten Care-Arbeit und der Naur nicht vor. Und auch die Kosten, die diese Bereiche zu tragen haben, werden nicht berechnet. Dennoch gilt das Sozialprodukt nicht nur als Wachstumsindikator, sondern auch als Wohlfahrtsmaß, und sein Wachstum als Wohlfahrtssteigerung. Als Maß für Lebensqualität oder gutes Leben taugt es aber nichts, wie insbesondere die umfangreiche Studie von Richard Wilkinson und Kate Pickett 12 zeigt. Unter Auswertung aller verfügbarer Zahlen der UN und anderer internationaler Organisationen kommen sie zu dem Ergebnis: Je reicher eine Gesellschaft ist, desto geringer ist der Wohlfahrtsgewinn durch Steigerung des Sozialprodukts, durch Wachstum also. Dagegen geht es den Gesellschaften und zwar allen Gesellschaftsmitgliedern besser, in denen größere Gleichheit herrscht. Denn diese Gesellschaften haben in allen Bereichen (Kriminalität, Mädchenschwangerschaften, Schulversagen, Lebenserwartung, Gesundheit z. B.) weniger soziale Spannungen, weniger soziale Probleme, und die Menschen fühlen sich in diesen Gesellschaften mehr integriert, beteiligt und anerkannt. Die Lehre, die Wilkinson/ Picket aus dieser Studie ziehen, lautet: Gleichheit ist Glück, nicht Wachstum. Wenn wir mehr echte Lebensqualität wollen, dann dürfen wir nicht länger nach Wirtschaftswachstum und Wohlstand streben, sondern müssen uns Gedanken um die Verbesserung des psychischen und sozialen Wohlergehens unserer Gesellschaft insgesamt machen, schreiben sie 13. Es geht um Verteilung, und zwar im doppelten Sinne: Im Sinne von Umverteilung und im Sinne von Anerkennung. 14 (f) Sogar als Maß für ökonomisches Wachstum ist das Sozialprodukt falsch: Alternative Wohlfahrtskonzepte, die diese Leistungen und Kosten erfassen, machen deutlich: Wenn auch das in Geld ausgedrückte Sozialprodukt noch steigt, so wachsen wir doch schon lange nicht mehr! Diese Erkenntnis ist nicht neu insbesondere nicht in der feministischen Debatte. If Women Counted unter diesem Titel fasst Marilyn Waring schon 1988 eine Debatte zusammen und entwickelt sie weiter, die Frauen schon länger global geführt haben und in der die unbezahlte Care-Arbeit und die Natur mit ihren Leistungen erfasst werden. Neu aber ist, dass diese Erkenntnis jetzt in die Köpfe von Politikern vorgedrungen ist: Präsidenten Sarkozy hat eine Kommission eingesetzt, die inzwischen einen dicken Bericht erarbeitet hat 15. Und bei uns in Deutschland hat vor einem Jahr die Enquête-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität ihre Arbeit aufgenommen auch sie soll nach neuen Wohlstandsmaßen suchen. Aber wer sucht da? Männer, Männer, Männer unter den 17 Sachverständigen Mitgliedern war zunächst nicht eine einzige Frau. (Inzwischen hat die CDU einen Mann durch eine Frau ersetzt). Das ist nicht nur ein Lapsus, ein Ausrutscher das ist ein Skandal! What men value has brought us to the brink of death: What women find worthy may bring us back to life 16 so endet die Untersuchung von Waring und beschreibt gleichzeitig, worum es geht um die Bewertung aus der Perspektive von Lebensprozessen. Das kann nicht gelingen ohne Frauen. (f) Ein Beispiel: Eine Talkshow unter Beteiligung eines Managers und einer Krankenschwester. Der Manager verdient mehr als 1 Million Euro im Jahr, die Krankenschwester netto sicherlich nicht mehr als 25 000 Euro. Das sei richtig so, 12 Vgl. Wilkinson, Richard und Pickett, Kate 2009: Gleichheit ist glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin: Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins 13 Ebenda, S. 18 14 Vgl. zu diesem doppelten Gerechtigkeitsbegriff Fraser, Nancy 2001: 15 Der Report, den die Wissenschaftler 2009 vorgelegt haben, umfasst 291 Seiten. 16 Waring, Marilyn 1988: If Women Counted. A New Feminist Economics, New York: HarperCollins, S. 315 5

argumentiert der Manager, schließlich habe er seinem Unternehmen einen Gewinn von vielen Millionen gebracht. Und ich habe viele Leben erhalten, so die Krankenschwester. Und wer bewertet hier? Zwei Antworten: 1. Der Markt. Das sei das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, heißt es wenn das stimmen würde, müssten die meist weiblichen Arbeitskräfte in der Altenpflege heute viel höher bezahlt werden, da die Nachfrage groß ist. Warum geschieht das nicht? Weil sich die gesellschaftliche Abwertung der weiblichen Sorge-Arbeit auch in den marktlichen Bereich hineinschleppt das hierarchische Geschlechterverhältnis prägt leider auch den als so neutral angesehenen Markt. 2. Die Leistung. In unserer Gesellschaft ist offenbar die Leistung, viel Geld zu erwirtschaften, höher bewertet als die, Leben zu erhalten. (g) Ein anderes Beispiel: Die Atomenergie. Sie hat den großen Energiekonzernen riesige Profite gebracht hohe Wertschöpfung - für die gesellschaftlichen Kosten, insbesondere für den Atommüll, mussten sie nicht aufkommen. Und auch nicht für die Kosten, die zukünftige Generationen infolge der Gefährlichkeit dieses Mülls zu tragen haben. Im Gegenteil: Gegen den Beschluss der Bundesregierung zum Atomausstieg und damit zur Laufzeitverkürzung bereiten EON u. a. eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof vor sie sehen das Menschenrecht auf freie wirtschaftliche Betätigung verletzt! (h) Fazit: In diese Bewertungsprozesse gehen nicht nur nicht die sozialen und ökologischen Kosten dieser Wirtschaftsweise ein, sondern sie enthalten auch keinerlei Hinweis auf einen sorgenden, einen diese beiden grundlegenden Bereiche erhaltenden Blick. Das heißt: diese Wirtschaftsweise ist nicht zukunftsfähig. 2. Das Konzept sustainable development (nachhaltige Entwicklung) (a) Aber es geht um Zukunftsfähigkeit um eine nachhaltige Entwicklung, um sustainable deveopment. Und was ist das genau? Die World Commission for Environment and Development (WCED), nach ihrer Vorsitzenden, der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Go Harlem Brundtland kurz Brundtland-Kommission genannt, definierte sustainable development entworfen als zentrales internationales Gestaltungskonzept wie folgt: Sustainable development is development that meets the needs for the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs. It contains within it two key concepts: which overriding priority should be given; and the idea of limitations imposed by the state of technology and social organization on the environment s ability to meet present and future needs. (WCED 1987) 17 (b) Nachhaltigkeit ist Entwicklungsprinzip, das im doppelten Sinne Gerechtigkeit einfordert und somit im Kern selbst ein Gerechtigkeitskonzept (und damit ein normatives Konzept) darstellt: Wirtschafte heute so, dass auch zukünftige Generationen nach ihren Vorstellungen wirtschaften können (d. h. hinterlasse Deinen Ur-, Ur-, Ur- Enkeln eine produktive Natur) intergenerationale Gerechtigkeit. Und sorge dafür, dass die heute lebenden Generationen mindestens ihre Grundbedürfnisse befriedigen können intragenerationale Gerechtigkeit. Und der feministische Diskurs hat bald verdeutlicht, dass in beide Gerechtigkeitsvorstellungen die Geschlechtergerechtigkeit eingeschrieben ist. Hinzu kommt 17 Die deutsche Übersetzung dieses Berichts wurde unter dem Titel Unsere gemeinsame Zukunft 1987 von Volker Hauff herausgegeben. 6

eine Vorstellung von Umweltgerechtigkeit. Denn wenn uns die Natur, wie die Brundtland- Kommission es formulierte, absolute Grenzen setzt, dann gilt es zu klären: Wer darf wie viel Natur verbrauchen? Sind vor der Umwelt alle gleich (heißt Umweltgerechtigkeit z. B. das Recht auf gleichen CO2-Ausstoß für alle Menschen auf der Welt?) oder sind wir hier in den westlichen Industrieländern nicht doch ein bisschen gleicher? Nein, sind wir nicht. Die Aufgaben für uns, die Menschen in den Ländern des globalen Nordens, bestimmt dieses Konzept mindestens als Doppeltes: als Umverteilung zugunsten der Armen (intragenerationale Gerechtigkeit) und als Verringerung des eigenen Umweltverbrauchs (intergenerationale Gerechtigkeit). In der hier von mir angebotenen Sprache hieße das: Überwindung von Sorglosigkeit und Maßlosigkeit. (c) Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung beinhaltet die Aufforderung, sich um Andere zu sorgen um andere lebende Menschen und um andere zukünftige Generationen. Auf der Grundlage der Anerkennung ihrer Lebensbedürfnisse und Gestaltungsrechte sollen wir fürsorglich handeln, sollen dies im eigenen Handeln bedenken und respektieren. Das Konzept fordert somit auf, die natürlichen Grundlagen unseres Lebens und Wirtschaftens pfleglich zu behandeln, ihre Produktivität den heute Lebenden insgesamt zugute kommen zu lassen und sie für die zukünftigen Generationen zu erhalten. Erhalten (und dabei Erneuern) im Gestalten darum geht es. Damit ist das grundlegende ökonomische Handlungsprinzip für nachhaltiges, zukunftsfähiges Wirtschaften formuliert. Es fordert ein, das bisher Abgespaltene, das sog. Reproduktive, in den Blick zu nehmen mehr noch: es bewusst zu gestalten, damit es langfristig erhalten bleibt. 3. Vorsorgendes Wirtschaften Nun komme ich zum Kern meiner These: Eine die lebendigen Grundlagen erhaltende, auf die lange Frist ausgerichtete Ökonomie ist nicht nur nötig, sondern auch möglich und kann mithilfe des Konzepts vom Vorsorgenden Wirtschaften gestaltet werden. (a) Das Konzept beginnt mit einem Perspektivenwechsel, es blickt von den bisher als reproduktiv aus dem Ökonomischen ausgegrenzten Bereichen auf die Marktökonomie. So kommen nicht nur das Ganze des Wirtschaftens (neben der Marktökonomie ihr weiblicher Zwilling, die Care-Ökonomie) und das Ganze der Arbeit in den Blick, sondern auch deren geschlechtshierarchische und naturfeindliche Konstruktionen. Diese können jetzt kritisiert und verändert werden. Und Märkte sind, so gesehen, nicht in sich selbst funktionierende Mechanismen, nicht Akkumulationszweck, sondern Mittel für Lebenszwecke und als solche gesellschaftlich gestaltbar. Welche Märkte tun den Menschen und der Natur gut? Diese Frage kann jetzt gestellt und bearbeitet werden. Dasselbe gilt für das Geldsystem: Geld ist eine menschliche Erfindung. Es kann, klug gehandhabt, ein Hilfsmittel für die Koordination zahlloser ökonomischer Transaktionen zwischen gegenseitig unbekannten Menschen sein. Es gilt, die Geldverfassung so zu gestalten, dass daraus nicht wieder ein Selbstbedienungsladen für Zins- und Zinseszinsjäger werden kann. Geld muss Geld bleiben, und nicht zu Kapital mutieren. Geld als Lebensmittel eben. (b) Die theoretische Ausformulierung und die praktische Ausgestaltung von Vorsorgendem Wirtschaften stützen sich auf drei Handlungsprinzipien: Vorsorge, Kooperation und Orientierung am für ein gutes Leben Notwendigen 18. 18 Biesecker, Adelheid/ Matthes, Maite/ Schön, Susanne/ Scurrell, Babette (Hg.) 2000: Vorsorgendes Wirtschaften. Auf dem Weg zu einer Ökonomie des guten Lebens. Bielefeld: Kleine 7

Vorsorge: Entgegen dem in der ökonomischen Wissenschaft immer noch vorherrschenden Bild des homo oeconomicus (isoliert handelnder Nutzenmaximierer) werden die Menschen als in sozialen Beziehungen lebend betrachtet, als für sich und andere sorgend, wobei in dieses Sorgen die natürliche Mitwelt und zukünftige Generationen eingeschlossen sind. Sorgen nimmt die Bedürfnisse aller Beteiligten zum Ausgangspunkt. Aus dem Sorgen um die Zukunft entsteht die Vorsorge in der Gegenwart. Dabei sind Schonung und Nicht-Handeln Möglichkeiten effizienten ökonomischen Handelns. Insbesondere dort, wo es unbekannte Risiken gibt oder Nicht-Wissen, ist Vorsicht geboten, um zukünftige Generationen nicht zu beschädigen. Wie wenig dieses Prinzip in den reichen Ländern beachtet wird, sehen wir täglich die Atomkatastrophe in Japan vor einem Jahr führte uns das besonders drastisch vor Augen. Vor dem Unglück galt alles als beherrschbar wir haben alles im Griff jetzt aber ist gar nicht abzusehen, wie lange die atomare Verstrahlung das Leben der Menschen und der Natur gefährden wird. Nachsorge herrscht nicht Vorsorge. Kooperation: Kooperieren ist ein altes Prinzip der Care-Ökonomie und wird im Konzept Vorsorgendes Wirtschaften im Sinne einer vorsorgend-verantwortlichen Kooperation weiterentwickelt. Gemeint ist damit ein kooperatives Wirtschaften, in dem im gemeinsamen Verständigungsprozess nach lebensfreundlichen und naturverträglichen wirtschaftlichen Formen gesucht wird. Weil in diesem Verständigungsprozess als sprachlose Kooperationspartner_innen die natürliche Mitwelt und zukünftige Generationen einbezogen sind, kommt der Begriff Verantwortung mit herein. Verantwortung bedeutet eben, die Lebensinteressen dieser Kooperationspartner_innen gleichermaßen zu berücksichtigen. Diese Kooperation ist prozess-, nicht nur zielorientiert. Für den Umbau unserer Wirtschaftsweise in eine zukunftsfähige Ökonomie brauchen wir viele kooperationsfähige Menschen. Aber heute wird propagiert wird: Sei konkurrenzfähig. Konkurrenzfähig zu sein wird zum Selbstzweck, dem Soziales und Ökologisches untergeordnet wird. Mit dem Hinweis auf die Gefährdung der Konkurrenzfähigkeit werden zum Beispiel die Reallöhne niedrig gehalten und wird der Mindestlohn bekämpft und werden ökologische Schäden für industrielle Großprojekte in Kauf genommen. Nein nicht konkurrenzfähig, sondern kooperationsfähig müssen wir werden! Orientierung am für das gute Leben Notwendigen: Vorsorgendes Wirtschaften orientiert sich nicht an Wachstumsraten und individuellem Maximalgewinn, sondern an der Gestaltung eines guten Lebens für alle Beteiligten. Was zum guten Leben gehört, haben wir eben schon durch die Studie von Wilkinson/ Pickett gehört: Gerechtigkeit im Sinne von mehr Gleichheit. Aber dazu gehört noch mehr, wie zum Beispiel Martha Nussbaum mithilfe ihres Fähigkeitenansatzes deutlich gemacht hat 19. Gutes Leben wird von ihr verstanden als ein Leben, in dem die Menschen in der Lage sind, ihre Fähigkeiten zur Gestaltung ihres eigenen Lebens zu entwickeln. In dem sie fähig sind: ein lebenswertes Leben in normaler Länge und in guter Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit und mit Rücksicht auf die Natur zu führen und die Sinne und die Phantasie zu gebrauchen; Beziehungen zu anderen einzugehen und im sozialen Zusammenhang zu leben, zu lachen, zu spielen; eine eigene Vorstellung vom Guten zu entwickeln und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken; durch politische Partizipation das eigene Umfeld mitzugestalten; über Eigentum zu verfügen und das Recht auf einen menschenwürdigen Arbeitsplatz wie alle anderen auch zu haben. Dieses gute Leben ist gekennzeichnet durch Anerkennung, Selbständigkeit, Sicherheit und Freiheit. Seine je konkrete Ausgestaltung ist kulturell geprägt und daher vielfältig unterschiedlich und muss im gemeinsamen Diskurs 19 Nussbaum, Martha 1998: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit: Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: Steinfath, H. (Hg.): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 196-234. Vgl. auch dies. 2003: Frauen und Arbeit Der Fähigkeitenansatz. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu), Jg. 4 (2003), Heft 1, S. 8-31 8

immer wieder neu bestimmt und durch gesellschaftliche Regelungen ermöglicht werden. In diesen Diskursen geht es auch um die Überprüfung der Bedürfnisse und der Art ihrer Befriedigung. Gesellschaftliche Wohlfahrt ist so nicht allein monetär bestimmt, ist nicht ein-dimensional kalkulierbar, sondern kann nur viel-dimensional und vielfältig entwickelt werden. Werte werden nicht allein durch Produktion und bezahlte Erwerbsarbeit für den Markt geschaffen, sondern gerade auch durch unbezahlte Tätigkeiten: Diese zusammen mit der Produktivität der Natur sind die eigentlichen Wertschöpfer und Werterhalter. Es ist Sache der Gesellschaft, über demokratisch gestaltetet Prozess diese Qualitäten zu bewerten. Die zugrunde liegenden Werte werden dabei offen gelegt und dem Diskurs ausgesetzt vorsorgendes Wirtschaften ist bewusst auch ein normatives Konzept und beruht auf ethischen Grundlagen 20. (c) Indem über diese drei Handlungsprinzipien die soziale und die ökologische Dimension mit der ökonomischen verknüpft werden, wird das Ökonomische im Konzept des Vorsorgenden Wirtschaftens in seine grundlegenden Bereiche, in seine lebendigen Grundlagen (wieder) eingebettet. Dabei ist dieses Bett nicht ein für alle Mal gegeben, sondern durch wirtschaftliches Handeln ständig mitgestaltet. Menschliche Produktion verändert Natur, stellt ein gesellschaftliches Naturprodukt mit her (z. B. die Klimaerwärmung) dieses kann jetzt bewusst nachhaltig gestaltet werden. (d) Erhalten/ Erneuern im Gestalten so habe ich die neue Rationalität bezeichnet. Ja - die neue Ökonomie ist eine haushälterische Ökonomie. Die österreichische Philosophin Carola Meier-Seethaler macht darauf aufmerksam, dass solch haushälterische Vernunft sie nennt sie Besonnenheit 21 - auf zwei Säulen basiert, dem Denken und dem Fühlen. Und in der skandinavischen Debatte um Sorgearbeit hat sich der Begriff der Fürsorgerationalität herausgebildet. Damit ist eine Rationalität gemeint, die auf das Wohlbefinden der zu Umsorgenden seien es Menschen oder die Natur gerichtet ist. (e) Erhalten/Erneuern im Gestalten wie sieht das nun genauer in einer vorsorgenden Wirtschaftsweise aus? Wie werden die produktiven Kräfte dafür gebündelt, organisiert und bewertet? Diese Fragen führen hin zur Produktivitätstheorie der Konzeption vom Vorsorgenden Wirtschaften mit der Kenkategorie (Re)Produktivität. Der Perspektivenwechsel, den das Konzept des vorsorgenden Wirtschaftens beinhaltet, und die damit verbundene Einbettung des Ökonomischen in Ökologie und Soziales bedeuten auch, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen sog. produktiven und sog. reproduktiven Kräften. Vielmehr wird der gesellschaftliche Produktionsprozess als Einheit von Produktion und Reproduktion verstanden. Produktivität ist immer auch gleichzeitig Reproduktivität Herstellen geht einher mit Wiederherstellen. Um diese neue Qualität auszudrücken, haben Sabine Hofmeister und ich die Kategorie (Re)Produktivität entwickelt. Gemeint ist damit die prozessuale, nicht durch Abwertungen getrennte Einheit aller produktiven Prozesse in Natur und Gesellschaft, bei gleichzeitiger Unterschiedenheit. 22 (Re)Produktivität verweist damit auf ein qualitatives, an sozial-ökologischen Kriterien ausgerichtetes Produktivitätskonzept. Damit dehnt sich das Ökonomische aus es umfasst jetzt eben auch die Versorgungsökonomie (Care) und die ökologischen Produktionsräume. 20 Knobloch, Ulrike 2009: Geschlechterbewusste Wirtschaftsethik. www.gunda-wernerinstitut.de/web/wirtschaften-knobloch-geschlechterbewusste-wirtschaftsethik-1873.html 21 Meier-Seethaler, Carola 1997: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. München: Beck, S. 395. Vgl. auch dies. 2011: Ursprünge und Befreiung. Eine dissidente Kulturtheorie. Stuttgart: opus magnum, S. 469 ff. 22 Biesecker, Adelheid/ Hofmeister, Sabine 2006: Die Neuerfindung des Ökonomischen. Ein (re)produktionstheoretischer Beitrag zur Sozial-ökologischen Forschung. München: oekom, S. 19. 9

Noch bevor die menschliche Produktion und Konsumtion stattfinden können, hat die Natur schon produziert wir nennen die Ergebnisse dieser Quelle Ressourcen. Und nachdem Produktion und Konsumtion stattgefunden haben, gehen die Reststoffe wieder in die Natur wir nennen sie Abfälle. Diese werden wieder in Ressourcen verwandelt. Deutlich wird: die Trennung in Quelle von Ressourcen und Senke für Abfälle gibt es nicht es ist eine Natur. Und: Noch bevor der Industriearbeiter oder Manager mit seiner Erwerbsarbeit begonnen hat, ist schon viel Care-Arbeit geleistet worden meist von Frauen. Die ehem. als reproduktiv bezeichneten Prozesse sind somit jetzt als Basisproduktivitäten integriert. Diese neue Ökonomie wird durch gesellschaftliche (politische) Bewertungs- und Gestaltungsprozesse geprägt. Neue Produktions- und Konsumtionsprozesse und neue Bewertungen müssen gesellschaftlich gefunden werden. Das Primat der Politik über die Ökonomie kehrt zurück. 4. Von der Wachstums- zur Lebensorientierung: Neue Maßstäbe für den Transformationsprozess (a) In einer vorsorgenden Wirtschaftsweise ist das Ökonomische erweitert. Es umfasst jetzt mindestens drei Dimensionen: die ökologische, die soziale, die marktförmig-monetäre. Diese Integration bringt neue Maßstäbe des Wirtschaftens mit sich, Maßstäbe, die an die Stelle der Maßlosigkeit der kapitalistischen Ökonomie treten; Maßstäbe, die von den Lebensprozessen her gesetzt werden, denen vorsorgendes Wirtschaften dient; Maßstäbe, die den Transformationsprozess zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft steuern können. Drei dieser Maßstäbe möchte ich hier ansprechen: Sozial-ökologische Qualitäten von Produkten und Prozessen, Suffizienz und Geschlechtergerechtigkeit. (b) Sozial-ökologische Qualitäten: Wirtschaftliche Prozesse im Vorsorgenden Wirtschaften werden stofflich so gestaltet, dass die Reststoffe von der Natur aufgenommen und wieder in produktive Ressourcen verwandelt werden können. Diese ökologische Stoffpolitik basiert auf der Anerkennung der Natur als erste Produzentin und damit als Kooperationspartnerin der arbeitenden Menschen. Sie basiert weiter auf einer Kombination von Experten- und Alltagswissen bei der Suche nach naturverträglichen Produkten und Prozessen. Den Ingenieuren werden Alltagsexpert_innen an die Seite gestellt so lässt sich Neues nach Kriterien der langfristigen Lebensfähigkeit und nicht nur der Machbarkeit entwickeln. (Meine Hoffnung ist, dass so dem Machbarkeitswahn unserer meist männlichen Ingenieure ein Riegel vorgeschoben werden kann). Energetisch ist eine vorsorgende Ökonomie vor allem eine dezentrale Solar-Ökonomie. Schließlich gilt es, das Ganze der Arbeit neu zu gestalten: Alle Arbeitsprozesse müssen gemäß auszuhandelnder Kriterien von guter Arbeit organisiert werden. Das schließt eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, die Aufwertung der bezahlten und unbezahlten Care-Arbeit und die Umverteilung aller Arbeiten zwischen den Geschlechtern ein. Wir haben so viel zu tun in einer zukunftsfähigen Gesellschaft da können wir uns die langen Erwerbsarbeitszeiten einfach nicht mehr leisten! (c) Suffizienz: Oben hieß es: In den Diskursen (um die Ausgestaltung von gutem Leben ) geht es auch um die Überprüfung der Bedürfnisse und der Art ihrer Befriedigung. Das ist zum einen notwendig, weil die bisherige Wachstumsgesellschaft an das Prinzip des immer mehr haben wollen Müssens 23 gewöhnt ist. Wann lernen wir eigentlich, uns selbst zu beherrschen? Unsere maßlosen Bedürfnisse, die so viel Energie kosten? fragt Christa Wolf in dem Interview mit der ZEIT. Ja Wie sehen Lebensformen ohne diesen Konsumzwang aus? 23 Vgl. v. Winterfeld, Uta 2002: Reflexionen zur politischen Dimension von Suffizienz in sieben Dimensionen. In: Linz, Manfred et al.: Von nichts zu viel. Suffizienz gehört zur Zukunftsfähigkeit. Wuppertal Papers Nr. 125, S. 27-37 10

Ihre Entwicklung muss ausprobiert und politisch ermöglicht werden: z. B. durch ein Verkehrssystem, dass autofreies Leben möglich macht. Oder durch eine Stadtentwicklungspolitik, die eine Versorgung mit ökologischen Lebensmitteln sicherstellt. Oder durch Häuser der Eigenarbeit, wo gemeinsam etwas für den eigenen Bedarf hergestellt wird, was unabhängiger macht vom Konsumzwang. Oder durch Mehrgenerationenhäuser, in denen Alt und Jung miteinander und füreinander sorgen. Oder, oder, oder.. So kann sich das Recht auf Suffizienz gesellschaftlich festigen. Zunächst ist es ein Schutzrecht gegen den Wachstumszwang. Zum anderen folgt diese Überprüfung der Bedürfnisse aus den eben diskutierten Qualitätsanforderungen: Naturverträglichkeit bedeutet eben auch, die Grenzen der Naturproduktivität zu akzeptieren und sich in diese einzupassen: quantitativ, qualitativ, zeitlich und räumlich. Und zwar kooperativ einzupassen, nicht herrschaftlich. Hier entwickelt sich ein neues Naturverständnis, das jenes überwindet, dass heute vorherrschend ist und sich in einer Werbung des Gartenbauunternehmens OBI vom vergangenen Jahr drastisch ausdrückt: Gezeigt werden drei Männer der eine hockt am Boden und arbeitet in der Erde, der zweite steht und sät, und der dritte sitzt auf einem fahrbaren Rasenmäher oder einer ähnlichen Maschine. Und darunter steht: Kommen, säen, siegen! Gesellschaftliches Naturverhältnis als Kampf gegen die Natur, als Gewaltverhältnis das gilt es zu überwinden. (d) Geschlechtergerechtigkeit: Die trotz aller Verbesserungen bis heute prinzipiell andauernde geschlechtliche Hierarchie des Ökonomischen mit der darin enthaltenen Abwertung der sozial-weiblichen Care-Arbeit wird im Transformationsprozess weiter brüchig. Denn in einer vorsorgenden Wirtschaftsweise gibt es keine Rechtfertigung mehr für geschlechtsspezifische Zuordnungen und Abwertungen. Mehr noch: Abwertungen und Werte-Hierarchien sind ein Hindernis für die Ausgestaltung des Neuen. Denn hier werden gleiche Erfahrungen als Basis für die Kommunikation über die neue Wirtschaftsweise und die Diskurse über den allen unbekannten Weg dorthin gebraucht das ist nur mit einem paritätischen Geschlechterverhältnis zu machen. Geschlechtergerechtigkeit ist hier also nicht nur moralisches Anliegen, sondern Basisressource für die zukunftsfähige Ökonomie und Maßstab des Neuen. Ein Schritt dorthin ist die schon angesprochene Umverteilung der Arbeit. Eine vorsorgende Wirtschaftsweise braucht aber nicht nur Frauen in den Management-Etagen, sondern Männer in der Care-Arbeit: in der Kindererziehung, der Altenpflege, dem Haushalt. Ca. 50% der Care-Arbeit gehört den Männern, sie haben das nur bis heute noch nicht eingefordert. Die Sozialwissenschaftlerin Ute Gerhard beschrieb den hiermit verbundenen Tranformationsprozess so: Im Grunde geht es also nicht um einen Nachholbedarf oder die Anpassungsleistungen von Frauen an die Erfordernisse des Marktes, sondern die Einübung in eine soziale Praxis der Anteilnahme, anders gesagt, um die Zivilisierung auch des männlichen Ichs 24. Ja. 5. Ein neuer Gesellschaftsvertrag Die Überlegungen bis hierher haben deutlich gemacht: Die Frage nach Wachstum stellt sich nicht, wenn vorsorgend gewirtschaftet wird. Wachsen und Schrumpfen sind ganz unpassende Begriffe für eine Wirtschaftsweise, die ihre Aufgabe in der langfristigen Sicherung von Lebensprozessen der Menschen und der Natur sieht. Vorsorgendes Wirtschaften orientiert sich an diesen Lebensprozessen. Leben verändert sich ständig eine Gesellschaft, die vorsorgend wirtschaftet, schafft diesem Leben Raum und bringt das zum Wachsen, was zukunftsfähig ist. 24 Gerhard, Ute 2008: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Care. In: Senghaas-Knobloch, Eva, Kumbruck, Christel (Hg.): Vom Liebesdienst zur liebevollen Pflege. Rehburg-Loccum, S. 13-30, S. 26 11

Nachhaltigkeit ist nicht nur eine ökonomische Aufgabe der Transformationsprozess dorthin umfasst die ganze Gesellschaft. Daher spricht der WBGU von einem neuen Gesellschaftsvertrag für die Transformation zur Nachhaltigkeit. Was ist damit gmeint? Gesellschaftsverträge prägen die Art und Weise, wie sich ein politisches Gemeinwesen, eine Gesellschaft, durch die gemeinsam vereinbarten Regeln konstituiert. Sie bestimmen damit auch die gültigen Konzepte des Politischen und des Ökonomischen. Der Begriff Gesellschaftsvertrag bezeichnet in der klassischen Vertragstheorie jenen hypothetischen Akt, mit welchem Individuen auf einvernehmlicher Grundlage den natürlichen Mangel an politischen Institutionen überwunden und ihr Miteinander den verbindlichen Regeln einer kollektiven Ordnung unterworfen haben 25. Durch solche Verträge werden Formen politischer Herrschaft und ökonomischer Tätigkeiten und Strukturen legitimiert, ohne dass die Zustimmung aller dazu eingeholt worden wäre. Die Zustimmung aller ist vielmehr eine Fiktion, die erst durch die Demokratisierung politischer Herrschaft und die Beteiligung aller plausibel wird. Der WBGU schlägt vor, in dem neuen Gesellschaftsvertrag drei Dinge zu kombinieren: eine Kultur der Achtsamkeit (aus ökologischer Verantwortung) eine Kultur der Teilhabe (aus demokratischer Verantwortung) eine Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen (Zukunftsverantwortung) Und wer sind die Akteure? Alle alle können Pioniere des Wandels sein, wie der WBGU sie nennt. Der WBGU selbst sieht als zentralen Akteur den gestaltenden Staat mit drei Aufgaben: Prioritäten setzen für den Transformationsprozess, der Wirtschaft Handlungsoptionen für Nachhaltigkeit bieten und: die Bürger_innen partizipieren lassen, die Partizipationsmöglichkeiten ausbauen. Letzteres ist aus zwei Gründen nötig: Zum einen wird es auf dem Weg zur Nachhaltigkeit vielfältige Konflikte geben, die sich nur demokratischpartizipativ behandeln lassen. Und zum anderen: Wir wissen nicht, wie eine nachhaltige Gesellschaft einmal aussehen wird. Da brauchen wir jede Stimme. Wie auch immer die neuen demokratischen Formen aussehen die Umgestaltungsaufgabe ist umfassend. Alle unserer Gewohnheiten und Institutionen stehen auf dem Prüfstand es geht um eine neue Kultur, die Kultur der Nachhaltigkeit. Für sie werden alle gebraucht eine nachhaltige Gesellschaft schließt niemanden aus. 6. Vorsorgendes Wirtschaften in der Praxis - viele kleine neue Gesellschaftsverträge Wie aber kommen wir zu einem solchen neuen Gesellschaftsvertrag für Nachhaltigkeit? Geht es um ein von Fachleuten ausgearbeitetes einheitliches Dokument? Und mit dessen Hilfe um einen einmaligen Kraftakt? Nein, so funktioniert die Transformation zur Nachhaltigkeit nicht. Der neue Gesellschaftsvertrag entsteht nicht in einem großen Wurf, sondern durch viele Projekte und Initiativen in der gesellschaftlichen Praxis durch viele kleine neue Gesellschaftsverträge. Diese neuen Gesellschaftsverträge praktizieren eine oder mehrere der oben genannten Qualitäten der Grundstruktur einer nachhaltigen Gesellschaft im Kleinen z. B. neue 25 Reitzig, Jörg 2005: Gesellschaftsvertrag, Gerechtigkeit, Arbeit. Eine hegemonietheoretische Analyse zur Debatte um einen Neuen Gesellschaftsvertrag im postfordistischen Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 17 12

Bewertungen oder Verteilungen von Arbeiten, neue Verhältnisbestimmungen von Einkommen und Arbeit, neue Formen solidarischer sozialer Sicherung oder kooperativer Daseinsvorsorge, Formen des pflegenden, erhaltenden und nachhaltig gestaltenden Umgangs mit der Natur, basisdemokratische Aktivitäten oder solche gegen Ausschlüsse, z. B. gegen Fremdenfeindlichkeit. Die Praxis kennt schon viele Beispiele einige seien hier abschließend genannt. Beispiel 1: Neue Bewertungen z. B. Gemeinwohlbilanzen Seit zwei bis drei Jahren gibt es eine Bewegung unter kleinen und mittleren Unternehmen, ihre Tätigkeit anders als bisher zu bewerten. Neben die herkömmliche Bilanz setzen sie eine Gemeinwohlbilanz mit der Transformationsperspektive, die herkömmliche Bilanz dadurch längerfristig zu ersetzen. Hier wird der Erfolg nicht am finanziellen Gewinn gemessen, sondern am Beitrag des Unternehmens zu Menschenwürde, Solidarität, Ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Demokratischer Mitbestimmung & Transparenz. Die Bezugsgruppen, auf die sich diese Kriterien beziehen, sind die Mitarbeiter_innen und Eigentümer_innen, die Kundinnen und Kunden sowie das gesellschaftliche Umfeld. Und bezüglich der Lieferanten und Geldgeber_innen werden ethisches Beschaffungsmanagement und ethisches Finanzmanagement bewertet. Insgesamt besteht das Bewertungssystem aus 18 Kriterien, die auch einen branchenübergreifenden Vergleich ermöglichen sollen. Ideengeber für dieses neue Bewertungssystem ist Christian Felber mit seinem Konzept der Gemeinwohl- Ökonomie 26. Bisher beteiligen sich an diesem System laut website 27 428 Unternehmen (Abruf vom 14.11.11). Kooperation und Gemeinwohlorientierung sind zentrale Handlungsprinzipien. Beispiel 2: Regionale Entwicklung statt Wachstum z. B. Energieautonome Regionen Die Energiewende der Bundesregierung bleibt in der großindustriellen Logik riesige Windparks produzieren Strom, der durch riesige Leitungssysteme nach Süden transportiert wird während riesige Solarfabriken Strom produzieren, der durch ebenfalls riesige Leitungssysteme von Süden nach Norden transportiert wird. Das Sagen haben weiterhin die großen Konzerne. Die sozialen und ökologischen Schäden dieser Großindustrie tragen die Menschen und die Natur. Warum werden Sonne und Wind nicht dort genutzt, wo sie wirken an vielen Orten, in vielen Regionen? Das bedeutete Dezentralisierung und Demokratisierung. Dass und wie das möglich ist, zeigt die reale Bewegung der energieautonomen Regionen. Beispiele für diese oder solche, die es werden wollen, finden sich weltweit zu Hauff. Als Paradebeispiel in Europa gilt die Region Güssing im Südburgenland von Österreich mit ca. 27 000 Einwohnern. Aber auch in Deutschland, insbesondere in dem ostdeutschen Bundesland Sachsen, finden sich zahlreiche Regionen, die sich auf den Weg hin zu einer energieautonomen Region gemacht haben. 28 Das Konzept wird seit 2006 stark gemacht von einem Verein, der dazu eine website betreibt. 29 Er hat die Vision Deutschland energieautark im Jahr 2040 entworfen. In der dazu gehörenden Erklärung heißt es auf der website: Unter dem Begriff energieautark beziehungsweise energieautonom verstehen wir, den Energieverbrauch einer Einheit soweit wie möglich mit erneuerbaren Energiequellen vor Ort zu decken. Energieautonome Regionen vertrauen auf ihre eigenen Quellen für die Versorgung mit erneuerbaren Energien (Sonne, Wind, Biomasse z. B.) und setzen bei der Entwicklung des 26 Felber, Christian 2010: Die Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Deutick. 27 www.gemeinwohl-oekonomie.com 28 Z. B. die Regionen Aarberger Land, Bautzen Oberland, Vogtland und Westlausitz. 29 www.deutschlandenergieautark.de 13

entsprechenden Versorgungssystems auf eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft. Denn eingebunden werden Handwerk und Landwirtschaft vor Ort. Und auch die Kaufkraft, hier: für den Kauf von Energie, bleibt in der Region. Überhaupt basiert diese Art der Regionalentwicklung auf Kooperationen. So heißt es im Zwischenbericht über das erste Projektjahr bezüglich der Entwicklung der energieautarken Region Gurgltal von 2008: 30 Die Einbeziehung der Wirtschaft, Politik, Energieexperten und Bürger_innen ist eines der wichtigsten Parameter. Und: Die Weisheit der Vielen ist eine Theorie, die besagt, dass unter bestimmten Bedingungen der Mittelwert einer Gruppenmeinung der Realität näher kommt als die Expertise des oder der besten Expertin der Gruppe. 31 Alle werden hier gebraucht, um das Neue zu entwickeln. Beispiel 3: Mittendrin statt am Rande Soziale Innovationen für das Altern Angesichts des Älterwerdens und der drohenden Vereinsamung und Verarmung entwickeln sich gegenwärtig zahlreiche Initiativen zur gegenseitigen Fürsorge im Alter. Eva Lang und Theresia Wintergerst haben einige von ihnen dargestellt und untersucht 32 und stießen auf eine Vielfalt des Gebens und Nehmens 33. Hier möchte ich nur auf ein Beispiel eingehen: Die Bürgergemeinschaft Eichstetten. Das Dorf übernimmt den Generationenvertrag mit diesem Motto des Bürgermeisters begann das Projekt vor 17 Jahren. Es hat sich eine Bürgergemeinschaft als Verein gegründet, der heute Träger von Einrichtungen des betreuten Wohnens, der Nachbarschaftshilfe, einer Tagesstätte und von Wohngruppen ist. Andere Sorgeleistungen sind inzwischen dazugekommen Familiendienstleistungen wir Kinderbetreuung oder Einsatz bei Krankheit der Eltern. Ein Bürgerbüro ist Anlaufstelle für alle, koordiniert die Leistungen und bietet auch kulturelle Programme an. Insgesamt bietet die Bürgergemeinschaft in enger Kooperation mit der Kommune kommunale Sorgeleistungen in einer Kombination aus gesellschaftlichen, ambulanten und stationären Pflegearrangements an. Die Tätigen sind 50 Mitarbeiter_innen (davon 4 Männer) auf Zuverdienstbasis sowie eine Vielzahl von ehrenamtlichen Kräften. Ihr Sorge-Prinzip ist das eines partnerschaftlichen Pflegeverständnisses. Hier ist eine Welt des guten Lebens im Alter aufgebaut, in der alt zu werden nicht eine Last, sondern ein Glück ist: Es ist eine Welt, die nicht der Zeit-ist-Geld- Logik folgt, sondern in der es Zeit für den Ausbau von Beziehungen (gibt), Zeit für das Dasein, Zeit für Sorgetätigkeiten und Spielräume einer flexiblen Zeitverwendung 34. Und es ist eine Welt in einem überschaubaren Sozialraum. Allerdings ist es immer noch eine Welt, in der vor allem Frauen für wenig Lohn tätig sind. Da gibt es noch viel vorsorgend zu verändern. Schlusswort Sie sehen - vorsorgendes Wirtschaften ist keine Utopie, sondern eine Wirtschaftsweise auf dem Weg der Verwirklichung. Aber: Können wir das? Schaffen wir das? Der WBGU spricht von einem umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht. Und er zitiert den Philosophen Seneca mit den Worten: Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer. 35 In all den genannten Projekten, die die Transformation hin zu einer vorsorgenden Wirtschaftsweise auf den Weg bringen, wird viel gewagt in ihnen steckt viel Kraft. Und 30 Energieautonome Region Gurgltal. Vision oder Wirklichkeit? Lass Dich anstecken. Ein Zwischenbericht über das erste Projektjahr. pdf im Internet, Abruf vom 7.8.11, S. 11 31 ebenda, S. 12 32 Lang, Eva/ Wintergerst, Theresia 2011: Am Puls des langen Lebens. Soziale Innovationen für die alternde Gesellschaft. München: oekom 33 Ebenda, S. 65 34 Lang/Wintergerst 2011, S. 127 35 Seneca (1-65 n. Chr.), zit. nach WBGU 2011 14