Deutscher Kongress für Versorgungsforschung Innovationstransfer in der modernen Medizin angesichts begrenzter Ressourcen Köln, 18. Oktober 2008 Zugangsmöglichkeiten zu Innovationen angesichts sozialer Ungleichheit Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Fragestellungen angesichts eines Paradoxons Paradoxon: Trotz umfangreicher gesetzlicher und privater Krankenversicherung und trotz eines hohen Niveaus medizinischer Versorgung bestehen relevante soziale Unterschiede der Morbidität und Mortalität der deutschen Bevölkerung (sozialer Gradient!) Fragestellungen: Wie ausgeprägt ist der soziale Gradient von Mortalität in Deutschland? Wie lässt er sich erklären, speziell: Welches Gewicht kommt dem medizinischen Versorgungssystem zu? Worauf lassen sich entsprechende Ungleichheiten zurückführen und was kann dagegen getan werden?
Die wichtigsten Determinanten der Gesundheit Physisches und soziales Umfeld Gesundheitsbezogenes Verhalten Gesundheit Genetischer Code und Genexpression Prä- und postnatale Gefährdungen
Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Lebenserwartung Massiver Unterschied der Lebenserwartung zwischen niedrigster und höchster Sozialschicht (Daten für Männer im Zeitraum 1990-2000): Schweiz: 4,4 Jahre Finnland: 6,9 Jahre Großbritannien: 9,5 Jahre Sozialer Gradient von Krankheit und Frühsterblichkeit: je niedriger die soziale Schichtzugehörigkeit, desto höher Morbidität und Mortalität Wachsende Kluft Wachsende Kluft zwischen sozial privilegierten und sozial benachteiligten Gruppen (z.b. Einkommensdisparität)
Vorzeitige Sterblichkeit vor dem 65. Lebensjahr nach Einkommen und Geschlecht: Deutschland 1995-2005 Männer Quelle: T. Lampert et al 2007; SOEP
Vorzeitige Sterblichkeit vor dem 65. Lebensjahr nach Einkommen und Geschlecht: Deutschland 1995-2005 Frauen Quelle: T. Lampert et al 2007; SOEP
Sterberate (rate ratio; 25 Jahre) nach Höhe der beruflichen Stellung (Whitehall-Studie; N=18.000) Sterberate (rate ratio) 2,2 2 1,8 1,6 1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 40-64 Jahre leitende Dienste gehobene einfache Un-/Angelernte 64-69 Jahre 70-89 Jahre Quelle: M. Marmot & M.J. Shipley (1996), Brit Med J, 313: 1177.
Relatives Risiko der KHK bei berufstätigen Frauen nach Höhe der beruflichen Stellung (Stockholm-Studie) 4,5 4 3,5 3,4 3,9 Relatives Risiko 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 2,0 2,7 1 1 1,7 2,0 2,5 2,6 Management / akademische Tätigkeit Leitende Angestellte Selbständige, Büroangestellte und Verkäuferinnen Manuelle Tätigkeit / Ausbildungsberuf Un- und Angelernte kontrolliert für Alter kontrolliert für Alter, Rauchen, Blutdruck, Lipide, Körpergröße, Übergewicht, Menopause, Bewegung Quelle: S. Wamala (2000), Soc Sci Med, 51: 481.
Erklärungsansätze des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität Unterschiede individueller Disposition (genetische Veranlagung, intrauterine Entwicklung, frühe Sozialisationserfahrungen) Unterschiedliche Häufigkeit gesundheitsschädigender digender Verhaltensweisen (v.a. Zigaretten, Alkohol, ungesunde Ernährung, Bewegungsarmut) Chronische materielle und psychosoziale Belastungen (Schwerpunkt Berufsleben) Unterschiede im Zugang zu und in der Qualität medizinischer Behandlung
Soziale Ungleichheit im Versorgungssystem bei Vorsorgeuntersuchungen Soziale Schicht und Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen: NRW (Odds Ratios* und 95% KI) Männer Frauen Oberschicht 1,00 1,00 Mittelschicht 0,93 (0,59-1,47) 0,71 (0,49-1,03) Unterschicht 0,37 (0,20-0,72) 0,41 (0,27-0,63) * Kontrolliert für Alter Quelle: Richter et al. 2002
Soziale Ungleichheit im Versorgungssystem bei Bewertung wichtiger Informationen: Beispiel Arzneimittelinformationen Marstedt & Amhof (2008) Bertelsmann Gesundheitsmonitor. 3/08.
Soziale Ungleichheit im Versorgungssystem bei out of pocket Ausgaben Erwerb eines frei verkäuflichen Medikamentes in den letzten 12 Mon. (%) - Bayrische Bevölkerung 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 O M U Schicht Abi kein Abi >3500 <3500 DM DM Quelle: Röckl-Wiedmann et al. 2002
Source: Koivusalo & Mackintosh (2005) nach: WHO. Closing the gap in a generation. 2008
Soziale Ungleichheit im Versorgungssystem: Wahrscheinlichkeit einer Revaskularisierung nach Myokardinfarkt, nach Einkommensklasse Quelle: Rosvall et al. (2008) BMC Public Health
Soziale Ungleichheit im Versorgungssystem: Ansatzpunkte zur Verringerung Vorsorge: Zielgruppenspezifische Motivation; schichtspezifische Sozialisationsstile! Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen: Intensivierte Kommunikation unter Nutzung wirksamer medialer Angebote; schichtspezifische Sprachcodes! Private Zuzahlungen: Gesetzliche Regelungen; Zuzahlungen bei definierten Gruppen Wirksamkeit von Therapien: Erhöhung der Compliance, Intensivierung gesundheitsförderlichen Verhaltens, Abbau pathogener Belastungen Zugang zu therapeutischen Innovationen: Gesundheitspolitische Gestaltungsmaßnahmen, um Bedarf und Angebot besser zur Deckung zu bringen
Koronare Herzkrankheit und Depression Bis zum Jahr 2020 werden Depression und Koronare Herzkrankheit weltweit die führenden Ursachen vorzeitigen Todes und durch Behinderung eingeschränkter Lebensjahre sein. (Murray and Lopez 1996)
Erklärungsansatz III: Chronische materielle und psychosoziale Belastungen (Wohnumfeld, berufliche und familiäre Situation) Materielle Benachteiligung (z.b. deprivierte Wohnlage) Prekäre Einkommens- und Beschäftigungssituation Schwaches soziales Netzwerk Belastende Arbeitsbedingungen (v.a. psychosoziale Stressbelastung: Anforderungs- Kontroll-Modell; Modell beruflicher Gratifikationskrisen) Verminderte Bewältigungspotenziale
Mortalitätsrisiko (Herz-Kreislauf-Krankheiten) in Abhängigkeit von psychosozialen Arbeitsbelastungen Nmax=812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre Hazard ratio # 2,5 2 1,5 1 0,5 * 1 2 3 1 2 3 Anforderungs-Kontroll- Modell Modell beruflicher Gratifikationskrisen Quelle: M. Kivimäki et al. (2002), BMJ, 325: 857. * Terzile (Belastung): 1 = keine; 2 = mittlere; 3 = hohe # adj. für Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Rauchen, körperliche Aktivität, systol. Blutdruck, Cholesterin, BMI
Arbeitsstress, SES und Depression (HNR Studie, Basiserhebung N=1811 Männer und Frauen zwischen 45-65 Jahre alt) 8 7 6 Synergie index - 1.99 [1.02-3.85] * Odds ratio 5 4 3 * 2 1 0 low ERI / high position low ERI / low position high ERI / high position high ERI / low position Source: N. Wege et al. (2008), JECH (62):338-341
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