Die traditionelle Analyse des Wissensbegriffs:

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1 (A) ZUR ANALYSE DES WISSENSBEGRIFFS Die traditionelle Analyse des Wissensbegriffs: S weiss, dass p genau dann wenn gilt: (B1) S glaubt, dass p (B2) p ist wahr. (B3) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p. Jede der 3 Bedingungen ist demnach notwendig für Wissen. Alle drei Bedingungen gemeinsam (d.h. die Konjunktion der drei Bedingungen) sind demnach hinreichend für Wissen. Zur Frage ob die drei Bedingungen gemeinsam hinreichend sind (das Gettier-Problem) Sogenannte Gettier-Beispiele belegen: Es gibt Fälle von gerechtfertigtem, wahren Glauben (d.h. alle drei Bedingungen B1-B3 sind erfüllt), in denen aber nach unserem intuitiven Urteil kein Wissen vorliegt.

2 Beispiel 1 (Gettier, 1963): (a) Smith glaubt dass Jones einen Ford besitzt, weil (b) Jones es ihm gesagt hat, er ihn oft mit dem Ford gesehen hat, er keinen Grund hat Jones zu misstrauen... (c) Smith hat keine Ahnung, wo sich Brown aufhält. (d) Brown ist in Barcelona. (e) Jones hat den Ford inzwischen verkauft, aber Smith hat nichts davon erfahren. (f) Smith ist rational. Wir betrachten die Frage, ob Smith Wissen hat bezüglich der folgenden Proposition: (p) Jones besitzt einen Ford oder Brown ist in Barcelona. Allgemeine Prinzipien: (i) Eine rationale Person, die glaubt, dass p1, glaubt auch, dass p1 oder p2. (ii) Wenn eine Person gerechtfertigt ist zu glauben, dass p1, dann ist sie auch gerechtfertigt zu glauben, dass p1 oder p2. Im Beispiel ist (B1) erfüllt (vgl. (a), (f) und das Prinzip (i)) und (B2) erfüllt (vgl. (d) und p) und es ist (B3) erfüllt (vgl. (b) und (ii)) Aber: Intuitiv ist klar, dass Smith kein Wissen hat in Bezug auf p. 1. Verbesserungsvorschlag: Hinzuzufügen ist als weitere Bedingung in der Definition von Wissen: (B4a) Die Überzeugung von S, dass p, beruht auf keiner falschen Überzeugung.

3 Gegenbeispiel gegen diesen 1. Verbesserungsvorschlag. Beispiel 2 (Alvin Goldman, 1976): (a) Anton fährt durch eine Landschaft und sieht neben der Strasse bei gutem Licht und geringer Entfernung etwas, was er für eine Hütte hält. (b) Tatsächlich ist es eine Hütte. (c) Allerdings stehen in dieser Landschaft eine ganze Menge realistische Hüttenattrappen, die man aufgestellt hat, um die vorüberfahrenden Autofahrer zu täuschen. Im Beispiel sind (B1) erfüllt (vgl. (a)) (B2) erfüllt (vgl. (b)) (B3) erfüllt (vgl. (a)) und (B4a) erfüllt (vgl (a)). 2. Verbesserungsvorschlag: Hinzuzufügen ist (B4b) (B4b) Es gibt keine wahre Proposition q sodass gilt: wenn S erfahren würde dass q, so wäre S nicht mehr gerechtfertigt zu glauben, dass p. Terminologische Bemerkung: q ist ein 'defeater' (Entkräfter) der gerechtfertigten Meinung von S, dass p, genau dann wenn gilt: q ist wahr und S wäre nicht mehr gerechtfertigt zu glauben, dass p, wenn S erfahren würde, dass q.

4 Beispiel 3 (Keith Lehrer, Thomas Paxon, 1966): (a) Maria sah eine Person, die sie als Tom Grabit zu erkennen glaubte, in einer Bibliothek beim Bücherklauen. (b) Maria kennt Tom Grabit gut, die Person sah genau aus wie Tom Grabit. (c) Die Person, die Maria beobachtet hat, war Tom Grabit und er hat bei dieser Gelegenheit tatsächlich ein Buch gestohlen. (d) Es liegt eine Zeugenaussage der Mutter von Tom Grabit vor, nach welcher Tom Grabit an diesem Tag im Ausland war und einen Zwillingsbruder John Grabit hat, der genau aussieht wie Tom Grabit. (e) Maria weiss nicht von dieser Zeugenaussage. (f) Es liegt ein Arztzeugnis vor, nach welchem Frau Grabit (Tom's Mutter) eine pathologische Lügnerin ist und John Grabit ein Produkt ihrer Phantasie. (g) Maria weiss nichts von diesem Arztzeugnis. In Beispiel 3 sind (B1) erfüllt, wegen (a), (B2) erfüllt, wegen (c) (B3) erfüllt, wegen (b) und (B4b) nicht erfüllt (wegen (d)). Nach dem 2. Verbesserungsvorschlag wäre Marias Meinung, dass Tom Grabit ein Buch gestohlen hat, kein Wissen. Aber wegen (f) hat man die Intuition, dass sie weiss, dass er der Dieb ist.

5 3. Verbesserungsvorschlag (Pollock): (B3) ist zu ersetzen durch: (B3*) S ist objektiv gerechtfertigt zu glauben, dass p. Intuitive Idee (vgl. Pollock, 1987, 185-189): Alle potentiellen Entkräfter der ursprünglichen Rechtfertigung würden letztlich wieder aufgehoben, wenn die Person nur hinreichend viele zusätzliche Informationen hätte. (Die genaue Definition objektiver Rechtfertigung ist ziemlich kompliziert.) Gegenbeispiel gegen diesen 3. Vorschlag: Beispiel 4 (Harman, 1968, 1980; Sosa, 1964): (a) Mary glaubt, dass Norman in Italien ist. (b) Man gibt ihr diese Auskunft, als sie bei ihm in der Arbeit anruft. (c) Norman ist in Italien. (d) Norman wollte Mary aber täuschen und liess von einem Freund einen Brief an sie in San Francisco einwerfen, damit sie glaubt, dass er in San Francisco ist. (e) Diesen Brief hat Mary aus Vergesslichkeit noch nicht angesehen. Er liegt seit Tagen auf ihrem Schreibtisch. In diesem Beispiel ist B1 erfüllt (vgl (a)) B2 erfüllt (vgl. (c)) B3* erfüllt (vgl. (b) und (d)) (Alle defeater würden bei hinreichendem Wissen wieder 'aufgehoben'.) Aber intuitiv wird man (wegen (e)) urteilen, dass Mary nicht weiss, dass Norman in Rom ist.

6 4. Verbesserungsvorschlag (Pollock) Es ist zu B1, B2 und B3* hinzuzufügen: (B4d) S verletzt keine konventionell verankerten epistemischen Normen. Zur Motivation der These verwendet er zwei Varianten von Beispiel 4: In beiden Varianten wurde der Brief unter die Fussmatte vor Mary's Wohnung gelegt. In der ersten Variante ist dies in der Gesellschaft, der Mary angehört, üblich, in der zweiten nicht. Wenn Mary einer Gesellschaft angehört, in der man üblicherweise Briefe unter Fussmatten legt, so hätte sie nachsehen sollen (konventionell verankterte epistemische Norm, d.h. B4d ist verletzt). Lebt sie in einer Gesellschaft, in der dies nicht üblich ist, so hat sie keine solche epistemische Verpflichtung (B4d ist erfüllt). Intuitive Beurteilung (in Übereinstimmung mit dem Vorschlag): im ersten Fall ist ihre Meinung kein Wissen, im zweiten Fall schon.

7 Beispiel 7 widerlegt den 3. Verbesserungsvorschlag, denn: (B1) Mary glaubt, dass Norman in Italien ist. (B2) Norman ist in Italien. (B3*) Mary ist objektiv gerechtfertigt zu glauben, dass Norman in Italien ist. (B3*) gilt im betrachteten Fall, weil es für jede wahre Proposition q, für die gilt, dass Mary, wenn sie von ihr erfährt, nicht mehr gerechtfertigt wäre zu glauben, dass Norman in Italien ist, eine weitere Proposition q gibt, welche die Rechtfertigung sozusagen wieder herstellt (und weil durch weiteres Hinzugewinnen an Informationen dies nicht wieder rückgängig gemacht wird). Zum Beispiel könnte q sein, dass der Brief in San Francisco abgestempelt ist und q, dass er nicht von Norman eingeworfen wurde. Vorschlag Pollock: Hinzuzufügen ist als weitere Bedingung, dass das epistemische Subjekt keine der sozial verankerten epistemischen Normen verletzt. Solche epistemischen Normen besagen, wie oft und in welcher Weise man sich zu informieren hat (dass man z.b. die Post öffnet, gelegentlich eine Zeitung liest...). Pollock belegt diesen Vorschlag durch den Vergleich der folgenden zwei Varianten des obigen Falls: Variante (a): Man hat Mary diesen Brief unter die Fussmatte vor der Türe gelegt. Mary lebt in einer Gesellschaft in der es nicht üblich ist Briefe unter Fussmatten zu hinterlegen. Varainte (b) Man hat Mary diesen Brief unter die Fussmatte vor der Türe gelegt. Mary lebt in einer Gesellschaft in der es üblich ist Briefe unter Fussmatten zu hinterlegen. Behauptung (Pollock): In Variante (a) hat Mary das fragliche Wissen und in Variante (b) hat sie es nicht. Der Unterschied

zwischen beiden Beispielen scheint aber nur zu sein, dass sie nicht in (a), wohl aber in (b) ihre sozial verankerten epistemischen Verpflichtungen verletzt hat. 8

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