Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) (anonym veröffentlicht, Kant als Urheber vemutet)

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Transkript:

Vorlesung Der Begriff der Person : WS 2008/09 PD Dr. Dirk Solies Begleitendes Thesenpapier nur für Studierende gedacht! Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) (anonym veröffentlicht, Kant als Urheber vemutet) Kritischer Bezug auf Kant: Selbstverständnis seines Systems als echten, durchgeführten Kritizismus (Grundlagen der ges. Wissenschaftslehre, Vorrede, SW I, 89). 1

Werke (Auswahl): Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98) Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/97) System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798) Appellation an das Publikum über die durch Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man zu lesen bittet, ehe man sie confsicirt (1799) Die Bestimmung des Menschen (1800) Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre (1806) Reden an die deutsche Nation (1807/1808) Das System der Rechtslehre (1812) 2

Bezugspunkt: Kants Theorie der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption Fichtes Ansatzpunkt: o ursprüngliche Aktivität des Bewusstseins für alle kognitiven Verstandesleistungen konstitutiv, aber: o Problem der Selbstkonstitution des Selbstbewusstseins bei Kant in praktischer Hinsicht unterbestimmt bzw. Genese nicht befriedigend erklärt Fichtes Suche nach einem Begriff der Thathandlung, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. (Wissenschaftslehre 1: Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz ) 3

Entwicklung des Begriffs der Tathandlung: A = A : gewisser, evidenter Satz A damit nicht gesetzt nur kontrafaktisch wahr Der Satz: Ich bin Ich, aber gilt unbedingt und schlechthin, denn er ist gleich dem Satze X; er gilt nicht nur der Form, er gilt auch seinem Gehalte nach. In ihm ist das Ich, nicht unter Bedingung, sondern schlechthin, mit dem Prädicate der Gleichheit mit sich selbst gesetzt; es ist also gesetzt; und der Satz lässt sich auch ausdrücken: Ich bin. [...] 4

Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Thätigkeit desselben. Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns. Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und That sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung; aber auch der einzig-möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muss. Sichselbstsetzen des Ich formale Selbstgleichheit des A=A wird zur gehaltvollen, inhaltlichen Selbstgewissheit Selbstsetzung als ursprüngliche Tathandlung Fichtes Idealismus Man hört wohl die Frage aufwerfen: was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewusstseyn kam? Die natürliche Antwort darauf ist: ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich. Das Ich ist nur insofern, inwiefern es sich seiner bewusst ist. 5

Wir sind von dem Satze A=A ausgegangen; nicht, als ob der Satz: Ich bin, sich aus ihm erweisen liesse, sondern weil wir von irgend einem, im empirischen Bewusstseyn gegebenen gewissen, ausgehen mussten. Aber selbst in unserer Erörterung hat sich ergeben, dass nicht der Satz: A=A den Satz Ich bin, sondern dass vielmehr der letztere den ersteren begründe. [...] Erwiesen: A ist A, weil das Ich, welches A gesetzt hat, gleich ist demjenigen, in welchem es gesetzt ist. Fichtes Ausgehen von einem beliebigen Satz Erweis der Tätigkeit des Setzens Handlung Setzen als Quelle aller Realität transzendentales Argument Fichtes: Setzen des Ich als objektivitäts- und identitätsstiftende Potenz ( Potenzenlehre Schellings) 6

Das Ich ist nicht Seele, die Substanz ist. (Wissenschaftslehre nova methodo 1) Das Ich ist nicht etwas, das Vermögen hat, es ist überhaupt kein Vermögen, sondern es ist handelnd; es ist, was es handelt, und wenn es nicht handelt, so ist es nichts. Rolle der Leiblichkeit: (Grundlage des Naturrechts, 1, Coroll.) Leib als Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person (Grundlage des Naturrechts, 5) Zusammenhang Leib Handlungsvermögen Körper werde zum Leib dadurch, dass er durch meinen Willen in Bewegung gesetzt ist, außerdem ist er nur Masse; er ist als mein Leib tätig, lediglich inwiefern ich durch ihn tätig bin. (Grundlage des Naturrechts, 6) Leib als Ort der Handlung, Ich als deren Quelle individuierende Funktion des Leibes 7

Wollen: Mein Wille ist ursprünglich bestimmt, diese Bestimmtheit meines Willens, macht meinen wahren Charakter als Vernunftwesen aus. [...] In diesem Wollen nun in der lezten Rücksicht ist nun mein ganzes Sein und Wesen bestimmt für einmal auf alle Ewigkeit; ich bin nichts als ein so wollendes, und mein Sein ist nichts als ein so wollen. Dieß ist die ursprüngliche Realität des Ich. Wille selbst als o principium individuationis o urspr., ichkonstituierende Aktivität (Wissenschaftslehre nova methodo, 14) 8

Bezogensein auf andere Personen: Individuum als das durch Entgegensetzung mit einem anderen vernünftigen Wesen bestimmte Vernunftwesen (Grundl. d. Naturrechts 4) Der Mensch (so alle anderen endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er nichts anderes sein kann, denn ein Mensch, und gar nicht sein würde, wenn er dies nicht wäre sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein. (Grundl. d. Naturrechts 7) 9

es ist der grösste Irrthum und der wahre Grund aller übrigen Irrthümer welche mit diesem Zeitalter ihr Spiel treiben wenn ein Individuum sich einbildet, dass es für sich selber daseyn und leben, und denken und wirken könne, und wenn einer glaubt er selbst, diese bestimmte Person, sey das Denkende zu seinem Denken da er doch nur ein einzelnes Gedachtes ist aus dem Einen allgemeinen und nothwendigen Denken. (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW Bd. 7, S. 23-24) 10

Leben nach der Vernunft :»Die Vernunft geht auf das Eine Leben, das als Leben der Gattung erscheint. Wird die Vernunft aus dem menschlichen Leben hinweggenommen, so bleibt lediglich die Individualität und die Liebe derselben übrig.«vernunft Leben der Gattung, nicht der Individualität Individualität als Defizienzform des Lebens Liebe der / zur Individualität aus Mangel an Vernunft erklärlich 11

Sonach besteht das vernünftige Leben darin, dass die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze und es ihm aufopfere; das vernunftlose hingegen darin, dass die Person nichts denke, denn sich selber, nichts liebe, denn sich selber und in Beziehung auf sich selber, und ihr ganzes Leben lediglich an ihr eigenes persönliches Wohlseyn setze: und falls das, was vernünftig ist, zugleich gut, und das, was vernunftwidrig ist, zugleich schlecht zu nennen seyn dürfte, - so giebt es nur Eine Tugend, die - sich selber als Person zu vergessen und nur Ein Laster, das - an sich selbst zu denken; dass daher die in der vorigen Stunde geschilderte Sittenlehre des dritten Zeitalters auch hier, wie allenthalben, die Sache gerade umkehrt und zur einzigen Tugend macht, was in der That das einzige Laster ist, und zum einzigen Laster, was in der That die einzige Tugend ist. (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW 7, S. 34-35) 12

Die beschriebene Liebe Gottes tilgt schlechthin die persönliche Selbstliebe aus. Denn nur durch die Vernichtung der letzteren kommt man zur ersteren. Wiederum, wo die persönliche Selbstliebe da ist, da ist nicht die Liebe Gottes; denn die letztere duldet keine andere Liebe neben sich. (Die Anweisung zum seligen Leben, SW 5, S. 519-520) 13