Büro Hans-Dietrich Genscher. Rede. von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher

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Transkript:

1 Büro Hans-Dietrich Genscher Rede von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher anlässlich des Konzerts für den Frieden auf Einladung der Botschaft Japans am 6. August 2013 in Berlin Sperrfrist: 06.08.13, 16:00 h!!! Es gilt das gesprochene Wort! Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 1 von 16 nm

2 6. August 1945, 08:15 Uhr es war ein Montag. An diesem Tage in jedem Jahr -, zu dieser Stunde, in jeder der Zeitzonen dieser Welt sollten die Menschen schweigen, die Arbeit sollte ruhen, die Gedanken sollten nach Hiroshima gehen und nach Nagasaki, hin zu den Opfern von damals. Aber sie sollten dort nicht verharren. Diese Gedanken sollten auch die Regierungsstuben überall in der Welt erreichen mit der Frage: Wann endlich ist Schluss mit der nuklearen Todesdrohung für die ganze Menschheit? Was damals geschah, gehört zu den unvorstellbaren Ereignissen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert s die Menschheit erschütterten. Die Trümmerwüste von Hiroshima und Nagasaki war kein japanisches Ereignis, sie wurde mehr und mehr zu einem Urerlebnis für die Menschheit, von dem man hätte erwarten können, dass es aufrüttelt und bei aller Grausamkeit und allem Leid zum Glockenschlag für einen neuen Anfang wird. Die Frage des Umgangs mit Hiroshima hat mich immer wieder neu beschäftigt. Die Einladung, heute zu Ihnen zu sprechen, habe ich deshalb gern, wenn auch nicht ohne Zögern angenommen. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 2 von 16 nm

3 Wie nähern sich Menschen unserer Zeit diesem Urerlebnis? Diese Frage bewegte mich. Ich erbat den Text der früher gehaltenen Reden, auf jeden Fall der letztjährigen. Als ich diese Bitte äußerte, wusste ich nicht, dass im letzten Jahr ein Opfer, jemand, der unmittelbar Hiroshima erlebt und erlitten hatte, aus diesem Anlass gesprochen hat. Diese Rede ist keine Ermunterung für eigene Ausführungen zum Thema. Sie gebietet eher, zu schweigen. Auch nur gelesen kann man sich ihrer Wirkung nicht entziehen. Schon für den ersten Satz gilt das: Mein Name ist Masaaki Tanabe. Ich stamme aus Hiroshima, und ich bin ein Opfer der Atombombe. Das gebietet innehalten mit dem Gedanken an das, was damals geschah. Aber das bedeutet nicht, dass wir es hinnehmen, mit der Atombombe für immer zu leben. Würden wir es dennoch tun, dann würde das zu der Frage zwingen: Wie lange hat die Menschheit noch zu leben? Wenn wir fragen, was kann, was mussgeschehen, um die Menschheit für immer zu befreien von der Todesdrohung mit der Atombombe?, so kann die Antwort nur heißen: Die globale Nulllösung muss kommen. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 3 von 16 nm

4 Der Versuch m i t der Atombombe für immer zu leben, könnte in der nuklearen Katastrophe der Menschheit enden. Noch einmal möchte ich einen Sohn der Stadt Hiroshima zu Wort kommen lassen. Es ist der Außenminister Japans Fumio Kishida, der vor wenigen Tagen, am 29.07.2013 in Hiroshima seine Stimme erhob und ankündigte, er werde sich mit großem Nachdruck für nukleare Abrüstung engagieren. Er tat das als Außenminister, der aus einer Stadt kommt, die von der Atombombe zerstört wurde. Kann es eine schwerwiegendere Autorisierung für ihn geben als diese Herkunft? Er wird ganz konkret und verlangt einen dreifachen Ansatz für eine Welt ohne Kernwaffen und dafür praktisch umsetzbare konkrete Schritte. Diese sind: 1. Reduzierung der Zahl der Kernwaffen; 2. eine Verminderung der Rolle, die Kernwaffen innerhalb der militärischen Strategie der Staaten spielen; 3. und schließlich eine Reduzierung der Motive für den Griff nach atomaren Waffen. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 4 von 16 nm

5 Das sind bemerkenswerte Vorschläge für den Weg zur Welt ohne Kernwaffen. Der Ruf des japanischen Außenministers sollte nicht ungehört bleiben. Es ist der Ruf nicht nur aus Hiroshima. Es ist der Ruf der Menschen von Hiroshima, der toten und der lebenden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gehöre zu der Gruppe von Menschen, die den 6. August 1945 mit Bewusstsein erlebt haben. Hat er uns damals aufgerüttelt? Was bedeutete er damals für uns? Offen gesagt, die Wirkung war damals eine andere als man heute annehmen mag. Am 6. August 1945 ruhten die Waffen in Europa gerade zwei Monate. Der Zweite Weltkrieg war beendet, Deutschland gänzlich besetzt, alliierte Soldaten kehrten aus deutscher Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück, und Millionen deutscher Kriegsgefangener marschierten in die Gefangenenlager. Hitlers Todeslager hatten sich für die Überlebenden geöffnet; alliierte Truppen aus aller Welt waren die Befreier. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 5 von 16 nm

6 Zwangsarbeiter aus ganz Europa waren auf der Heimreise aus Deutschland, und für Millionen von Deutschen wurde der Verlust der Heimat zur bitteren Konsequenz des verlorenen Krieges. Die moralische Katastrophe des Dritten Reiches überschattete selbst die militärische Niederlage, und das Trümmerland Deutschland wurde zum notdürftigen Obdach für ein an sich und seiner Zukunft zweifelndes ganzes Volk. Die Nachricht aus dem fernen Japan, die Nachricht von der Zerstörung Hiroshimas, wurde oft geradezu teilnahmslos aufgenommen. Das umso mehr, als man mit dem Begriff Atombombe noch nicht viel anzufangen wusste. Ein gnädiges Schicksal hatte verhindert, dass Hitler in den Besitz dieses Vernichtungsinstruments gekommen war, das man zu Unrecht und fast verharmlosend als Waffe bezeichnet. Für mich selbst ganz persönlich - waren es bittere Tage, denn in den Trümmern der Frauenklinik in Halle rang meine Mutter nach einer schweren Operation mit dem Tode und sie überlebte. Erst allmählich begriff ich, um was es ging bei der Atombombe. Ich hatte mich unmittelbar nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft an der Universität Halle eingeschrieben. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 6 von 16 nm

7 Künftige Studenten wurden aufgefordert, sich an der Trümmerbeseitigung auf dem Universitätsgelände zu beteiligen. Dort trafen wir auch auf Assistenten des Physikalischen Instituts, in dem auch während des Krieges mit schwerem Wasser experimentiert worden war. Von ihnen erfuhr ich schemenhaft, um was es ging, wenn man von Atombomben sprach. Inzwischen ist der Begriff Atombombe oder Atomwaffe zu einem geläufigen Begriff der internationalen Sicherheitsdebatte geworden. Auch die verheerenden Wirkungen sind inzwischen jedermann geläufig. Später, es war unmittelbar nach Ende nun des Kalten Krieges, flackerte die Hoffnung auf, es könne eine Welt ohne Atomwaffen geben. Ja, es schien geradezu selbstverständlich, dass der Weg der internationalen Politik geradewegs zur Verdammung dieser schrecklichen Massenvernichtungswaffen führen würde. In der noch zweigeteilten Welt verständigten sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Reykjavik auf die Beseitigung aller nuklearen Mittelstreckenraketen der beiden Supermächte weltweit. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 7 von 16 nm

8 Ein geradezu revolutionärer Durchbruch, der weltweit Beifall erhielt. Dieser Beifall war so stark, dass sogar die letzten kalten Krieger in Deutschland schwiegen. Kaum zu glauben, dass es darüber zu einer Auseinandersetzung bis hinein in die Bundesregierung selbst gekommen war. Darüber? Worüber? Es ging um die Frage, ob man lieber den Mittelstreckenabrüstungsvertrag scheitern lässt als die im Übrigen veralteten Pershing Ia-Raketen mit einzubeziehen. Jene Raketen, über deren Einsatz Deutschland ein gewisses Mitspracherecht hatte. Doch der Wille zur atomaren Abrüstung war so stark, dass er die atomaren Möchtegerne bei uns schließlich schweigen ließ. Was damals von zentraler Bedeutung war, hat inzwischen neue Begründung gefunden. Schon damals wiesen die Zeichen der Zeit in eine neue Richtung. Im 2 + 4-Vertrag, mit dem die deutsche Einheit am 12. September 1990 besiegelt wurde, verzichteten die beiden deutschen Staaten für das vereinte Land auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 8 von 16 nm

9 Jeder für sich hatte das schon vorher getan. Man kann nicht sagen, dass dieser Vertrag beispielgebend geworden wäre für andere Länder. Gewiss, die Zahl der Atomsprengköpfe der beiden Großmächte wurde reduziert. Aber auch die reduzierte Zahl ist ein Vielfaches dessen, was man braucht, um die ganze Menschheit zu vernichten. Es ist deshalb verwegen, zu behaupten, diese Reduzierungen hätten die Welt schon sicherer gemacht. In Wahrheit ist die Welt inzwischen in eine neue Phase der Entwicklung eingetreten, die die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen nicht vermindert, sondern sie erhöht - und das immer stärker. Das Atomwaffenmonopol der beiden auch heute noch mit Abstand stärksten Atommächte hatte mitten im kalten Krieg immerhin zu einer pervers erscheinenden, in Wahrheit vitalen und funktionierenden Überlebenspartnerschaft von Feinden geführt. Aber heute brauchen wir eine globale Kooperationspartnerschaft von gleichberechtigten und ebenbürtigen Partnern. Der simple Satz: Wer die Atombombe als erster einsetzt, stirbt als zweiter entfaltete damals noch eine abschreckende Wirkung. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 9 von 16 nm

10 Um jeden Irrtum auszuschließen muss hinzugefügt werden: Aber gestorben wird doch. Wie lange wird das noch funktionieren?, haben wir uns damals gefragt. Wie lange wird diese Abschreckung noch abschrecken und wen wird sie wirklich abschrecken?, müssen wir heute fragen. Die Welt von heute ist die Welt der Globalisierung, die Welt des immer engeren Zusammenwachsens, die Welt einer ungekannten und ungeahnten Informations- und Kommunikationsentwicklung. Heute ist es gewiss immer noch wichtig, wie viel Atomwaffen es gibt und auch wer sie hat. Aber wichtiger ist inzwischen geworden, dass es immer mehr Atomwaffenbesitzer gibt und damit immer mehr Finger am atomaren Abzugsbügel. Dazu kommen noch die Fast-Atomwaffenbesitzer, die Staaten also, die schnell eine Atombombe bauen können. Im Übrigen reden wir nicht nur über Staaten, sondern wir müssen auch von einer möglichen Terroristenbombe sprechen. Was wird dann aus all den schönen Regeln zu Reduzierungen und Kontrollen und vertrauensbildenden Maßnahmen? Die Antwort auf die Ausbreitung der Atomwaffenbesitzer kann nur lauten: Eine Welt ohne Atomwaffen. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 10 von 16 nm

11 Sie ist die einzige wirkliche Garantie gegen den Einsatz dieser schrecklichen Vernichtungswaffen. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Appell zum Verzicht auf Atomwaffen aus einem Land, das selbst schon verzichtet hat, glaubwürdiger ist als ein solcher Appell aus einem Atomwaffenstaat. Hier liegt die Legitimation, aber auch die Verantwortung Deutschlands, Anwalt einer atomwaffenfreien Welt zu sein. Und für Japan, das erste bisherige Opfer der Atombombe, gilt das genauso. Es ist nun inzwischen mehr als sechs Jahre her, dass im Januar 2007 vier herausragende Persönlichkeiten aus den USA, je zwei aus den beiden politischen Lagern, nämlich Henry Kissinger, William Perry, George Shultz und Sam Nunn, verlangten, die gänzliche Ächtung von Atomwaffen könne die Gefahr eines nuklearen Krieges zwischen Staaten oder von Terroristen abwenden. Vier Persönlichkeiten, immerhin, die in den Jahren des kalten Krieges genauso wie wir auch der Strategie der gegenseitigen Abschreckung - wie sich zeigte zu Recht - vertraut hatten, erkannten nunmehr die Gefahr, dass die Globalisierung der Welt in all ihren Auswirkungen zu einer Globalisierung der Risiken führen könne. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 11 von 16 nm

12 Kann in einer multipolaren Welt eine multipolare Abschreckung überhaupt funktionieren oder könnte es sein, dass dann die Abschreckung nicht mehr abschreckt? Die Initiative fand Unterstützung überall in der Welt und in allen politischen Lagern. Barack Obama sprach sich am 25. Juli 2008 hier in Berlin für eine Welt ohne Atomwaffen aus. Am 9. Januar 2009 gaben Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und ich eine Antwort aus Deutschland. Wir verbanden sie mit unseren Erwartungen an die Präsidentschaft Barack Obamas. Der Kernsatz lautet: Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Das ist die Hinwendung zu einer Weltkooperationsordnung. Das heißt, eine Welt ohne Vorherrschaftsstreben, eine Welt, die gegründet ist auf Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung der Staaten, der großen und der kleinen, wie das der Fall in unserem Europa schon ist, das mehr und mehr zu einer Zukunftswerkstatt für eine neue Weltordnung wird. Wir unterstützen den Aufruf der vier amerikanischen Persönlichkeiten ohne jeden Vorbehalt. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 12 von 16 nm

13 Und stellten fest, das gelte insbesondere für die Vision einer Welt ohne nukleare Bedrohung, für eine drastische Verringerung der Atomwaffen, zunächst der USA und Russlands, für eine Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages, für die Ratifikation des umfassenden Verbots von Nuklearversuchen durch die USA und für die Vernichtung aller atomaren Kurzstreckenwaffen. Wir warnten auch vor dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems der NATO am östlichen Rand des Bündnisgebietes und riefen dazu auf, eine solide Zusammenarbeit zwischen Amerika, Russland, Europa und China zu schaffen. Wie dringlich das ist, zeigen neue Spannungen im asiatischen Raum. Als spezifische deutsche Forderung verlangten wir den Abzug der restlichen amerikanischen Atomsprengköpfe aus der Bundesrepublik Deutschland. Diese Stationierung ist ein letztes Relikt aus der Zeit des kalten Krieges. Ihre Beendigung würde die Existenz der NATO als Stabilitätsfaktor in Europa erneut unter Beweis stellen. Zu Recht ruft Außenminister Westerwelle immer wieder zu Abrüstungsbemühungen in allen Bereichen auf also auch hier. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 13 von 16 nm

14 Inzwischen haben die vier amerikanischen Autoren in einem neuen Aufruf, der den Entwicklungen seither Rechnung trägt, vor allem der Entwicklung der Bedrohungen im atomaren Bereich zu einer weiteren Reduzierung der Nukleararsenale der USA und Russlands aufgerufen. Ein Vorschlag in dieser Richtung wurde unlängst von Präsident Obama der Öffentlichkeit vorgestellt. Nicht minder wichtig erscheinen bis zur Beseitigung aller Nuklearwaffen die Einführung von Sicherheitsmechanismen, die einen Nuklearkrieg sozusagen aus Versehen oder durch vorschnelle Reaktion oder Überreaktion vermeiden sollen. Der Kern der Botschaft ist indessen der erneute Hinweis auf die besondere Verantwortung von Washington und Moskau für den Abbau der nuklearen Konfrontation. In der Tat, unverändert sind die USA und Russland die Länder mit den mit Abstand größten Potenzialen. Bei ihnen liegt es, und noch haben sie die Möglichkeiten dazu weltweit ein Denuklearisierungsprogramm durchzusetzen, was in das globale Zero einmündet. Ein Programm, dem sich niemand mehr entziehen kann, weil das Argument der fortbestehenden nuklearen Bedrohung durch die beiden Großmächte seine Grundlage verliert. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 14 von 16 nm

15 Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der jüngsten Vergangenheit sind in Washington und in Moskau zwei Persönlichkeiten erneut in ihre präsidiale Verantwortung berufen worden, die nun die Chance haben, die Gefahr der Ausbreitung der Atomwaffenbesitzer für immer zu beseitigen. In Reykjavik waren es am Ende der 80er Jahre Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, die mitten im Kalten Kriege neues Denken mit dem bis dahin größten Abrüstungsvertrag für die Eliminierung ihrer nuklearen Mittelstreckenraketen Wirklichkeit werden ließen. Heute haben Barack Obama und Wladimir Putin eine historische Chance. Sie sind aufgerufen, einen kühnen Schritt zu wagen. Nicht irgendwann, sondern jetzt. Am 5. und 6. September findet in Sankt Petersburg die Konferenz der G 20 statt. Die Welt blickt auf das Ereignis wegen seiner wichtigen Tagesordnung, aber am Ende der Konferenz wird auch die Frage gestellt werden, ob die vorausgegangene Begegnung zwischen den beiden Präsidenten in Moskau Fortschritte im amerikanischrussischen Verhältnis gebracht hat, die angesichts der vielen Spannungszonen dieser Welt und angesichts der Gefahr der Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 15 von 16 nm

16 Vergrößerung der Zahl der Atomwaffenbesitzer für Frieden und Überleben der Menschheit besteht. In Washington und in Moskau sollte man erkennen: Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wiederholen. Wenn am 12. April 2014 in Hiroshima die Außenminister der NPDI- Staaten zusammenkommen, dann eröffnen Ort und Zeitpunkt den beiden Supermächten eine ideale Bühne für die Darlegung ihrer ersten Ergebnisse ihres neuen Anlaufs in der Wahrnehmung ihrer globalen Verantwortung. Wir sind es den Toten in Hiroshima und Nagasaki schuldig, aber auch den Lebenden von heute und allen künftigen Generationen, dass wir die nuklearen Gefahren für immer bannen. Verantwortung ist mehr als eine Art moralischer Rechnungslegung für die Vergangenheit. Der deutsch-amerikanisch-jüdische Philosoph Hans Jonas hat uns in seinem grundlegenden Werk Prinzip Verantwortung gelehrt, dass Verantwortung auch bedeutet Auswirkungen unseres Tuns und Unterlassens für die Zukunft zu beachten. Das ist der kategorische Imperativ unserer Zeit. Daran werden wir von der Geschichte gemessen werden, auch was unseren Umgang mit Nuklearwaffen angeht. Ausgedruckt: 06.08.2013 / 11:31 Seite 16 von 16 nm