Drogenabhängigkeit als Doppeldiagnose Heidelberger Kongress des Fachverband Sucht e.v. 2018 Forum 4
Klassifikation mehrerer Abhängigkeiten Fallvignette I
Definition Eine Komorbidität ist ein weiteres, diagnostisch abgrenzbares Krankheitsbild oder Syndrom, das zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegt. Übersetzt bedeutet der Begriff Begleiterkrankung, die englische Bezeichnung lautet comorbidity.
Prinzip der Komorbidität in der ICD 10 Alle behandlungsbedürftigen psychischen Störungen sollen ohne kausale Verknüpfung oder Erkrankungshierarchien beschrieben werden und sollen so eine bessere Grundlage für die Verlaufsdokumentation und die Therapieplanung liefern.
Empfehlungen ICD 10 Es soll zwischen einer Haupt und Neben bzw. Zusatzdiagnose unterschieden werden Priorität hat die Diagnose mit der größten aktuellen Bedeutung, meist die Diagnose, die zur Kontaktaufnahme führt Unter Berücksichtigung der Vorgeschichte kann die wichtigste Diagnose die Lebenszeitdiagnose sein (Patient mit schizophrener Störung, der aktuell mit einer Angstsymptomatik erscheint) Bei Unklarheiten bezüglich der Reihenfolge der Störungen sollten diese in der numerischen Reihenfolge aufgeführt werden.
Der einfache Fall: Zwei Störungen Erste Störung = Grunderkrankung Zweite Störung = Komorbide Störung, Was ist ursächliche Erkrankung, was Folge? Gibt es überhaupt einen Zusammenhang?
Modelle zur Entstehung Das Risikofaktoren Modell Zwei Störungen haben gemeinsame Ursachen, z.b. genetische Belastung (C bedingt A und B) Modell der Unidirektionalen Kausalität Eine Störung bedingt die Andere (A bedingt B) Modell der Bidirektionalen Kausalität Beide Störungen erhöhen die Vulnerabilität für die jeweils andere Störung, bzw. erhalten sich gegenseitig aufrecht (A bedingt B und umgekehrt) Modell unabhängiger Störungen Beide Störungen treten auf, sind aber nicht kausal verbunden
Fallvignette I: F11.2 Opiatabhängigkeit Z51.83 Opiatsubstitution F13.2 Benzodiazepinabhängigkeit F12.1 Cannabis, schädlicher Gebrauch F10.1 Alkohol, schädlicher Gebrauch, DD Alkoholabhängigkeit F14.1 Kokain, schädlicher Gebrauch F15.1 Stimulantien, schädlicher Gebrauch F17.2 Tabakabhängigkeit F33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
F11 Z51 F13 F12 F10 F14 F15 F17 F33 F60 F11 x 1. 2. 3. Z51 x x F13 x x x Zu prüfende Zusammenhänge F12 x x x x F10 x x x x x F14 x x x x x x F15 x x x x x x x 42. F17 x x x x x x x x 43. 44. F33 x x x x x x x x x 45. F60 x x x x x x x x x x
Zwischenfazit 45 mögliche Zusammenhänge zu jeweils 4 Möglichkeiten, also 180 mögliche einzelne Zusammenhänge, die betrachtet werden können Wir stecken also bereits in Schwierigkeiten. Hinzu kommen noch unterschiedliche Fokusse in der Klassifikation je nach Diagnostiker Stigmatisierung ist bei Abhängigkeiten stärker ausgeprägt als bei Depressionen (Schomerus et al, 2010) Befunde und Diagnostik sind unter Drogeneinfluss zudem unterschiedlich aussagekräftig
Subjektive Klassifikation F11.2 Opiatabhängigkeit Z51.83 Opiatsubstitution F13.2 Benzodiazepinabhängigkeit F12.1 Cannabis, schädlicher Gebrauch F10.1 Alkohol, schädlicher Gebrauch, DD Alkoholabhängigkeit F14.1 Kokain, schädlicher Gebrauch F15.1 Stimulantien, schädlicher Gebrauch F17.2 Tabakabhängigkeit F33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
Wurde richtig diagnostiziert? Bleiben einige Fragen Wie hängt die Entstehung der Störungen zusammen? Sind die psychischen Symptome Ursache oder Folge der Abhängigkeiten? Wie sind Mechanismen der gegenseitigen Aufrechterhaltung? Wie soll behandelt werden? Wie erfolgversprechend sind medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung bei weiterem Konsum? Sequentielle versus parallele Behandlung? Eine oder mehrere Institutionen/Behandler?
Hypothesenbildung Fallvignette II
Verlauf komorbider Störungen 3,5 3 Fallvignette II Intensität der symptomatik 2,5 2 1,5 1 0,5 0 0 10 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Alter Störung A Störung B
Bildung von Hypothesen Störung B beginnt 2 Jahre später als Störung A Beide habe sich intensiviert und chronifiziert Wird B ursprünglich durch A verursacht? Gibt es gegenseitig aufrechterhaltende Faktoren?
Verlauf komorbider Abhängigkeiten 3,5 3 Fallvignette II Intensität der symptomatik 2,5 2 1,5 1 0,5 0 0 10 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Alter F12 Cannabisabhängigkeit F15.2 Stimulantienabhängigkeit
Bildung von Hypothesen Verfügbarkeit bei Mitkonsumierenden begünstigt schleichenden Konsumbeginn von Stimulantien Mit intensiverem Stimulantiengebrauch wird zunehmend mehr Cannabis gebraucht Zur Bekämpfung unangenehmer Sekundärwirkungen wie erhöhter Vigilanz und Schlafproblemen Mit intensiverem Cannabisgebrauch werden zunehmend mehr Stimulantien gebraucht Zur Bekämpfung unangenehmer Sekundärwirkungen wie Antriebsminderung und mangelnder Konzentration
Cannabisgebrauch Erhöhte Vigilanz, Schlafprobleme Antriebsminderung schlechte Konzentration Gegenseitige Aufrechterhaltung Stimulantiengebrauch
Alternative Hypothesen Der Suchtbehandler sagt: F12.2 und F15.2 verursachen Beschwerden wie mangelnde Konzentration, Schlafprobleme, gedrückte Stimmung, usw. Wir behandeln die Abhängigkeiten in stationärer Reha Die Psychiaterin sagt: Patient hat adultes ADHS und depressive Episode. Ich behandele medikamentös. Der Psychotherapeut sagt: Patient kommt nicht zuverlässig und bringt nicht den Konsiliarbericht für den Therapieantrag. Ich behandele gar nicht.
Aus ICD 10 F90.0 Hyperkinetische Störungen Diese Gruppe von Störungen ist charakterisiert durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität,
Empfehlungen Sorgfältige Anamnese, ggf. graphisch Diagnostik inklusive Labordiagnostik günstig unter Abstinenz oder stabiler Substitution! Kriterien nach ICD 10 genau prüfen Bildung und Prüfung von Hypothesen Sparsamkeit bei Annahmen Entwicklung einer (subjektiven) Theorie zum Störungsbild mit Patient Interdisziplinäre Zusammenarbeit!
D Amelio R, Behrendt B, Wobrock T (2006) Psychoedukation Schizophrenie und Sucht. Manual zur Leitung von Patientenund Angehörigengruppen. München: Urban & Fischer, Reihe: Im Dialog Literatur Feinstein, A. R. (1970). The pre therapeutic classification of comorbidity in chronic disease. Journal of Chronic Diseases, 23, S. 455 468. Schomerus, G., Holzinger, A., Matschinger, H. et al. (2010) Einstellungen der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht. Psychiat Prax.; 37 111 118 Walter, M., Gouzoulis Mayfrank, E. (2013) Psychische Störungen und Suchterkrankungen: Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart: Kohlhammer. Wittchen, H. U. (1996). What ist comorbidity Fact or artefact? British Journal of Psychiatriy, 168 (suppl. 30), S. 7 8.
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