Leseprobe aus: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland Copyright 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
1 Zur sozialen Einbettung bildungspolitischer Trends in der Bundesrepublik Achim Leschinsky, Kai S. Cortina 1.1 Ein erster Überblick Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland steht seit Ende der 1990er Jahre deutlich im Zeichen eines tiefgreifenden Wandels, dessen Zielpunkt sich erst in Umrissen andeutet. Bisherige Strukturen und Traditionen verlieren ihre Selbstverständlichkeit, und Veränderungen, die bislang in der Bundesrepublik als politisch nicht durchsetzbar galten, werden überraschend Wirklichkeit. Mit diesen Worten haben wir den Bildungsbericht, der im Jahre 2003 erschienen ist, eröffnet; die Tatsache, dass wir es auch heute noch können, ist aussagekräftig, weil einerseits die Grundsätzlichkeit des Umstellungsvorgangs allgemein anerkannt wird, andererseits das Bild der Schule von morgen seltsam eindimensional und verschwommen bleibt. Es beginnt sich etwas abzuzeichnen, aber es fehlt eine tragende Idee. Reformmaßnahmen beschränken sich auf die Beseitigung von Wissensund Leistungsdefiziten, ohne sich den Herausforderungen zu stellen, die sich aus dem Leitbild einer kritischen Bürgergesellschaft für die Schule ergeben. Es besteht die Gefahr, dass ein Teil zum Ganzen gemacht wird. Der eingeschlagene Weg, das Schulwesen unter Effizienzgesichtspunkten im Hinblick auf Schulleistungen durch Standards transparenter zu machen, hat erkennbar zentralistische Züge, die noch vor wenigen Jahren zu reflexartigem Widerstand der Länder geführt hätten. An dieser erstaunlichen Entwicklung ändert auch die Tatsache wenig, dass die Föderalismusreform des Jahres 2006 formal den Einfluss der Bundesorgane in Bildungsfragen deutlicher als zuvor begrenzt. Das Starren auf das Verhältnis von Bund und Ländern lenkt von Angleichungsprozessen ab, die sich unterhalb der parlamentarisch verankerten Kompetenzstrukturen durchsetzten. Zudem hat die Föderalismusreform zwar das Verhältnis von Bund und Ländern auf eine neue Grundlage gestellt, wird aber für den Bildungssektor erst dann bedeutsam, wenn der Finanzausgleich zwischen den Ländern neu geregelt sein wird, weil er das Gewicht der verschiedenen Bundesländer bei der Einigung über Bildungsfragen bestimmt. Die geplanten Veränderungen setzen an verschiedenen Stellen des Bil- 21
1 Zur sozialen Einbettung bildungspolitischer Trends in der Bundesrepublik dungswesens an; sie betreffen die frühkindliche Erziehung, den Einschulungsvorgang, die Grundschulorganisation, den Sekundarbereich I und die Hochschulen, also nahezu alle Bereiche des Bildungssystems. Gleichwohl haben sie den Mangel, dass sie in den verschiedenen Bundesländern sehr heterogen und unabgestimmt erscheinen sowie viele Reformen auf Länderebene nur auf dem Papier existieren und angesichts mangelnder Abwägung ihrer Folgewirkungen wenig realistisch sind. Dies betrifft z. B. die vorgesehene Einführung des Ganztagsbetriebs, der bei der bisher existierenden Organisation des deutschen Schulwesens als Halbtagssystem eine tiefgreifende Umstellung des Schulbetriebs erfordert, wenn man sich davon nachhaltige Verbesserungen verspricht. Mit der Ausweitung des schulischen Zugriffs auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen werden in den Schulen traditionell nicht schulische Problematiken virulent, die u. a. sozialpädagogische Kompetenz verlangen, welche man von Lehrern nicht erwartet. Die gegenwärtigen Reformansätze lassen sich zurückverfolgen auf die durch die Vereinigung der beiden deutschen (Teil-)Staaten entstandene Dynamik, die in den Folgejahren durch die breite öffentliche Rezeption der Befunde der Internationalen Vergleichsstudien TIMSS («Third International Mathematics and Science Study») und vor allem PISA («Programme for International Student Assessment») angeheizt wurde (Baumert u. a., 1997; Baumert, Bos & Lehmann, 2000; Deutsches PISA-Konsortium, 2001), ohne dass feste Konturen einer neuen Bildungs- und Schulpolitik fixiert worden wären. Einvernehmen zeichnet sich aber hinsichtlich der Einführung routinemäßiger Kontrollen der Systemeffizienz ab, was angesichts der jahrzehntelangen Widerstände in (West-)Deutschland gegenüber jeglicher Form schulischer Output-Evaluierung als eine erstaunliche Wende zu werten ist. Zweifellos ist der Handlungsdruck für die zuständigen Organe enorm gewachsen, weil die insgesamt wenig erfreulichen Befunde über den Leistungsstand der deutschen Schüler eine massive öffentliche Beunruhigung ausgelöst haben, die u. a. den Weg zu dem bisher ängstlich vermiedenen Vergleich zwischen Bundesländern und Schulformen geebnet hat, wie er kürzlich für die PISA-Studien vorgelegt wurde (Deutsches PISA- Konsortium, 2002, 2005; Krauss u. a., 2004). In dieser Veränderung kommt auch zum Ausdruck, dass die Bundesländer sich inzwischen untereinander größeren Spielraum erkämpft und diesen in der Föderalismusreform des Jahres 2006 auch festgeschrieben haben. Zwar sind die Befunde der PISA-Studie überaus komplex, sodass sich einfache Handlungskonsequenzen verbieten. Doch allein mit der Anerkennung dieses Sachverhalts ist eine neue Situation geschaffen: Es reicht offenbar nicht aus, in derselben Art wie bislang im falschen Vertrauen auf 22
1.1 Ein erster Überblick einen hohen Standard der Bildung in Deutschland «innere» und «äußere» Schulreform, also Verbesserungen innerhalb der bestehenden Schulstruktur einerseits und umfassende, auf das gesamte Schulsystem gerichtete Reformen andererseits, gegeneinander auszuspielen, mit dem Effekt, dass sich faktisch wenig ändert. Für die bevorstehende Überholung an Haupt und Gliedern zeichnet sich die Notwendigkeit ab, beide Ansätze zu kombinieren und dem Unterricht als Kern der Schule besondere Aufmerksamkeit zu sichern. Diese Einsicht kann gar nicht häufig genug wiederholt werden, weil die Debatte in Deutschland oft auf das eben charakterisierte Bäumchen-wechsel-dich-Spiel hinausläuft (vgl. dazu auch Baumert, Stanat & Watermann, 2006). Vertraute politische Konfliktlinien haben zwar schon vor dieser jüngsten Entwicklung erkennbar an Bedeutung eingebüßt, jetzt aber leben sie angesichts der bisher noch immer unvollständig erscheinenden Reformmaßnahmen wieder auf. Lediglich die wichtigsten Tendenzen seien hier erwähnt: Angesichts des sich abzeichnenden demographischen Rückgangs in Deutschland und aus Gründen einer besseren individuellen Förderung der Kinder soll die Vorschulerziehung intensiviert werden. Zugleich soll auch die Einschulung der Kinder zu einem früheren Zeitpunkt im Lebensalter erfolgen, sodass die familiären Defizite besser ausgeglichen werden können. Für den Sekundarbereich I des Schulwesens hat der Kampf um das gegliederte Schulsystem die bisherige Brisanz verloren, wie die wenig umstrittene Einführung von Schulen mit mehreren Bildungsgängen anstelle der oder neben den bisherigen Schultypen zeigt. Das Zusammenfügen von Haupt- und Realschule in den meisten Bundesländern versetzt das gesamte Sekundarschulwesen gewissermaßen in ein Übergangsstadium. Die durch die Vereinigung in den neuen Bundesländern ausgelöste massive ökonomische und soziale Krise hat zwar nicht zu strukturellen Veränderungen im berufsbildenden Bereich geführt, aber vielfache (und noch immer unzureichende) soziale Ergänzungsmaßnahmen gefördert, durch die ein Netz außerbetrieblicher Bildungsinstitutionen geschaffen wurde, ohne die in Deutschland traditionell starke Einbindung der Betriebe in die berufliche Erstausbildung der Jugendlichen und damit ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu mindern. Die Hochschulreife soll in allen Bundesländern bereits in naher Zukunft nach 12 statt nach 13 Schuljahren erfolgen. Hierin wird eine wichtige Maßnahme gesehen, den Jugendlichen einen früheren Studienbeginn und einen Hochschulabschluss in früheren Jahren zu ermöglichen. 23
1 Zur sozialen Einbettung bildungspolitischer Trends in der Bundesrepublik Im Hochschulwesen steht der Einführung eines veränderten Modells der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der damit verbundenen Veränderung der Personalstruktur nichts mehr entgegen; die Juniorprofessur soll faktisch zur Abschaffung der Habilitation führen, auch wenn das Verhältnis beider Qualifikationen nach wie vor ungeklärt ist. Gleichzeitig sorgt die veränderte Studienstruktur in Anpassung an die Regelungen in anderen europäischen Ländern zugunsten von Bachelorund Masterabschlüssen für deutliche Veränderungen und zusätzliche Belastungen der Studenten und des Lehrpersonals. Schließlich wird durch die eingeleitete Differenzierung zwischen den verschiedenen Hochschulen eine gravierende Veränderung deutlich, weil sie Konkurrenzelemente einführt, die in der Form im deutschen Hochschulwesen unbekannt waren. Die Messung der Effizienz wird erkennbar zum integralen Bestandteil des gesamten Bildungssystems, indem Evaluationen in Schule und Hochschule intern oder extern, die einzelne Einrichtung betreffend oder wie die PISA-Studie bundesweit und international regelmäßig durchgeführt und die Überprüfung der Institutionen und Konzepte auf Dauer gestellt werden (Lange, 2001a, 2001b). Probleme der Rückwirkung auf die Unterrichtspraxis, wie sie insbesondere in den USA dokumentiert sind, zeichnen sich ab. Die Schaffung eines besonderen Instituts in Berlin in Kooperation der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) und der Humboldt- Universität, das die Entwicklung von sog. Bildungsstandards zur Aufgabe hat, ist ein deutliches Indiz für den Wandel im Bildungssystem. Die eingeleiteten Veränderungen im deutschen Hochschulsystem stehen in Zusammenhang mit den gewandelten technologischen und politischen Bedingungen, die seit Ende des letzten Jahrhunderts eingetreten sind. Mit der Überprüfung der politischen Verstrickung und fachlichen Qualität der wissenschaftlichen Einrichtungen in Ostdeutschland vor der «Wende», die den wissenschaftlichen Gremien selbst zur Aufgabe gemacht worden ist, wurde der Weg geebnet für die regelmäßige Evaluation entsprechender Institutionen auch in West- bzw. Gesamtdeutschland. Eine deutliche Wirkung hatte die Überprüfung der Hochschulen bei der jüngsten Auswahl der wenigen Spitzenhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Bundesmittel gefördert werden sollen. Allerdings hat sich gegen die öffentlich sehr herausgestellte Aktion auch Widerstand artikuliert, weil die spezifischen und historisch überlieferten Traditionen des deutschen Hochschulsystems missachtet würden, auch wenn die Eliteförderung eine logische Konsequenz aus der zunehmenden Globalisierung 24
1.1 Ein erster Überblick des Forschungssektors ist. Aufgrund der in der Öffentlichkeit groß herausgestellten Auswahl der Spitzenhochschulen als sog. «Leuchttürme» besteht in der Bundesrepublik ein krasses Missverhältnis zwischen diesen geförderten Universitäten, die zusätzlich zu der Finanzierung durch das jeweilige Bundesland Mittel vom Bund bekommen, und der übergroßen Mehrheit von etwa 350 anderen Hochschulen, die die Masse des Lehrbetriebs tragen, aber finanziell «ausgeblutet» sind. Der Alltag von Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik wird von diesen jüngeren Entwicklungen keineswegs überall und in gleicher Weise geprägt. Trotz des sich abzeichnenden Wandels und trotz bedeutsamer regionaler Unterschiede war das deutsche Bildungssystem in zentralen Merkmalen durch ein stabiles Profil gekennzeichnet; gegenwärtig befindet sich allerdings dieses Bildungssystem offenbar in einem Übergangsstadium, was seine Beschreibung insbesondere im Bereich der Sekundarstufe I schwermacht, die aber im Folgenden dennoch versucht wird. In diesem einführenden Kapitel sollen zunächst einige allgemeine Charakteristika des gegenwärtigen Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland skizziert werden. Abbildung 1.1 veranschaulicht seinen Aufbau, der zwischen den Bundesländern in einigen Aspekten (Einrichtung und quantitative Bedeutung von einzelnen Einrichtungen, Bezeichnungen usw.) variiert. Wichtige Eigenarten lassen sich in acht Punkten zusammenfassen. Sie verweisen zugleich auf einen allgemeineren historischen Hintergrund, auf den in diesem Buch nur an einzelnen Stellen Bezug genommen werden kann, und auf einen zeitgeschichtlich-bildungspolitischen Zusammenhang, der in diesem und im Kapitel 3 etwas ausführlicher dargestellt werden soll, weil er für das Verständnis des gegenwärtigen Bildungswesens der Bundesrepublik unerlässlich ist. Abgesehen von der Förderschule bestehen bis zu fünf getrennte Schularten nebeneinander im Bereich der Sekundarstufe I, die auf die gemeinsame Grundschule folgen. Den gewissermaßen traditionellen deutschen Schulen sind in diesem Buch besondere Kapitel gewidmet (vgl. Kap. 7 12). Nicht in allen Bundesländern gibt es alle Schularten, einige Bundesländer haben keine Gesamtschulen, andere keine selbständigen Hauptschulen, sondern unter verschiedenen Namen vereinigte Haupt- und Realschulen. Große Bedeutung hat die «duale» Form der beruflichen Bildung, die ihren Schwerpunkt in einer betrieblichen Ausbildung hat. Diese wird durch den obligatorischen Besuch einer öffentlichen Teilzeitberufsschule ergänzt (vgl. Kap. 13). Die rein schulische Berufsausbildung (vollzeitschulische Ausbildung) spielt demgegenüber eine weit geringere Rolle als in den meisten europäischen Staaten. 25
1 Zur sozialen Einbettung bildungspolitischer Trends in der Bundesrepublik Abbildung 1.1: Aufbau des Bildungssystems in der Bundesrepublik Deutschland 24 Mindestalter 25 Bildungsjahr 20 19 23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 Gesamtschule Wissenschaftliche Hochschulen Gymnasiale Oberstufe Fachhochschulen Gymnasium Realschule Hauptschule Berufliche Vollzeitschulen Orientierungsstufe Grundschule Weiterbildung Duales System Berufliche Teilzeitschulen Lehre Schule mit mehreren Bildungsgängen Sonderschulen 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 Primarbereich Sekundarbereich I Sekundarbereich II Tertiärer Bereich 5 4 Vorschulische Einrichtungen 3 26
1.1 Ein erster Überblick Die föderalistische Staatsstruktur der Bundesrepublik behält die «Kulturhoheit» den 16 Bundesländern vor, was durch die Föderalismusreform 2006 noch einmal unterstrichen und festgeschrieben worden ist. Das bedeutet, dass das deutsche Bildungswesen nicht zentral, sondern multizentral organisiert ist. Soweit das Schulwesen in seinen Grundzügen, seinen Inhalten und seinen Abschlüssen dennoch mehr oder weniger große Einheitlichkeit aufweist, beruht dies nur in den wenigsten Fällen auf einer zentralstaatlichen Regelung, meist aber auf Absprache zwischen den Kultusverwaltungen der 16 Bundesländer, die hierfür ein eigenes Koordinierungsorgan haben: die KMK (vgl. Abschnitt 3.4.1). Die Aufteilung der Verantwortlichkeiten kann als eine besondere Mischung von zentralisierter und dezentralisierter Struktur auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Die Bundesregierung hat nur begrenzte und überwiegend indirekte Mitwirkungsmöglichkeiten in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, wenngleich ihr Einfluss u. a. aufgrund der voranschreitenden europäischen Integration nicht zu unterschätzen ist. Die verfassungsmäßig abgesicherte Rolle der 16 Länderregierungen in der Bildungspolitik ist ausgeprägt; ihr gegenüber verbleiben den Gemeinden nur beschränkte Möglichkeiten der Gestaltung (vgl. Abschnitt 3.6). Den einzelnen Schulen werden hingegen zunehmend erweiterte Handlungsspielräume zugestanden, die allerdings durch staatliche Regelungen klar begrenzt sind. Grob gesprochen ist das Bildungswesen auf der gesamtstaatlichen Ebene weitgehend dezentralisiert, auf der Ebene des einzelnen Landes dagegen deutlich zentralisiert. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Bundesländer und dementsprechend die 16 verschiedenen «Bildungssysteme» in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche Dimensionen haben: Während im Schuljahr 2005/06 in den allgemeinbildenden Schulen des größten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen rund 2,3 Mio. Schüler unterrichtet wurden, hatte das kleinste Bundesland, der Stadtstaat Bremen, nur rund 73 000 Schüler. Die weit überwiegende Mehrheit der Schüler und Studenten besucht staatliche Bildungseinrichtungen. Die traditionell in der Statistik vorgenommene Unterscheidung von öffentlichen und privaten Schulen sollte deswegen durchaus nicht überschätzt werden. Private Schulen werden nur von einer kleinen Minderheit besucht (was allerdings bei den verschiedenen Schulformen erheblich streut). In den fünf neuen Bundesländern ist der Prozentsatz deutlich geringer, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass in der DDR keine Privatschulen zugelassen waren. So wie in den meisten west- und südeuropäischen Ländern sind Privatschulen in der Bundesrepublik zum größten Teil kirchlich. Es 27