Wohlfahrtsgewinne versus Demokratie?



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Transkript:

Kann die Erzählung von einem Europa als dem sozialeren und demokratischen Modell in der Welt zu einer progressiven Europa-Erzählung werden? Wie kann ein gemeinsames Problembewusstsein geschaffen und so eine europäische Solidarität gestärkt werden? Wie kann es gelingen, den national aufgeladenen Unmut in den einzelnen Ländern produktiv für die Sozialdemokratie zu nutzen um so auch den Populisten das Wasser abzugraben? Will die deutsche und die europäische Sozialdemokratie bei den nächsten Europawahlen nicht wieder vor ähnlichen Problemen stehen, muss die EU als Arena für politische Auseinandersetzungen entlang der Lagergrenzen erkannt und genutzt werden. Die europäische Sozialdemokratie braucht (gemeinsam mit politischen Partnern) ein im Konflikt auszutragendes politisches Projekt, das es ermöglichst sie als Anwältin der Mehrheit der europäischen Bürger zu erkennbar werden zu lassen. Christian Kellermann ist Politökonom und Mitarbeiter beim SPD- Parteivorstand in Berlin. christian.kellermann@spd.de Benjamin Mikfeld ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Geschäftsführer des Denkwerk Demokratie. benjamin.mikfeld@denkwerk-demokratie.de Stefan Beck/Christoph Scherrer Wohlfahrtsgewinne versus Demokratie? Das geplante Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) macht eine breitere gesellschaftliche Debatte erforderlich Die Kommission der Europäischen Union und die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika verhandeln derzeit ein transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen (TTIP). Wie der Name verheißt, sollen nicht nur die verbliebenen Zölle im Warenhandel beseitigt und die sogenannten nicht-tarifären Handelsbarrieren für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen vermindert werden. Vielmehr sollen auch die Investitionen beim jeweiligen Handelspartner erleichtert werden. Beworben wird das geplante Abkommen mit Verweis auf signifikante Wohlfahrtsgewinne aufgrund zusätzlicher Exporte und Beschäftigungszuwächse. Kritiker weisen hingegen auf Gefahren für die Demokratie, den Verbraucherschutz und die Arbeitsbedingungen hin. Wir wollen hier entsprechend zunächst die Plausibilität der Arbeitsplatzprognosen und dann die der geäußerten Befürchtungen beleuchten. In Deutschland wird vor allem auf zwei Studien des ifo Instituts in München von 2013 verwiesen: Auf die ifo-studie für das damalige Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (ifo-bmwi, Felbermayr u.a.) und für die Bertelsmann- Stiftung (ifo-bertelsmann, Felbermayr u.a.). Hinsichtlich des Arbeitsmarktes findet die ifo-bmwi-studie für ein»zollszenario«, in dem ein vollständiger Abbau der verbliebenen Zölle angenommen wird, keine nennenswerten Effekte auf das Beschäftigungsniveau. Dagegen sollen in einem»ntb-szenario«, das von einer zusätzlichen Absenkung nichttarifärer Handelshemmnisse (Nontariff Barriers, NTB) um etwa 25 % ausgeht, in Deutschland rund NG FH 7/8 2014 11

25.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Für das noch weitergehende»binnenmarktszenario«, welches eine Absenkung aller effektiven bilateralen Handelshemmnisse auf das Niveau zwischen Deutschland und der EU unterstellt, ermittelt die Studie Beschäftigungsgewinne von bis zu 110.000 Arbeitsplätzen in Deutschland. Zu optimistischeren Schätzungen kommt die ifo- Bertelsmann-Studie, und zwar gewinne Deutschland im Zollszenario knapp 45.000, im Liberalisierungsszenario (entspricht dem»binnenmarktszenario«) 181.000 Arbeitsplätze. Selbst 181.000 Arbeitsplätze sind jedoch nicht einmal ein halbes Prozent der deutschen Gesamtbeschäftigung in Höhe von 41,8 Millionen (2012). Zudem stellt sich die Frage, in welchem Zeitraum realisiert sich der erhoffte Beschäftigungszugewinn? Die Studien zielen explizit auf langfristige Effekte ab. Die lange Frist wird in der ifo-bmwi-studie dreimal spezifiziert, allerdings jedes Mal anders: 5-8 Quartale, 10-20 Jahre und 12 Jahre. Je länger der Zeitraum, umso mehr nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass die gemessenen Effekte durch andere Faktoren beeinflusst werden. Den Prognosen liegen Daten von bisherigen (deutlich weniger umfangreichen) Freihandelsabkommen zugrunde. Aufgrund der negativen Erfahrungen mit Prognosemodellen auf Basis von Daten aus der Vergangenheit im Zuge der Finanzkrise stellt sich die Frage, ob überhaupt so umstandslos vergangene Daten in die Zukunft verlängert werden können. Gerade der technische Fortschritt erschwert den Blick in die Zukunft. So ermittelt beispielsweise die Studie, dass die US-Exporte von Erdöl und Erdgas nur leicht steigen sollen. Angesichts der Erschließung von Schieferöl- und -gasvorkommen durch die neuen Fracking- Techniken wird jedoch vom US Department of Energy derzeit ein anderes Volumen prognostiziert. Die unterschiedlichen Arbeitsplatzprognosen der beiden Studien sind Folge des gewählten Aggregationsniveaus (statt Weltregionen wird von OECD-Ländern ausgegangen) und der Annahme hinsichtlich des Schicksals der durch die Handelsliberalisierung freigesetzten Arbeitskräfte. Wechseln Letztere in produktivere Unternehmen, dann ist der Beschäftigungseffekt geringer als wenn sie in weniger produktiven Branchen angestellt werden. Welche dieser Annahme zutrifft kann nur schwer beurteilt werden. Allerdings werden die Ergebnisse der Studien stark von ihren Annahmen beeinflusst, die jedoch in ihnen nicht offen gelegt sind. Im Unterschied zu diesen optimistischen Prognosen möchten wir erhebliche wettbewerbs- und beschäftigungspolitische Auswirkungen in verschiedenen Sektoren nicht ausschließen. Zu letzteren dürften insbesondere die Landwirtschaft, das öffentliche Beschaffungswesen und die (öffentlichen) Sektorspezifische und beschäftigungspolitische Risiken Dienstleistungen zählen. Eine Abschaffung von Zöllen und die Angleichung von Verfahrensstandards im Agrarsektor würden die im Vergleich deutlich kleineren europäischen Betriebe erheblich unter Druck setzen. Im Bereich der öffentlichen Beschaffung wiederum ist das europäische Interesse an einer Öffnung des für auswärtige Anbieter im Vergleich deutlich geschlosseneren US-Marktes (z.b.»buy American«) größer als umgekehrt. Gleichwohl könnten die Absenkung der Schwellenwerte für Ausschreibungen auf das Niveau des EU-Binnenmarktes und eine Angleichung von Verfahrensstandards die öffentlichen Einflussmöglichkeiten z.b. hinsichtlich arbeits- oder umweltpolitischer Standards einschränken. Beachtliche Auswirkungen eines transatlantischen Abkommens werden auch für den Dienstleistungshandel erwartet. So werden beispielsweise größere Handelseffekte in den Bereichen Informations- und Kommunikations-, Unternehmens- und 12 NG FH 7/8 2014

Finanzdienstleistungen erwartet. Insbesondere im letzteren Bereich wird von Wettbewerbsvorteilen der US-Unternehmen ausgegangen. Arbeitspolitische Auswirkungen sind darüber hinaus in beschäftigungsintensiven Bereichen wie den gesundheits- und den sozialen Dienstleistungen nicht auszuschließen. Vor allem aber nicht ausschließlich im Bereich der Stellen, die eine niedrigere Qualifikation erfordern, lassen aber vergangene Liberalisierungen teilweise Absenkungen von Standards und erhöhten Lohndruck erwarten. Letzteres gilt ebenso für öffentliche (Versorgungs-)Dienstleistungen, zumal deren Definitionen nicht immer eindeutig sind und die Kommission ein dezidiertes Interesse an einer engen Definition des allgemeinen Interesses bzw. einer möglichst weitgehenden Kommerzialisierung und an strengeren wettbewerbspolitischen Regelungen hat. Im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Negativlistenansatz sind hier weitergehende Deregulierungen, Ausgliederungen oder Privatisierungen nicht auszuschließen. Anknüpfend an einen bereits in den 90er Jahren begonnenen, bislang aber nicht sehr erfolgreichen transatlantischen Dialog soll es in den TTIP- Regulative und demokratische Risiken der Verhandlungen Verhandlungen neben den verbliebenen vergleichsweise geringen Zöllen um einen umfassenden Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse oder staatlicher Regulierungen bzw. eine Anpassung regulativer und technischer Standards gehen. Ein solcher Abbau von Handelshemmnissen soll in horizontaler Hinsicht, d.h. alle Sektoren übergreifend, und darüber hinaus sektorspezifisch vertiefend verhandelt werden. Dies kann auch umwelt-, gesundheits-, sozial- oder finanzpolitisch relevante Standards betreffen. Zwar beteuert die Europäische Kommission, dass es nicht um eine Absenkung solcher Standards gehen soll, entsprechende Befürchtungen sind jedoch durchaus begründet. In demokratischer Hinsicht bedenklich ist nicht nur, dass vor allem große Unternehmen und deren Interessenverbände einen privilegierten Zugang zu den Verhandlungsführern genießen und an den Vorlagen (und Verhandlungsergebnissen) mitwirken. Ebenso kritisch ist die überwiegend freihändlerische Orientierung der verhandlungsführenden Vertreter, deren primäres Erfolgskriterium das Liberalisierungsziel und der Abbau unpräzise und deutungsoffen formuliert»unnötiger«regulierungen ist. Sowohl die handelspolitische Tradition der EU als auch die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes lassen befürchten, dass unter dem Primat der Marktöffnung und erschließung unterschiedliche Standards nach unten angepasst werden. Darüber hinaus weisen mehrere Verhandlungsziele darauf hin, dass die Liberalisierungs- und Deregulierungstendenz dauerhaft festgeschrieben werden soll. Zum einen hat der Schwenk zu einem Negativlistenansatz eine expansive Wirkung hinsichtlich der Reichweite der Vereinbarungen, d.h. die Regulierung nicht explizit ausgenommener und ggf. erst zukünftig relevanter Regelungsbereiche wird erheblich erschwert. Zum anderen sollen für bestimmte Bereiche oder Regelungen so genannte»standstill-klauseln«vereinbart werden, die zukünftige Re-Regulierungen untersagen. Die Tatsache, dass die Verhandlungen weitgehend geheim geführt werden, und die Parlamente lediglich am Ende der Verhandlungen ein Mitbestimmungsrecht haben, verstärken entsprechende Befürchtungen natürlich. Das im TTIP vorgesehene Investor- Staat-Streitschlichtungsverfahren (ISDS) im Bereich des Investitionsschutzes bildet zu Recht einen der zivilgesellschaftlich am heftigsten kritisierten Bestandteile der Verhandlungen. Im Rahmen eines Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahrens ha- NG FH 7/8 2014 13

ben Unternehmen die Möglichkeit, Staaten vor einem (vermeintlich) unabhängigen Schiedsgericht auf eine Entschädigung zu verklagen, wenn sie der Ansicht Gefahren der Investor-Staat- Streitschlichtung sind, dass staatliche Maßnahmen oder Regulierungen dem im Abkommen vereinbarten Investitionsschutz zuwider laufen. Entsprechend den in den Verhandlungen angestrebten höchstmöglichen Standards sollen Investitionen umfassend gegen direkte oder indirekte Enteignung durch ungerechtfertigte oder unzumutbare Regulierungen geschützt werden. Durch solche Streitschlichtungsverfahren werden jedoch nicht nur ausländische Investoren umfangreich geschützt sondern zugleich die staatlichen Regulierungsmöglichkeiten eingeschränkt, wenn diese nicht hohe Entschädigungszahlungen riskieren wollen. Dies beginnt mit unpräzisen Bestimmungen darüber, was ein»legitimes«öffentliches Interesse darstellt oder als eine»indirekte«enteignung angesehen werden kann. Darüber hinaus handelt es sich um nicht-öffentliche, oft intransparente Verfahren, deren Schlichter oder Anwälte nicht hoheitlich legitimiert sind. Diese rekrutieren sich in der großen Mehrzahl der Verfahren aus nur rund 20 großen, international agierenden Kanzleien, die sich quasi abwechseln und die Rollen tauschen. Sie pflegen nicht nur enge Beziehungen zu den großen Unternehmen, sondern»scannen«quasi proaktiv nationale Politiken und Regulierungsvorhaben auf erfolgversprechende Klagemöglichkeiten ab, unterbreiten entsprechende Vorschläge und refinanzieren die Klage über den Finanzmarkt. Sowohl die hohen Honorare als auch das Interesse an einem solchen»markt«für Unternehmensklagen lassen vermuten, dass die Kanzleien hierbei zugleich Eigeninteressen verfolgen. Aufgrund der nicht selten hohen Streitwerte und Verfahrenskosten belasten solche Verfahren nicht nur die öffentlichen Haushalte sondern stärken zugleich Investoren auf Kosten demokratischer Willensbildungsprozesse, wenn z.b. Regierungen aufgrund möglicher oder drohender Klagen von vorneherein auf Regelungen oder Politikmaßnahmen verzichten. Angesichts der erwartbaren oder nicht auszuschließenden demokratischen, regulativen, sozial-, umwelt- und gesundheitspolitischen Risiken eines transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen lohnt sich ein genauerer Blick auf die versprochenen Wohlfahrtsgewinne. Die genaue Betrachtung der ifo-studien zu den Wohlfahrtseffekten eines solchen Abkommens wecken Zweifel an der Gewissheit ihrer Prognosen. Zum einen vernachlässigen sie mögliche positive Auswirkungen von wirtschaftlichen Regulierungen sowie die kurzoder mittelfristigen negativen Effekte auf die Beschäftigung in Wirtschaftszweigen, die in Zukunft durch erhöhte Importkonkurrenz betroffen sind. Die vorgenommenen ökonometrischen Querschnittsanalysen ohne Spezifizierung der Handelsabkommen nach Dauer und Tiefe lassen an der Genauigkeit, die die Studien vorgeben zu erreichen, zweifeln. Zudem bleiben die Fragen sowohl nach der Vergleichbarkeit für das TTIP als auch der Tauglichkeit vergangener Daten für Prognosen offen. Irritierend ist insbesondere, dass die errechneten Ergebnisse als objektive Fakten präsentiert werden. Das Wort Prognose taucht in den Studien nicht auf.wie üblich für wissenschaftliche Prognosen wird zwar mit Szenarien gearbeitet, doch diese beziehen sich lediglich auf das vermutete Ausmaß an Liberalisierung durch das TTIP. Szenarien auf der Basis unterschiedlicher Modellannahmen fehlen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass den auf zweifelhaften Annahmen beruhenden Prognosen letztlich eher geringen Zuwächsen von Arbeitsplätzen berechtigte Befürchtungen hinsichtlich De- 14 NG FH 7/8 2014

mokratie, Verbraucherschutz und Arbeitsplatzsicherheit gegenüberstehen, die eine breite gesellschaftliche Debatte über das geplante TTIP erforderlich machen. Stefan Beck ist Lehrbeauftragter an der Uni Kassel; Forschungsschwerpunkte: Politische Ökonomie und Vergl. Kapitalismusforschung. bestef@freenet.de (Dieser Artikel basiert auf einer ausführlicheren Studie zum TTIP [Beck/Scherrer 2014], die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde.) Christoph Scherrer ist Professor für Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel, Schwerpunkt»Globalisierung und Politik«. scherrer@uni-kassel.de Gregor Fitzi Ein Desiderat der Forschung Europas multidimensionale Krise Seit Beginn der Euro-Krise konzentriert sich die Öffentlichkeit auf die Probleme der Finanz- und Steuerpolitik in Europa. Unterschiede zwischen den Sozialstrukturen und politischen Kulturen der einzelnen Länder gerieten in den Hintergrund. Die Harmonisierung ungleicher Nationalstaaten in einem überwölbenden Gebilde wurde auf wirtschaftspolitische Aspekte reduziert. Politiker sprachen von Spannungen zwischen der Wettbewerbs- und Sozialunion, die sie bislang nicht in den Griff bekommen. Zwischen süd- und nordeuropäischen Ländern zeichnet sich ein Konflikt ab, der in der Auseinandersetzung zwischen der»troika«und den Nationalregierungen ausgetragen wird. Auf nationaler sowie subnationaler Ebene breiten sich Ressentiments aus. Diese nähren den Populismus, der zunehmend auch Zugang zu den Parlamenten erhält. Das europäische Vereinigungsprojekt demgegenüber mobilisiert keine breite Wählerschaft mehr. Der Umstand, dass Europa auf fast 70 Jahre Frieden zwischen den europäischen Großmächten zurückblicken kann, scheint nur noch Historiker zu interessieren. Europas Krise hat aber auch andere Dimensionen, die es wert wären zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung zu werden. Dazu gehört vor allem die Legitimation der europäischen politischen Institutionen und die verschiedenen Sozialstrukturen in den europäischen Ländern. Die Forschungsprogramme der öffentlich-rechtlichen sowie privaten Stiftungen haben allerdings andere Schwerpunkte. Die Krisenherde des Mittleren Ostens, Afrikas und Südostasiens bekommen die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt. Schade ist nur, dass gleichzeitig Forschungsprojekte über südeuropäische Länder mit dem Argument abgelehnt werden, dass es darüber»keine fachinterne Debatte«gebe. Der Ernst der Lage um den europäischen Vereinigungsprozess sollte stärker zur Überwindung der akademischen Selbstreferenzialität ermutigen. Die Programme, die die Europäische Kommission unter dem Label Horizont 2020 auf den Weg gebracht hat, setzen diesbezüglich fruchtbare Akzente. Die Untersuchungen des kulturellen Erbes der europäischen Nationen sowie des Bezugs ihrer politischen Kultur auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ermöglichen Einsichten in die Mannigfaltigkeit der europäischen Identitäten. Eine Debatte über 16 NG FH 7/8 2014