Das Ingenieurwesen und die Ingenieurwissenschaften Peter Jan Pahl Wir Alle wissen, dass Ingenieure das Materielle im Leben der Menschen gestalten. Sie schaffen Objekte und Instrumente aus natürlichen und künstlichen Stoffen, ändern die Form und die materielle Beschaffenheit der Umwelt und beeinflussen den Ablauf von Prozessen in der Natur. Diese Tätigkeiten sind unter dem Begriff Ingenieurwesen zusammengefasst. Das Ingenieurwesen umfasst die Ingenieurpraxis, die Ingenieurwissenschaft und die Ingenieurkunst. Es befasst sich technisch, wissenschaftlich, empirisch und künstlerisch mit Artefakten und natürlichen Gegenständen. Die Ingenieurwissenschaft steht nicht neben, nicht unter und auch nicht über dem Ingenieurwesen, sondern ist ein integraler Bestandteil des Ingenieurwesens. Im acatech IMPULS Erkennen-Gestalten-Verantworten werden die Ingenieurwissenschaften nicht nur dadurch charakterisiert, dass sie kognitive Voraussetzungen für Innovation in der Technik und für die Anwendung technischen Wissens schaffen. Sie befassen sich, wie wir wissen, auch mit der Reflexion über Auswirkungen des Ingenieurwesens und dessen Verhältnis zum Geistigen als Gegenstück des Materiellen. Der Begriff geistig ist in diesem Zusammenhang sehr weit gefasst. Das Geistige umfasst viele Formen des Denkens, Fühlens und Handelns von Menschen, beispielsweise Philosophie, Kunst, Politik, Gesellschaft, Rechtswesen, Wirtschaft und Bildung. Im Geistigen werden die Bedürfnisse der Menschen erkannt, Wertmaßstäbe festgelegt, Ziele der Gesellschaft definiert und Prozesse zum Erreichen dieser Ziele gesteuert. Jeder, der sich mit dem Ingenieurwesen befasst, weiß aus Erfahrung, dass in der Praxis eine ständige Kopplung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen stattfindet. Zweck und Umfang von Projekten der materiellen Infrastruktur werden im Geistigen festgelegt. Dort wird entschieden, welche Mittel die Gesellschaft für Projekte bereitstellt und wann Ingenieure mit ihrer Planung und Ausführung beauftragt werden. Auch viele der Erfolgskriterien für Ingenieurprojekte werden im Geistigen festgelegt. Die Verantwortung für Projekte liegt gleichermaßen bei den Vertretern der geistigen und der materiellen Sphäre. Die Kopplung zwischen materieller und geistiger Sphäre bestimmt in demokratischen Gesellschaften die Entwicklung der Infrastruktur gleichrangig mit der technischen Machbarkeit. Die breite Verteilung der Macht mit vielen Checks and Balances macht 1
diese Kopplung sehr komplex. Die Erforschung ihrer Formen, Akteure, Abläufe und Wertmaßstäbe ist eine wichtige Aufgabe aller Wissenschaften, nicht nur der Ingenieurwissenschaften. Nachdem ein Ingenieurprojekt in Abstimmung zwischen der geistigen und der materiellen Sphäre definiert ist, erfordert seine Bearbeitung das Zusammenwirken von Ingenieurpraxis und Ingenieurwissenschaft: In der Ingenieurpraxis werden Wissenslücken erkannt. Ihre Untersuchung wird als wissenschaftliche Aufgabenstellung formuliert. Ingenieure müssen in der Lage sein, zu erkennen und zu formulieren, was sie nicht wissen. Die Ingenieurwissenschaft erzeugt neues Wissen, indem sie die in der Praxis erkannten Aufgaben löst. Die Ingenieurpraxis erprobt die Nützlichkeit des neuen Wissens. Festgestellte Mängel können zu weiterer Forschung führen. So kommt es zu Kreisläufen von Forschung und Praxisanwendung. Signifikante Änderungen in der Ingenieurpraxis führen zur Entwicklung neuer Normen in Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft. Zusätzlich zu den Aufgaben der Praxis für die Wissenschaft gibt es auch Aufgaben, welche die Wissenschaft sich selbst stellt, weil sie Widersprüche oder Lücken in dem bestehenden Wissen erkennt. Zusätzlich zu den Lösungen der Wissenschaft gibt es auch Lösungen, die in der Praxis gefunden werden. Unabhängig vom Ursprung der Aufgaben und der Lösungen ist jedoch immer die Wissenschaft für die Verifikation des Wissens zuständig. Die wissenschaftliche Gemeinschaft entscheidet mit ihren Mechanismen und im Kreise ihrer Mitglieder, ob sie vorliegende neue Informationen als richtig anerkennt und damit zu Wissen macht. Ganze Epochen des Ingenieurwesens sind durch neue Werkzeuge wie Teleskop und Computer, und neue Werkstoffe wie Stahl und Beton geprägt worden. Die Werkzeuge und Werkstoffe haben als Katalysatoren für den Fortschritt und die damit verbundene Forschung gewirkt. Auch die Gründung von Forschungseinrichtungen und Versuchsanstalten hat das Verhältnis zwischen der Praxis und den Wissenschaften stark beeinflusst. Aus meiner Darstellung des Zusammenwirkens von Praxis und Wissenschaft könnte der Eindruck entstehen, ihre Beziehung sei eine unstrukturierte Menge von Einzelereignissen. Dem ist jedoch nicht so. In dem bereits genannten acatech IMPULS ist ein eindeutiger Fokus formuliert: Im Mittelpunkt der Technikwissenschaften stehen Modelle. Ich möchte diese Aussage wie folgt erweitern: Im Mittelpunkt des Ingenieurwesens stehen Modelle. Auf diese Modelle werde ich jetzt näher eingehen. 2
Modelle entstehen im Denken. Darin unterscheiden sie sich von Kunstwerken, die eher Gefühle ansprechen. Die Tradition der Gedankenmodelle reicht von Demokrit über Newton bis zu Einstein. Modellinhalte wurden schon in der Antike beschrieben und mit Zeichnungen weitergereicht. Im Mittelalter wurden für Bauherren dreidimensionale geometrische Architekturmodelle wichtiger Kirchen und Brücken in verkleinertem Maßstab gebaut und als Entscheidungshilfen genutzt. Dies war eine frühe Form der Kopplung der materiellen und der geistigen Sphäre. Die Mechanik hat die Modelle um die Prognose des physikalischen Verhaltens erweitert. Mit der Mechanik hat auch die Mathematik Einzug in das Ingenieurwesen gehalten. Die stofflichen Modelle in verkleinertem Maßstab waren zur Abbildung physikalischer Phänomene ungeeignet. Die Ingenieure nutzten daher für ihre Modelle Berechnungen, Berichte und technische Zeichnungen, wie wir sie aus dem 20. Jahrhundert kennen. Mit der Verbreitung des Computers haben die Modelle einen neuen Charakter und erhöhte Bedeutung gewonnen. Die in den Modellen des 20. Jahrhunderts statisch gespeicherten Daten können nur durch menschliche Intervention genutzt werden. In Computermodellen werden aber neben Objekten auch Prozesse abgebildet. Die Modelle selbst erzeugen aus Eingabedaten einen großen Teil der Information zur Gestaltung und Steuerung der Originale und geben diese in Informationsnetzen an andere Modelle weiter. Die Modelle sind operativ geworden. Operative Modelle werden aus generalisierten Bestandteilen nach allgemeinen Regeln konstruiert. Dazu verwendet man wissenschaftliche Konzepte wie das Selektieren, Abstrahieren, Klassifizieren, Abbilden, Transformieren und Vereinfachen. Mit diesen Konzepten wird das Wissen der Ingenieure strukturiert und mathematisch formuliert. Es wird möglich, Information anzuordnen, Regeln aufzustellen und Abläufe zu gliedern, um das Ingenieurwesen so zu systematisieren. Die Modellbildung ist nicht nur Teil der wissenschaftlichen Methode, sie ist auch ein unverzichtbares Werkzeug der Ingenieurpraxis. Heute präsentiert sich das Ingenieurwesen als eine Fülle von operativen Modellen. Computer werden nicht als mächtige Zahlenrechner aufgefasst, sondern als Medien für die Abbildung von Originalen. Forschende und praktizierende Ingenieure analysieren gemeinsam die Teilbereiche des Ingenieurwesens, identifizieren Originaltypen und konstruieren dafür Modelltypen. Immer mehr Zweige des Ingenieurwesens werden reformiert, indem die erforderlichen operativen Modelltypen entwickelt werden. 3
Wie bei Innovationen üblich gibt es auch bei den operativen Modellen besondere Merkmale, die den Nutzen der Neuerung beeinflussen. Im Folgenden möchte ich einige wichtige Merkmale andeuten. Modelltyp: Die Aufgaben des Ingenieurwesens werden mit einer breiten Palette von Modelltypen bearbeitet. Ein Modelltyp ist mit einem bestimmten Aufgabenbereich des Ingenieurwesens assoziiert, beispielsweise mit der Berechnung von Tragwerken. Die Zerlegung eines Aufgabenbereichs in Modelltypen ist nicht eindeutig. Originale eines Typs stehen in Wechselwirkung mit Originalen anderer Typen. Die Modelltypen kommunizieren auf verschiedene Weisen. Vollständigkeit: Ein Modelltyp ist vollständig, wenn darin alle Objekte und Prozesse der Originale seines Aufgabenbereichs abbildbar sind. Viele der großen Katastrophen im Ingenieurwesen sind auf unvollständige Modelle zurückzuführen. Vollständigkeit ist leider nicht nachweisbar. Bei Innovationen ist die Wahrscheinlichkeit unvollständiger Abbildungen in den Modellen hoch. Die Wissenschaft kann den Grad der Vollständigkeit von Modelltypen durch umfassende Behandlung der Phänomene und durch systematische Simulation des Verhaltens von Originalen fördern. Komplexität: Die Abbildung der Objekte und Prozesse eines Originals auf ein Modell liegt im Ermessen des Modellbauers. Sein Konzept bestimmt die Komplexität des Modells, also die Anzahl der Objekttypen und Objekte, sowie deren Attribute, Methoden und Abhängigkeiten. Minimale Komplexität fördert das Verständnis der Abläufe im Modell und damit die Beurteilung des Modellverhaltens. Transparenz: Das Eigentum an der in der Praxis eingesetzten kommerziellen Modellsoftware wird häufig geschützt, indem die internen Abläufe nicht vollständig offengelegt werden. Daher können Ingenieure die Abläufe im Modell nicht vollständig nachvollziehen. Sie tragen aber trotz der mangelhaften Transparenz die Verantwortung für die mit der Software bearbeiteten Projekte. Die Prüfung eines Projektmodells mit einem unabhängigen Modell kann die Einsicht in die internen Abläufe der Modelle nicht ersetzen, da beide Modelle unvollständig sein können. Aktualität: Die Nutzung der kommerziellen Software für einen Modelltyp erstreckt sich über viele Jahrzehnte. Tritt in diesem Zeitraum ein wissenschaftlicher Fortschritt grundsätzlicher Art auf, so wird das neue Wissen wegen des damit verbundenen Aufwands häufig nicht mit kommerzieller Software nutzbar gemacht. Die praktisch einsetzbaren Modelltypen entsprechen dann nicht mehr dem Stand der Wissenschaft. 4
Kopplung an das Original: Die passiven Modelle des 20. Jahrhunderts sind nur schwach mit ihren Originalen gekoppelt. Heute wird in cyberphysikalischen Systemen eine starke Kopplung von operativen Modellen und ihren Originalen erreicht. So können schwierige Aufgaben wie das Modellieren und Steuern des Alterns von Städten in Angriff genommen werden. Ausbildung: Wie gut es gelingt, das Materielle mit operativen Modellen zu gestalten, ist maßgeblich von der Qualität der Ingenieurausbildung abhängig. Die Anpassung der klassischen Ausbildung an die operativen Modelle ist eine große akademische Herausforderung. Die Inhalte der Fachgebiete ändern sich, beispielsweise sind numerische Verfahren besonders wichtig geworden. Neue Fachgebiete wie Informatik und Logistik wurden in das Curriculum aufgenommen. Neben das Formulieren von Theorien auf naturwissenschaftlicher Grundlage ist im Studium das Untersuchen des Verhaltens von Originalen mit operativen Modellen getreten. Studenten können durch Simulation zahlreiche Lösungen mit vertretbarem Aufwand vergleichen, um so ihr Urteilsvermögen zu schärfen. Am geringsten sind bisher die Fortschritte im Studium bezüglich der Kopplung des Materiellen und des Geistigen. Wir wissen noch nicht ausreichend, wie wir Studenten auf diese Kopplung vorbereiten sollen. Vermutlich haben wir die Formen, Abläufe und Wertmaßstäbe der Kopplung noch nicht genügend erforscht, um sie gut lehren zu können. Abschließend fasse ich die aus meiner Sicht wichtigsten Gedanken zusammen: - Das Ingenieurwesen umfasst Praxis, Wissenschaft und Kunst. - Im Ingenieurwesen sind die materielle und die geistigen Sphäre gekoppelt. - Praxis und Wissenschaft sind gemeinsam Träger der Innovation. - Im Mittelpunkt des Ingenieurwesens stehen die operativen Modelle. - Wichtige Merkmale operativer Modelle sind Typ, Vollständigkeit, Komplexität, Transparenz, Aktualität und Kopplung mit dem Original. - Die operativen Modelle führen zu weitreichenden Reformen der Ingenieurausbildung. Ich danke Ihnen sehr für Ihre freundliche Aufmerksamkeit. 5