Nach der Grundsatzentscheidung des BAG vom 23.06.2010 Wie geht es weiter mit der Tarifeinheit? Praktische Folgen und rechtspolitische Möglichkeiten 1
Übersicht: I. Tarifpluralität Was bedeutet das? II. Rechtsfolgen der Tarifpluralität bis zum 23.06.2010 III. Entscheidungen des BAG vom 27.01.2010 und 23.06.2010 IV. Rechtsfolgen der Tarifpluralität Lösung des BAG seit dem 23.06.2010 V. Argumente für die Beibehaltung der Tarifpluralität VI. Gesetzentwurf von DGB und BDA 2
I. Tarifpluralität Was bedeutet das? Ein Betrieb AG ist an mit verschiedenen Gewerkschaften geschlossene Tarifverträge gebunden Tarifverträge haben denselben Regelungsgegenstand Tarifverträge weichen aber inhaltlich voneinander ab 3
II. Rechtsfolge der Tarifpluralität - Lösung des BAG bis zum 23.06.2010 Tarifpluralität Tarifeinheit: D.h., dass in jedem Betrieb grundsätzlich für alle in diesem Betrieb begründeten Arbeitsverhältnisse nur ein Tarifvertrag anzuwenden ist. Grundsatz der Spezialität: Nach dem Grundsatz der Spezialität soll dies derjenige Tarifvertrag sein, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebes und den darin tätigen Arbeitnehmern am besten Rechnung trägt. D.h. ein Firmentarifvertrag verdrängt einen Verbandstarifvertrag, ein regionaler Tarifvertrag verdrängt einen Bundestarifvertrag und ein Fachtarifvertrag verdrängt einen allgemeinen Tarifvertrag. Bei gleicher Sachnähe entscheidet die Zahl der tariflich erfassten AN. 4
III. Entscheidungen des BAG vom 27.01.2010 und 23.06.2010 Sachverhalt (1) - Im Rahmen der Entscheidung des BAG vom 27.01.2010, Az.: 4 AZR 549/08 (A) begehrte ein AN, der als Arzt in einem Krankenhaus beschäftigt ist und Mitglied des Marburger Bundes ist, die Zahlung eines Aufschlags zur Urlaubsvergütung nach dem BAT. - Der AG war Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband, der Mitglied in der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist. - Bis 30.09.2005 galt für AG und AN aufgrund ihrer jeweiligen Mitgliedschaften der BAT nach den Bestimmungen des TVG unmittelbar und zwingend. - Der BAT war zuletzt auf AG-Seite von der VKA, auf AN-Seite sowohl von ver.di als auch vom Marburger Bund, vertreten durch ver.di, geschlossen worden. 5
III. Entscheidungen des BAG vom 27.01.2010 und 23.06.2010 Sachverhalt (2) - Der vom Marburger Bund mit der VKA geschlossene TV für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern (TV-Ärzte) trat erst zum 01.08.2006 in Kraft. - AG verweigerte die Zahlung des Urlaubsaufschlags nach dem BAT, da seiner Auffassung der für die Mitglieder des Marburger Bundes auch noch nach dem 01.10.2005 geltende BAT nach dem Grundsatz der sog. Tarifeinheit ab diesem Zeitpunkt vom TVöD als speziellerem TV verdrängt worden sei. - Am 01.10.2005 trat der TVöD in Kraft; dieser wurde von der VKA und u.a. von der Gewerkschaft ver.di, nicht jedoch vom Marburger Bund geschlossen. - Ab dem 01.10.2005 war der AG sowohl an den zwischen Marburger Bund und der VKA noch weiterhin geltenden BAT als auch an den TVöD unmittelbar tarifgebunden. 6
III. Entscheidungen des BAG vom 27.01.2010 und 23.06.2010 Entscheidung: - Der 4. Senat wollte an dem Grundsatz der Tarifeinheit nicht mehr festhalten. Er musste aber vor Aufgabe seiner Rechtsprechung beim 10. Senat anfragen, ob dieser am Grundsatz der Tarifeinheit weiterhin festhalten will. - Der 10. Senat schloss sich dann im Urteil vom 23.06.2010, AZ. 10 AS 3/10 der Rechtsauffassung des 4. Senats zur Tarifeinheit an. Die bisherige, knapp 50jährige Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit wurde somit aufgegeben. 7
IV. Rechtsfolge der Tarifpluralität - Lösung des BAG seit dem 23.06.2010 - Par. 4 Abs. 1 S. 1 TVG gilt auch dann uneingeschränkt, wenn in einem Betrieb kraft beiderseitiger Tarifbindung des AG nach Par. 3 Abs. 1 TVG auf mehrere Arbeitsverhältnisse derselben Art, verschiedene Tarifverträge zur Anwendung kommen. - D.h. Normen eines kraft beidseitiger Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien auf ein Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regeln, werden nicht mehr durch speziellere tarifliche Regelungen verdrängt, die kraft einseitiger Tarifbindung des Arbeitgebers im Betrieb ebenfalls Anwendung finden. 8
V. Argumente für die Beibehaltung der Tarifeinheit Die Aufgabe der Tarifeinheit wird zu einer Auflösung branchenorientierter Gewerkschaftsstrukturen sowie zu einer Zersplitterung der Tariflandschaft führen. Auch die friedenssichernde Funktion des Flächentarifvertrages wird deutlich geschwächt. Es wird zu einer Belastung des Betriebsklimas durch Spaltung der Belegschaften in rivalisierende Interessengruppen und den Verlust einheitlicher in sich gerechter Vergütungssysteme kommen. 9
V. Argumente für die Beibehaltung der Tarifeinheit Es kommt zu Rechtsunsicherheit bei der Tarifanwendung. Es kommt zu Rechtsunsicherheit bei Mitbestimmungsrechten. Es kommt zu Rechtsunsicherheit bei den Arbeitsbedingungen. Es kann zu Problemen wegen der Pflicht zur Offenlegung der Gewerkschaftszugehörigkeit kommen. Es kommt zu Rechtsunsicherheit bei Arbeitskämpfen. 10
V. Argumente für die Beibehaltung der Tarifeinheit Wie bisher bedeutet Tarifeinheit nicht ein Monopol für bestimmte Tarifvertragsparteien. Der Wettbewerb verschiedener Gewerkschaften bleibt auch bei Fortgeltung der Tarifeinheit bestehen und wird fair und demokratisch ausgetragen. Niemand hindert eine Organisation, mehr Mitglieder zu werben als eine andere. Wenn eine Gewerkschaft attraktive Angebote macht, gewinnt sie auch neue Mitglieder. Wer die meisten Mitglieder hat, und einen Tarifvertrag abschließt, dessen Tarifvertrag gilt. Auch nach dem Grundsatz der Tarifeinheit ist es möglich, dass mehrere Tarifverträge von verschiedenen Gewerkschaften für unterschiedliche Belegschafts- und Berufsgruppen innerhalb des Betriebes geschlossen werden. Voraussetzung ist lediglich, dass sich die Belegschaftsgruppen nicht überschneiden und das die Tarifvertragsparteien sich einigen. 11
VI. Gesetzesvorschlag von DGB und BDA Überschneiden sich in einem Betrieb die Geltungsbereiche mehrerer Tarifverträge, die von unterschiedlichen Gewerkschaften geschlossen werden (konkurrierende Tarifverträge/ Tarifpluralität), so ist nur der Tarifvertrag anwendbar, an den die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb gebunden ist. Maßgeblich ist bei solchen sich überschneidenden Tarifverträgen folglich, welche der konkurrierenden Gewerkschaften im Betrieb mehr Mitglieder hat (Grundsatz der Repräsentativität). Treffen demnach z. B. zwei Entgelt-Tarifverträge zusammen, die das Entgelt zumindest teilweise gleicher Arbeitnehmergruppen regeln, gilt im Betrieb der Tarifvertrag, an den die größere Anzahl von Gewerkschaftsmitgliedern gebunden ist. Für die Laufzeit des nach diesem Grundsatz im Betrieb anwendbaren Tarifvertrages gilt ebenfalls wie bisher die Friedenspflicht. Diese wird durch die gesetzliche Regelung auch auf konkurrierende Tarifverträge erstreckt, die nach der vorstehenden Regelung nicht zur Geltung kommen könnten. Die Friedenspflicht gilt damit während der Laufzeit des vorrangigen Tarifvertrages auch gegenüber anderen Gewerkschaften. Wenn z. B. eine Gewerkschaft für eine Berufsgruppe einen Entgelt-Tarifvertrag verlangt, obwohl für diese Arbeitnehmer ein Tarifvertrag der repräsentativeren Gewerkschaft gilt, so besteht auch gegenüber der Spartengewerkschaft die Friedenspflicht für die Laufzeit des bestehenden Tarifvertrages. Arbeitskämpfe um solche Tarifverträge durch eine im Betrieb nicht repräsentative Gewerkschaft sind daher während der Laufzeit eines vorrangigen Tarifvertrages ausgeschlossen. 12