Betriebliche Gesundheitsförderung



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Transkript:

Betriebliche Gesundheitsförderung Prof. Dr. Bernhard Zimolong Prof. Dr. Gabriele Elke Ruhr Universität Bochum Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie

Vorwort 3 Vorwort Vorwort Der Vorläufer dieses Studienbriefs erschien 1998 unter dem Titel: Sicherheitsund Gesundheitsmanagement. Seitdem hat die betriebliche Gesundheit in der Öffentlichkeit stark an Bedeutung gewonnen. Durch die Neufassung des 20 Sozialgesetzbuch V, durch das Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde der Handlungsspielraum für die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Primärprävention für die Krankenkassen erweitert. Die Spitzenverbände der Krankenkassen haben Grundsätze, Empfehlungen und Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung und Primärprävention erarbeitet. Zusammen mit den Unfallversicherungsträgern führen die Krankenkassen in den Betrieben wieder verstärkt Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention durch. Gerade im Hinblick auf den Umgang mit psychischen Belastungen sind sowohl organisationale als auch individualpsychologische Konzepte gefragt. Das betriebliche Gesundheitsmanagement bezieht sich auf die systematische Herangehensweise in Unternehmen und Einrichtungen der öffentlichen Hand zur Umsetzung von gesundheitsförderlichen und präventiven Einzelmaßnahmen. Management als Prozess meint die Gestaltung von Systemen und die Koordination, Steuerung und Lenkung von Prozessen. Davon zu unterscheiden ist das persönliche Gesundheitsmanagement, das sich auf die Pläne und Maßnahmen der einzelnen Person bezieht. Dafür wird auch der Begriff Selbstmanagement gebraucht Die betriebliche Gesundheitsförderung ist ein umfassender Begriff, der sowohl Einzelmaßnahmen als auch die systematische Herangehensweise des Gesundheitsmanagements einschließt. Daher haben wir uns entschlossen, den neuen Titel Betriebliche Gesundheitsförderung zu wählen. Inhaltlich sind damit sowohl die Maßnahmen der betrieblichen und persönlichen Ressourcenförderung als auch der Präventionsmaßnahmen gemeint. Entsprechend dem Erkenntnisfortschritt und der erweiterten Schwerpunktsetzung ist der neue Studienbrief grundlegend überarbeitet worden. Im Kapitel 1 Betriebliche Gesundheitslage fassen wir die Basisdaten zur Arbeit und Gesundheit in Deutschland zusammen. Bereits hier werden erste Verknüpfungen zwischen Arbeitsbelastungen, Gesundheitsbeschwerden und Erkrankungen aufgezeigt. Im Kapitel 2 Betriebliche Gesundheitsförderung legen wir die theoretischen und begrifflichen Grundlagen für das Management allgemein und speziell für den Arbeits- und Gesundheitsschutz (AGS) und stellen die Ergebnisse moderner Managementkonzeptionen vor. Ohne ein allgemeines Verständnis von betrieblicher Gesundheitsförderung und von organisationalen Strukturen, Prozessen und Ver-

4 Vorwort halten in Organisationen lässt sich keine Organisationsentwicklung im AGS betreiben. Das Kapitel 3 Personalmanagement führt die Personalsysteme der Personalwirtschaftslehre ein, knüpft eine Verbindung zu den psychologischen Grundlagen von Führung, Steuerung von Teams und Förderung der Selbstverantwortung auf der Basis evidenzbasierter Ergebnisse und diskutiert die Beiträge der betrieblichen Gesundheitskultur zur Verbesserung der betrieblichen Gesundheitslage. Im 4. Kapitel Wirksamkeit gesundheitsbezogener Interventionen werden die Beiträge der wichtigsten gesundheitsbezogenen Interventionen zur Stabilisierung und Verbesserung der Gesundheit aufgrund vorliegender Reviews und Metaanalysen aufgearbeitet. Im einzelnen stellen wir die Verfahren und die Ergebnisse zur Wirksamkeit gesundheitsförderlicher Arbeitsgestaltung, des Verhaltensmanagements und Führung, von Gesundheitszirkeln und Stressbewältigungsprogrammen zusammen. Das 5. Kapitel Managementsysteme für die betriebliche Gesunbdheitsförderung schließlich widmet sich den systematischen betrieblichen Ansätzen der Gesundheitsförderung. Darunter fallen sowohl Gesundheitsprogramme als auch umfassende Systeme des Gesundheitsmanagements. Am Beispiel der Einführung eines Gesundheitsmanagementsystems in einem Unternehmen werden Konzepte, Maßnahmen und Instrumente aus den vorherigen Kapiteln noch einmal aufgegriffen, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Thematisiert wird die Funktion des Managements für die Gestaltung und Entwicklung organisationaler Lernprozesse im AGS. Gezeigt wird an einem Organisationsentwicklungsprozess, den der Autor und die Autorin über 4 Jahren betreut haben, wie ein integratives Management des AGS implementiert, gestaltet und entwickelt werden kann. Behandelt werden aber auch die Rückschläge, die sich zwangsläufig einstellen. Wichtige Daten und Erkenntnisse der vorliegenden Kapitel stammen aus dem Forschungsprojekt GAMAGS: Ganzheitliches Management des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, das vom Projektträger AuT des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF, betreut durch Frau Ilona Kopp, gefördert wurde. Ebenfalls beigetragen haben die zahlreichen Organisationsentwicklungsprojekte in Unternehmen und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes. Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei den Verantwortlichen und Mitarbeitern für ihre Teilnahme bedanken. Bochum, im Oktober 2005 Bernhard Zimolong und Gabriele Elke

Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort 3 Inhaltverzeichnis 5 1 Betriebliche Gesundheitslage 9 1.1 Zur Datenlage 9 1.2 Arbeitsbelastungen 13 1.3 Erkrankungen 17 1.4 Berufskrankheiten, Unfallgeschehen und Verrentung 21 1.4.1 Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen 21 1.4.2 Unfallgeschehen 25 1.4.3 Verrentung wegen Erwerbsminderung 26 1.5 Kosten der Arbeitsunfähigkeit 28 Literaturempfehlung 31 Übungsaufgaben zu Kapitel 1 32 2 Betriebliche Gesundheitsförderung 33 2.1 Arbeit, Gesundheit und Lebensqualität 33 2.1.1 Gesundheitsverständnis 33 2.1.2 Ressourcen 34 2.1.3 Ziel Gesundheitsförderung 35 2.2 Organisation und Managementaufgaben 37 2.2.1 Merkmale von Organisationen 37 2.2.2 Wandel von Organisationsformen 40

6 Inhaltsverzeichnis 2.3 Umfelder und Vernetzung 44 2.3.1 Politisch-rechtliches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Umfeld 44 2.3.2 Präventionsnetzwerke 50 2.4 Organisationsgestaltung und Verhaltenssteuerung 53 2.4.1 Arbeitsgestaltung 55 2.4.2 Verhaltenssteuerung: Kontrollformen 58 2.4.3 Strukturen: Gestaltung von Handlungsräumen 61 2.4.4 Kultur: Gemeinsame Werte und Normen 66 2.5 Gesundheitsmanagementsystem 68 2.5.1 Zielsetzung und Funktion 68 2.5.2 Vorgehen und Gestaltungsfelder 70 2.5.3 Gesundheitsleistungen und ihre Messung 71 Literaturempfehlung 74 Übungsaufgaben zu Kapitel 2 75 3 Personalmanagement 77 3.1 Aufgaben und Funktionen 77 3.2 Strukturelle Führung 79 3.2.1 Gestaltung von Systemen 79 3.2.2 Einsatz von Personalsystemen 83 3.3 Personale Führung 88 3.3.1 Psychologische Grundlagen 88 3.3.2 Direkte und indirekte Führung 93

Inhaltsverzeichnis 7 3.4 Beteiligung 95 3.5 Selbstmanagement 96 3.6 Betriebliche Gesundheitskultur 99 3.6.1 Merkmale und Bedeutung 99 3.6.2 Untersuchungen 101 3.6.3 Förderung einer positiven Gesundheitskultur 103 Literaturempfehlung 105 Übungsaufgaben zu Kapitel 3 106 4 Wirksamkeit gesundheitsbezogener Interventionen 107 4.1 Proaktive und reaktive Präventionsstrategien 107 4.2 Leistungsindikator Gesundheitsquote 110 4.3 Gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung 113 4.4 Gesundheitsbezogenes Verhaltensmanagement 114 4.4.1 Führungsverhalten 114 4.4.2 Verhaltensprogramme 117 4.4.3 Fehlzeitengespräche 119 4.5 Gesundheitszirkel 120 4.6 Stressbewältigungsprogramme 122 4.6.1 Begriffliche Abgrenzungen 122 4.6.2 Wirksamkeit von Stressmanagement Trainings 123 Literaturempfehlung 127 Übungsaufgaben zu Kapitel 3 128

8 Inhaltsverzeichnis 5 Managementsysteme für die betriebliche Gesundheitsförderung 129 5.1 Betriebliche Gesundheitssysteme 129 5.2 Gesundheitsförderung der Krankenkassen 132 5.2.1 Gesundheitsbericht 132 5.2.2 Betriebliche Datenanalysen 136 5.3 Organisationale Gesundheitsprogramme 138 5.4 Einführung eines Gesundheitsmanagementsystems 139 5.4.1 Lernen und Organisationsentwicklung 139 5.4.2 Vorgehen 143 5.4.3 Diagnose 145 5.4.4 Interventionen 149 5.4.5 Evaluation 152 5.4.6 Fazit 155 Literaturempfehlung 157 Übungsaufgaben zu Kapitel 5 158 Literaturverzeichnis 159 Lösungen der Übungsaufgaben 179

Betriebliche Gesundheitslage 9 1 Betriebliche Gesundheitslage 1.1 Zur Datenlage Die folgenden Analysen zu den krankheitsbedingten Fehlzeiten, Berufskrankheiten, Unfällen und Verrentungen in der deutschen Wirtschaft basieren auf unterschiedlichen Datenquellen. Die Statistiken im jährlichen Bericht der Bundesregierung Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (BMWA, 2005) über Arbeitsunfähigkeit (AU) setzen sich aus den Angaben über Pflichtversicherte und freiwillig Versicherte der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen zusammen. Die Versicherten der privaten Krankenkassen werden nicht erfasst. Im Jahr 2003 betrug die Zahl der Erwerbstätigen 36,172 TSD, die AU-Statistik der Bundesregierung enthält Angaben von 19,234 TSD Versicherten, das sind ca. 53% der Erwerbstätigen. Die Datenbasis enthält sämtliche AU-Fälle, die den Krankenversicherungen gemeldet wurden. Kurzzeiterkrankungen bis zu drei Tagen werden nur soweit erfasst, als eine ärztliche Krankschreibung vorliegt. Der tatsächliche Anteil der Kurzzeiterkrankungen liegt daher höher, als dies in den Daten zum Ausdruck kommt. Insgesamt liegen daher die Fallzahlen höher und die rechnerische Falldauer liegt niedriger. In die Arbeitsunfähigkeitstage gehen auch Wochenenden und Feiertage mit ein. Sie sind mit betriebsinternen Statistiken, bei denen nur die Arbeitstage berücksichtigt werden, nicht vergleichbar. Die Versicherten in den einzelnen Krankenkassen sind nur bedingt repräsentativ für die Gesamtbevölkerung bzw. die Beschäftigten in den einzelnen Wirtschaftszeigen. Beispielsweise waren bei der AOK im Jahr 2003 insgesamt 10,2 Mio. Arbeitnehmer versichert. Das sind rund 36% der Sozialversicherungspflichtigen. Zum Vergleich: Vom BKK-Bundesverband wurden 7 Mio., das sind 25% erfasst. Im Gegensatz zur AOK gelten die Daten als eher repräsentativ für die Erwerbstätigen. Auf Grund ihrer historischen Funktion als Basiskasse weist die AOK einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Versicherten aus dem gewerblichen Bereich auf. Angestellte sind dagegen unterrepräsentiert. Bezogen auf die unterschiedlichen Wirtschaftsgruppen als auch insgesamt weisen die AOK-Mitglieder einen durchschnittlich höheren Krankenstand als Versicherte aus anderen Krankenkassen auf. Die Zahlen des Arbeits- als auch des Wegeunfallgeschehens und der Berufskrankheiten im Bericht der Bundesregierung basieren auf den Geschäftsergebnissen des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften, des Bundesverbandes der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und des Bundesverbandes der Unfallkassen, die Berufsgenossenschaft der öffentlichen Hand. Die Zahlen erfassen das vollständige Unfallgeschehen, allerdings eingeschränkt auf die Arbeits- und Wegeunfälle mit einer Arbeitsunfähigkeitsdauer über drei Tagen. Die absolute Zahl der Arbeits- und Wegeunfälle ist daher deutlich höher. Datenquellen Krankheiten Unfälle

10 Zur Datenlage Arbeitsunfall (ArbU) Ein Unfall, den eine versicherte Person bei der Ausübung ihrer versicherten Tätigkeit innerhalb und außerhalb der Arbeitsstätte, z. B. auch im Straßenverkehr erleidet. Ein meldepflichtiger Unfall (Arbeits- oder Wegeunfall) liegt vor, wenn eine Person getötet oder so verletzt wird, dass sie stirbt oder für mehr als 3 Tage völlig oder teilweise arbeitsunfähig ist. In der Statistik der Berufsgenossenschaft sind nur die meldepflichtigen Unfälle enthalten. 1000-Mann-Quote Anzahl der meldepflichtigen Unfälle pro 1,000 Vollarbeiter pro Jahr. Arbeitsunfähigkeit (AU) Krankheitsbedingte Fehlzeiten auf der Basis der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen der Versicherten an die Krankenkasse. AU-Fälle Anzahl der Fälle von Arbeitsunfähigkeit, die den Krankenkassen gemeldet wird. Werden als Prozentzahl der AU-Fälle bezogen auf die Zahl der Versicherten der jeweiligen Krankenkasse angegeben. AU-Tage Anzahl der AU-Tage im Auswertungsjahr. Werden als Prozentzahl auf die Zahl der Versicherten der Krankenkasse bezogen. Arbeitsfreie Zeiten wie Wochenenden und Feiertage, die in den Krankschreibungsraum fallen, gehen in die Berechnung ein. AU-Tage je Fall Mittlere Krankheitsdauer eines AU-Falls. Berufskrankheiten Krankheiten, die von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung festgelegt werden. Die Liste umfasste im Jahr 2005 68 Krankheiten mit deutlicher Dominanz im somatischen Bereich. Erwerbstätige Personen, die als Arbeitnehmer in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis stehen, als Selbständige ein Gewerbe bzw. Landwirtschaft betreiben, einen freien Beruf ausüben oder als mithelfende Familienangehörige tätig sind. Arbeitslose, die eine geringfügige Tätigkeit ausweisen, zählen im Mikrozensus ebenfalls zu den Erwerbstätigen. International Classification of Diseases (ICD) International übliche Verschlüsselung von Krankheitsdiagnosen. Seit dem Jahr 2000 gilt die 10. Revision. Das Bundesministerium für Gesundheit hat eine ü- berarbeitete Fassung (ICD-10-SGB V) seit dem 1.Januar 2000 in Kraft gesetzt. Kasten 1.1: Begriffe und Kennzahlen I

Betriebliche Gesundheitslage 11 Krankenstand Anteil der im Auswertungszeitraum angefallenen Arbeitsunfähigkeitstage im Kalenderjahr bezogen auf die Zahl der Versicherten in Prozent. Kurzzeiterkrankungen Arbeitsunfähigkeitsfälle mit einer Dauer von 1-3 Tagen. Die wenigsten Arbeitgeber verlangen dafür eine ärztliche AU-Bescheinigung. Langzeiterkrankungen Arbeitsunfähigkeitsfälle mit einer Dauer von mehr als 6 Wochen (42 Tage). Mit Ablauf der 6. Woche endet in der Regel die Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, ab der 7. Woche wird durch die Krankenkasse gezahlt. Vollarbeiter Eine statistische Größe zur Berechnung der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstundenzahl pro vollbeschäftigte Person. Sie betrug in 2002 1,530 Std; in 2004 1,580 Std. Wird für die Berechnung der 1,000-Mann-Quote eingesetzt. Kasten 1.2: Begriffe und Kennzahlen II Um den Zusammenhang zwischen Arbeit und Gesundheit ermitteln zu können, muss erstens eine genaue Beschreibung der Arbeit und ihrer Fehlbelastungen, zweitens eine Darstellung der gesundheitlichen Lage bzw. der Erkrankungen und drittens der Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastungen, gesundheitsförderlichen Faktoren und dem Krankheitsgeschehen ermittelt werden. Über die Arbeitsbelastungen lassen sich nur Vermutungen anstellen. Im Arbeitsschutz ist es versäumt worden, ein flächendeckendes Informationssystem über die Arbeitsbelastungen einzurichten. Es gibt keine repräsentativen Statistiken darüber, wie viele Beschäftigte gesundheitsschädlichem Lärm ausgesetzt sind oder wie hoch das Ausmaß psychosozialer Belastungen ist. "Niemand vermag hierzulande genau zu sagen, wie viele Arbeitsplätze der Arbeitsstättenverordnung entsprechen oder wie viele Bildschirmarbeitsplätze gemäß den geltenden Richtlinien eingerichtet sind" (LIßNER, 1995). Gelegentliche Sonderaktionen von Gewerkschaften und Landesämtern für den Arbeitsschutz deuten auf ein Vollzugsdefizit bei kleineren und mittleren Unternehmen (KMU), aber auch bei größeren Unternehmen hin (MAGS, 1997). So ist beispielsweise die bereits vom Arbeitssicherheitsgesetz 1973 geforderte Untersuchung arbeitsbedingter Erkrankungen bis heute weder bei der Mehrheit der KMU noch bei den Großunternehmen festzustellen (ZIMOLONG & KOHTE, 2005). Arbeitsbelastungen Für die übergreifende statistische Erfassung der Arbeitsbelastungen und der Analyse ihrer gesundheitlichen Auswirkungen stehen u. a. folgende Datenquellen zur Verfügung: Befragungen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Auswertungen des Mikrozensus des Statistischen Bundesamts

12 Zur Datenlage Sondererhebungen von Gewerkschaften, Bundesländern Statistiken der Europäischen Gemeinschaft (EUROSTAT). Die gesundheitliche Lage ist erheblich besser dokumentiert. Aufschlussreich sind vor allem die Statistiken und Analysen, die eine Zuordnung von spezifischen Krankheiten, Diagnosegruppen nach dem ICD-Schlüssel oder Sterblichkeit zu gefährdenden Arbeitssituationen, Tätigkeit, Beruf, Abteilung, Betrieb oder Branche ermöglichen. Beispiele sind: Erhebungen des Statistischen Bundesamtes, Fachserie Gesundheitswesen Statistiken der Europäischen Union (EU) Gesundheitsberichterstattungen der Länder (u. a. Krebsregister) Arbeitsunfähigkeitsstatistiken der Krankenkassen Geschäftsberichte der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen Krankheitsstatistik der privaten oder berufsbezogenen Lebens- und Krankenversicherer Erwerbsminderungs- und Rehabilitationsstatistiken der Rentenversicherungsträger und Zusatzversorgungskassen. Bericht der Bundesregierung Der jährliche Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in Deutschland enthält eine umfangreiche Zusammenstellung und Aufbereitung von Gesundheitsdaten aus unterschiedlichen Bereichen. Er wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit herausgegeben (BMWA). Dokumentiert werden Arbeitsbelastungen, -anforderungen und gesundheitliche Beschwerden, Krankenstände, Berufskrankheiten, Unfälle sowie Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Wie bereits zu Beginn ausgeführt, setzen sich die Daten über die Krankenstände aus den Angaben über Pflichtversicherte und freiwillig Versicherte der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen zusammen. Die arbeitsbezogenen Unfalldaten und die Berufskrankheiten basieren auf den Geschäftsberichten des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften, den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand (Bundesverband der Unfallkassen). Die Daten über die Rentenzugänge stammen vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR). Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wurde das bisherige System der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit durch ein einheitliches und abgestuftes System einer Erwerbsminderungsrente ab 2001 ersetzt. Wer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter drei Stunden arbeiten kann, erhält eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, wer noch drei Stunden bis unter sechs Stunden täglich arbeiten kann, erhält eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Darüber hinaus besteht kein Rentenanspruch.

Betriebliche Gesundheitslage 13 Die Unfalldaten und die Erkrankungen von Kindern, Schülern und Studierenden werden jährlich vom Bundesverband der Unfallkassen e.v. (BUK) zusammengestellt. Kinder in Kindergärten, Schüler allgemeinbildender und berufsbildender Schulen sowie Studierende an Hochschulen sind seit 1971 in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Seit 1997 sind auch Kinder in Tageseinrichtungen sowie Schüler an privaten Schulen versichert. Im Gegensatz zu den Bereichen Beruf, Schule und Kindergarten gibt es für die statistische Erfassung der Unfälle im Bereich Heim und Freizeit keine entsprechende Rechtsgrundlage. Bundesweit werden lediglich Statistiken über tödliche Unfälle erstellt, entsprechende Daten über Verletzungen beruhen auf Schätzungen aus repräsentativen Haushaltsbefragungen. Die Daten zum Bereich Kindergarten und Schule sowie zum Bereich Heim und Freizeit werden zusammen mit den Daten aus dem Bereich Beruf von der Bundesanstalt für Arbeitschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) aufbereitet und jährlich im Bericht Gesundheitsschutz in Zahlen publiziert. Kinder, Schüler, Studierende Die Verknüpfung von Arbeitsbelastungen, Erkrankungen, Unfällen und Verrentungen geschieht im Rahmen von Sonderauswertungen, etwa durch die Statistiken der Rentenversicherungsträger, die Gesundheitsberichte der Krankenkassen für Betriebe, Branchen und Berufe, sowie durch epidemiologische und arbeitsmedizinische Studien. 1.2 Arbeitsbelastungen In der deutschsprachigen Arbeitswissenschaft wird zwischen Belastung und Beanspruchung unterschieden (Rohmert & Rutenfranz, 1975). Nach der ISO 10075-1 resultieren psychische Belastungen aus der Gesamtheit der erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken. Die Beanspruchung ist die individuelle, zeitlich unmittelbare und nicht langfristige Auswirkung der psychischen Belastung in Abhängigkeit von den individuellen Voraussetzungen und dem Zustand des Menschen. Damit sind sowohl positive als auch negative Auswirkungen wie Freude und Herausforderung oder Unzufriedenheit und Ärger gemeint. Bezogen auf die Arbeit hängt die Schwere und die Dauer der Belastungen von den objektiven Bedingungen der Arbeit und den Voraussetzungen des Menschen ab, d. h. den biografischen Merkmalen, Qualifikationen, Kompetenzen und Bewältigungsstrategien. Während Belastung (engl. load) eher als neutraler Begriff verwendet werden soll, kennzeichnet der Begriff Fehlbelastung (RICHTER & HACKER, 1998) oder Stressor den negativen Aspekt von Belastungen. Die Fehlbeanspruchung oder der erlebte Stress sind die personenspezifische Reaktion als Folge der Verarbeitung der Fehlbelastungen. Die Folgen von Fehlbeanspruchungen können physiologische und emotionale Veränderungen sein, die in der Regel von Veränderungen im Verhalten begleitet werden. Meist wird zwischen kurz- und langfristigen Folgen unterschieden. Zu Fehlbeanspruchung

14 Arbeitsbelastungen den kurzfristigen Folgen zählen physiologische Reaktionen, u. a. Erhöhung des Blutdrucks, Adrenalin- und Cortisolaussschüttungen (vgl. Boucsein, 2006); emotionale Veränderungen wie Angst, Wut, Ärger, Nervosität oder Unzufriedenheit; Verhaltensveränderungen durch Einschränkungen in der Informationsverarbeitung, erhöhte Anstrengungen oder Leistungsverschlechterungen, z. B. in Form von Fehlern. Zu den langfristigen Folgen zählen Beschwerden und Erkrankungen, u. a. Schlafstörungen, mangelnde Erholungsfähigkeit, Herz-Kreislaufbeschwerden, erhöhtes Risiko für Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) und allgemein eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten, die auf eine Schwächung des Immunsystems hindeuten (Sonnentag & Frese, 2003). Mikrozensus Die Mikrozensus Erhebungen über Wochenend- und Schichtarbeit ergeben seit Jahren ein stabiles Muster (s. Kasten 1): Im Jahr 2003 arbeiteten von 36,17 Mio. Erwerbstätigen 17,26 Mio. in gelegentlicher oder regelmäßiger Wochenend-, Schicht- und/oder Nachtarbeit. Nur in Schichtarbeit waren 4,47 Mio., in Nachtarbeit 2,87 Mio. beschäftigt. Gegenüber 1991 ergeben sich keine deutlichen Veränderungen. Zugenommen hat die Wochenend-, Schicht- und/oder Nachtarbeit um 5,7 Prozentpunkte. Nacht- und Schichtarbeit ist ein zu Unrecht unterschätztes Risiko. Sie tragen insbesondere zu Risiken des Herz-Kreislaufsystems bei. An ihrer gesundheitsschädlichen Wirkung besteht kein ernstzunehmender Zweifel. Im Jahr 2003 arbeiteten von 36,172 Mio. Erwerbstätigen gelegentlich oder regelmäßig in Wochenend-, Schicht- und/oder Nachtarbeit 47,7 % in regelmäßiger Schichtarbeit 12,4% in regelmäßiger Nachtarbeit 7,9% regelmäßig an Sonn- und Feiertagen 12,5% Kasten 1.3: Wochenend-, Schicht- und Nachtarbeit (Mikrozensus von 2003, Stat. Bundesamt 2004) Seit 1979 wurden vier repräsentative Befragungen zur Qualifikation und Erwerbssituation, darunter zu den Arbeitsbelastungen in Deutschland durch das BIBB/IAB (Jansen, 2002) durchgeführt. Die letzte Erhebung fand 1998/99 statt. Eine repräsentative Stichprobe von 0,1% der Erwerbstätigen wurde befragt. Hinsichtlich der Arbeitsbelastungen wurden physikalische, biomechanische und psychische Fehlbelastungen erfragt. In Kasten 2 findet sich ein Auszug aus den Ergebnissen. Sie lassen sich folgenden Kategorien zuordnen: physikalische Fehlbelastungen aus der Arbeitsumgebung: Arbeiten unter Lärm, Kälte und Hitze; unter Rauch, Staub, Gasen und Dämpfen; biomechanische Fehlbelastungen: Arbeit im Stehen, Heben und Tragen von Lasten; Arbeit unter Zwangshaltungen, starke Erschütterungen, Stöße und Schwingungen bei der Arbeit;

Betriebliche Gesundheitslage 15 psychische Fehlbelastungen: starker Termin und Leistungsdruck, ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge (Monotonie und repetitive Arbeit), gleichzeitiges Betreuen verschiedener Arbeiten, in allen Einzelheiten vorgeschriebene Arbeit (kein oder nur geringer Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Der relativ niedrige Anteil der physikalischen Fehlbelastungen kann einerseits als langfristiger Erfolg des Arbeitsschutzes gebucht werden, andererseits ist er Ausdruck der sich wandelnden Produktionsarbeit zur Dienstleistung. Seit 1979 kam es in den einzelnen physikalischen Belastungsarten zu dauerhaften Reduzierungen, auch wenn zwischen 1985 und 1992 vereinzelte Zunahmen, vor allem beim Heben und Tragen von Lasten, zu verzeichnen waren. Fehlbelastungen Rangfolge von Fehlbelastungen bei der Arbeit Arbeit im Stehen 61 % starker Termin- und Leistungsdruck 50% ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge 45% gleichzeitige Betreuung verschiedener Arbeiten 42% Störungen, Unterbrechung der Arbeit 34% Arbeit in allen Einzelheiten vorgeschrieben 31% Heben, Tragen schwerer Lasten (Frauen: >10 kg, Männer >20 kg) 27% Kälte, Hitze, Nässe, Zugluft 21% Arbeit unter Lärm 21% Arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit 20% Arbeit unter Zwangshaltungen 19% Rauch, Gase, Staub, Dämpfe 15% Kasten 1.4: Häufigkeit von physikalischen, biomechanischen und psychischen Fehlbelastungen bei der Arbeit aus einer repräsentativen Umfrage des BIBB/IAB von 1998/99 (JANSEN, 2002). Dieser Anstieg ist in vielen Berufsbereichen zu beobachten. Ursachen liegen u. a. in der Zunahme an berufsmäßiger Kranken- und Altenpflege, der Zunahme der Warenströme, aber auch das klingt paradox dem Einsatz von ergonomischen Hebehilfen, wie z. B. Hebebühnen an Fahrzeugen. Bei genauerer Betrachtung stellt man nämlich fest, dass bei gleichzeitigem Personalabbau die Menge der zu bewegenden Lasten pro Arbeitnehmer deutlich zugenommen hat. Beispielsweise haben die Fuhr- und Transportunternehmen anstelle von 2 Personen nur noch einen Fahrer im Einsatz. Zwar werden die Lasten mit der Hebebühne des LKW aufund abgeladen, aber die Lasten müssen anschließend immer noch, von jetzt nur noch einer Person, zum Abstellplatz bewegt werden. Die psychischen Fehlbelastungen stellen die am häufigsten genannten Belastungsarten dar, gefolgt von den biomechanischen und physikalischen Fehlbelastungen. 50% aller Erwerbstätigen arbeiten unter starkem Termin- und Leistungsdruck, 45% verrichten monotone und repetitive Arbeit, 31% haben keinen oder nur einen geringen Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Nach den Berechnungen von Bödeker, Friedel, Röttger und Schröer (2002) sind im Jahr 1998 in Psychische Fehlbelastungen

16 Arbeitsbelastungen Deutschland 31% aller Arbeitsunfähigkeitsfälle auf psychische Fehlbelastungen, 29% auf biomechanische Fehlbelastungen zurückzuführen. Fehlbeanspruchung oder Stress wird selten von Einzelstressoren ausgelöst. In der Arbeitswelt sind die Mehrfachbelastungen die Normalsituation. Häufig ist die Kombination von maschinenbestimmtem Arbeitsrhythmus, fehlender Kontrolle über die Arbeitsaufgabe, hohen Leistungsanforderungen, Schichtarbeit und Arbeitsplatzunsicherheit typisch für industrielle Arbeitsplätze. Die Trias aus hoher Arbeitsintensität, niedrigem Handlungsspielraum und geringer sozialer Unterstützung lässt die Herz- Kreislauf Mortalität ab dem 50. Lebensjahr bei Industriearbeitern deutlich ansteigen (KARASEK, RUSSELL & THEORELL, 1982). Vor allem die alltäglichen Mikrostressoren, das sind die kleinen negativen Ereignisse wie Ärgernisse, Verzögerungen oder die persönlichen Verletzungen, scheinen weitaus wichtiger für die Beanspruchungsfolgen zu sein als einzelne, deutlich sichtbare Ereignisse. Quellen psychischer Fehlbelastungen Aus den Ergebnissen einer Befragung von 535 Arbeitsschutzexperten - Sicherheitsfachkräfte, Aufsichtspersonen, Betriebsärzte, Gesundheitsförderer, Arbeits-& Organisationspsychologen geht hervor, dass 80% der Meinung sind, dass psychische Fehlbelastungen zugenommen und die Bedeutung der körperlichen Fehlbelastungen abgenommen haben (PARIDON et al., 2004). Aufgeschlüsselt nach Lebensbereichen liegen die Quellen für Fehlbelastungen zu 39,2 % im Bereich der Arbeit, zu 60,8% aber in den Bereichen Familie, Freizeit und gesellschaftlichem Umfeld. Auch wenn die Zuordnung der Fehlbelastungsquellen zu den beiden Bereichen in der Fachwelt umstritten ist, scheinen die Fehlbelastungen aus dem privaten Bereich insgesamt bedeutsamer zu sein. Sowohl für die Analyse der gesundheitlichen Lage als auch für die Gesundheitsförderung zeigt sich hier in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit der Einbeziehung aller Lebensbereiche. Eine Konzentration auf den beruflichen Bereich ist nicht ausreichend. Speziell im Work-Life Balance-Ansatz werden die Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten behandelt (FRONE, 2003). Eine besondere Risikogruppe stellen Ausländer dar. Sie arbeiten in der Regel unter deutlich stärkeren physikalischen und körperlichen Fehlbelastungen als ihre deutschen Kollegen. Die Lärmbelastung ist höher, ebenfalls die Belastungen durch Nässe, Staub und Schmutz und sie sind häufiger in Nachtschichten anzutreffen. Eines der größten Arbeitsschutzprobleme ist die Verlagerung von Fehlbelastungen in Bereiche, die sich gesetzlichen Bestimmungen entziehen. Die IG Bau-Steine-Erden schätzt, dass neben den 2 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Bauhauptgewerbe noch 400 500,000 Werkvertragsnehmer und illegal Beschäftigte zu einem Viertel des Tariflohns tätig sind. Daß diese Arbeitnehmer in der Regel den höchsten Fehlbelastungen ausgesetzt sind, dürfte zwar sehr wahrscheinlich, aber leider mit offiziellen Statistiken kaum nachweisbar sein (LIßNER, 1995, S.87).

Betriebliche Gesundheitslage 17 1.3 Erkrankungen Der in den letzten Jahren zu verzeichnende Trend zu niedrigen Krankenständen hat sich weiter fortgesetzt. Im Jahr 2004 ist der Krankenstand erneut stark zurückgegangen und ereichte die Marke von 3,4% mit durchschnittlich 12,1 Krankentagen pro Jahr (BMWA, 2005). Bezogen auf die Werktage ergeben sich tatsächliche Fehltage von durchschnittlich acht Tagen. Die Höhe des Krankenstands resultiert aus der Zahl der Krankmeldungen und deren Dauer. Er wird auf der Basis von Stichtagserhebungen der gesetzlichen Krankenkassen ermittelt. Der höchste Stand war 1973 mit 5,9% zu verzeichnen. Seit 1990 gibt es einen kontinuierlichen Rückgang und eine Stabilisierung auf dem 4% Niveau. Im Jahr 2003 unterschritt der Krankenstand mit einem Wert von 3,6% und durchschnittlich 11,8 Ausfalltagen erstmals die 4% Marke. Allerdings zeigen Hochrechnungen für das Jahr 2005, dass ein leichter Anstieg zu erwarten ist. Für die Betriebe ist diese Entwicklung mit erheblichen Einsparungen verbunden. Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA, 2005) betrugen die volkswirtschaftlichen Kosten des Verlusts an Arbeitsproduktivität (Ausfall an Bruttowertschöpfung) im Jahr 2003 66,39 Mrd. Euro, im Jahr 2001 waren es noch 70,75 Mrd. gewesen. Der in den letzten Jahren zu beobachtende Rückgang der krankheitsbedingten Fehlzeiten hat jedoch nicht zu einer Einebnung der teilweise beträchtlichen Unterschiede zwischen den Branchen und Berufsgruppen geführt. Trotz insgesamt sinkender Krankheitsfälle haben die psychisch bedingten Krankheitsfälle in den letzten Jahren zugenommen. Krankenstand 2 4 6 8 10 12 Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei 89 Produzierendes Gewerbe (ohne Bau) Baugewerbe Handel, Gastgewerbe und Verkehr Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleister Öffentliche und private Dienstleistungen Durchschnitt (12/112) 100 11 97 11 12 109 12 13 12 112 121 14 128 0 20 40 60 80 100 120 140 Fälle je 100 Vers. Tage je Fall Abbildung. 1.1: Arbeitsunfähigkeit nach Wirtschaftszweigen (BMWA, 2005 Abb. 15)

18 Erkrankungen Das produzierende Gewerbe und die öffentlichen und privaten Dienstleister liegen mit 121 bzw. 128 Fällen über dem Durchschnitt von 112 Krankmeldungen mit einer durchschnittlichen Dauer von 12 Tagen. Die meisten Ausfalltage hat das Baugewerbe mit 14 Tagen gefolgt von der Land-, Forstwirtschaft und Fischerei mit 13 Tagen (BMWA, 2005). AOK-Mitglieder Berufsgruppen Alter Eine detaillierte Analyse für die einzelnen Branchen lässt sich auch aus dem Jahresbericht der AOK entnehmen (VETTER, KÜSGENS & SCHUMANN, 2004). Den höchsten Krankenstand berechnet für die AOK-Mitglieder wiesen im Jahr 2003 wie auch bereits in den Vorjahren mit 5,6% die öffentlichen Verwaltungen auf, den niedrigsten mit 3,3% die Banken und Versicherungen Dabei muss berücksichtigt werden, dass ein großer Teil der in diesem Sektor beschäftigten AOK-Mitglieder keine Bürotätigkeit ausübt, sondern in gewerblichen Bereichen mit teilweise sehr hohen Arbeitsbelastungen tätig ist, wie z. B. im Straßenbau, in der Straßenreinigung und Entsorgung. Insofern sind die Daten nicht repräsentativ für die gesamte öffentliche Verwaltung. Die Zahlen dürften deutlich niedriger liegen. Hinzu kommt, dass die beschäftigten AOK-Mitglieder eine im Vergleich zur freien Wirtschaft ungünstige Altersstruktur aufweisen, die zum Teil für die erhöhten Krankenstände mitverantwortlich ist. Schließlich spielt der Anteil der Schwerbehinderten eine erhebliche Rolle im öffentlichen Dienst. Ihr Anteil liegt um etwa 50% höher als in anderen Sektoren. Es wird geschätzt, dass die höhere Zahl von AU-Fällen im öffentlichen Dienst knapp zur Hälfte auf den erhöhten Anteil an schwerbehinderten Arbeitnehmern zurückzuführen ist (MARSTEDT et al., 2002). Auch bei den einzelnen Berufsgruppen gibt es große Unterschiede hinsichtlich der krankheitsbedingten Fehlzeiten. Die Art der ausgeübten Tätigkeit hat erheblichen Einfluss auf das Ausmaß der Fehlzeiten. Im Bericht der Bundesregierung (BMWA, 2005) weisen die meisten Krankmeldungen Berufsgruppen aus dem gewerblichen Bereich auf, wie beispielsweise Berufe in der Metallerzeugung, Gießerei (151 Fälle), Chemie und Kunststoffberufe (144,6) oder in der Montage (143,3). Einige der Berufsgruppen mit hohen Krankenständen sind auch in besonders hohem Maße psychischen Fehlbelastungen ausgesetzt, wie beispielsweise Ordnungs- und Sicherheitsberufe. Die durchschnittliche Krankheitsdauer beträgt 15 Tage. Die niedrigsten Krankenstände sind bei Selbständigen und Akademikern wie z. B. Naturwissenschaftlern, Hochschullehrern, Apothekern und Ärzten zu verzeichnen. Während auf Akademiker (Ingenieure, Chemiker, Physiker, Mathematiker) im Jahr 2003 nur 36 Krankmeldungen pro 100 Versicherten kamen, waren es bei den Metallberufen 151 Krankmeldungen, also mehr als das Vierfache. Die Höhe des Krankenstands hängt ebenfalls vom Alter der Beschäftigten ab (BMWA, 2005). Die krankheitsbedingten Fehlzeiten nehmen mit steigendem Alter deutlich zu. Zwar erreichen sie bei den 15-20 jährigen den Höchststand mit

Betriebliche Gesundheitslage 19 160 Krankmeldungen pro 100 Fällen, weisen jedoch auch den niedrigsten Stand an einer durchschnittlichen Krankheitsdauer von 5 Tagen auf. Bei den 30-35 jährigen haben die Krankmeldungen den niedrigsten Stand mit 100 Fällen bei durchschnittlich 10 Ausfalltagen. Die Zahl der Krankmeldungen geht in der Gruppe der 60-65 jährigen wieder zurück, doch erreicht die Krankheitsdauer den höchsten durchschnittlichen Wert mit 27 Krankheitstagen. Ältere Beschäftigte sind also seltener krank als ihre jüngeren Kollegen, fallen aber, wenn sie erkranken, in der Regel wesentlich länger aus. Hinzukommt, dass ältere Arbeitnehmer häufiger von mehreren Erkrankungen gleichzeitig betroffen sind (Multimorbidität). Auch dies kann zu längeren Ausfallzeiten führen. Da die Krankenstände in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht sehr stark variieren, ist es sinnvoll, beim Vergleich von Krankenständen unterschiedlicher Branchen oder Berufsgruppen eine Standardisierung hinsichtlich des Alters und Geschlechts durchzuführen. Damit lässt sich berechnen, wie der Krankenstand in den unterschiedlichen Bereichen ausfiele, wenn man eine durchschnittliche Altersund Geschlechtsstruktur zugrunde legen würde. Wie bereits in den Vorjahren wurde im Jahr 2003 das Krankheitsgeschehen im Wesentlichen durch sechs große Krankheitsgruppen bestimmt: Muskel- und Skeletterkrankungen, Atemwegserkrankungen, Verletzungen, psychischen und Verhaltensstörungen, Herz/Kreislauferkrankungen sowie Erkrankungen der Verdauungsorgane. Das Ergebnis lässt sich über alle Pflichtversicherten der Krankenkassen feststellen. Die folgende Analyse basiert auf den Daten der Betriebskrankenkassen (BKK, 2004). Drei Viertel (75%) der AU-Fälle und vier Fünftel (77,6%) der AU-Tage entfallen auf das Konto dieser sechs Krankheitsarten. Der häufigste Anlass für Krankschreibungen waren Atemwegserkrankungen. Nahezu jeder dritte AU-Fall ging auf diese Krankheitsart zurück. Wegen der relativ geringen durchschnittlichen Krankheitsdauer von sechs bis sieben Tagen betrug der Anteil der Atemwegserkrankungen am Krankenstand nur 16,9% (Tab.1.1). Die mit Abstand häufigste Einzeldiagnose ist die akute Infektion der oberen Atemwege mit einem Anteil von 9,3% der Fälle, jedoch nur mit 4,5% der Krankheitstage (6 Tage pro Fall). Auch bei Verdauungserkrankungen beträgt die mittlere Krankheitsdauer sechs bis sieben Tage. Die meisten AU-Tage werden durch Muskel-Skelett- und durch Herz/Kreislauferkrankungen mit durchschnittlichen Fehlzeiten von 19 Tagen verursacht, bei Verletzungen (Freizeit-, Sport-, Verkehrs- und Arbeitsunfälle) von 18 Tagen je Fall. An der Spitze stehen Neubildungen (Tumorerkrankungen) mit 31 Tagen und die psychischen Störungen mit 29 Tagen. Bei den MSE dominieren nach Fällen (60%) und Tagen (57%) die Wirbelsäulenund Rückenleiden. Rückenschmerzen stellen die Einzeldiagnose mit dem größten Anteil von 16 AU-Tagen dar. Beschwerden der Lendenwirbelsäule sind eines der größten Probleme in vielen Ländern der Erde. Als konstitutionelle Faktoren werden genannt: Alter, Geschlecht, Körpergröße, Kondition und Beweglichkeit sowie psychosoziale Faktoren. Als Risikofaktoren, die aus der Arbeit stammen, werden 6 Krankheitsgruppen MSE

20 Erkrankungen überwiegend angesehen: Heben und Tragen von Lasten, Zwangshaltungen, einseitige Belastungen, z. B. an Computerarbeitsplätzen, Arbeiten in beengten Situationen, Ganzkörpervibration, z. B. bei LKW- oder Gabelstaplerfahrern. Zwischen Männern und Frauen gibt es hinsichtlich der Krankheitsdauer keine wesentlichen Unterschiede, jedoch hinsichtlich der Zahl der Fälle. Während bei Männern die meisten AU-Fälle nämlich 9,4% durch Rückenschmerzen verursacht wurden, entfielen bei Frauen auf diese Erkrankungen nur 6,1% der Fälle. Hierbei spielen geschlechtsbezogen unterschiedliche Tätigkeiten eine Rolle: Männer sind häufiger in Berufen tätig, die durch schwere körperliche Arbeit wie etwa schweres Heben und Tragen geprägt sind. Häufigste Erkrankungsursache bei Frauen mit einem Anteil von 9,5 % waren die akuten Infektionen der oberen Atemwege. Tabelle 1.1: Verteilung der Arbeitsunfähigkeitstage (AU) in Prozent auf die wichtigsten 6 Krankheitsgruppen (BKK, 2004) Diagnosegruppe Anteil 1991 Anteil 2003 Muskel- und Skeletterkrankungen 31,6 26,5 Krankheiten der Atemwege 16,9 16,9 Verletzungen (Unfälle) und Vergiftungen 14,1 15,2 Psychische und Verhaltensstörungen 3,8 7,5 Krankheiten des Verdauungssystems 8,9 6,7 Herz- und Kreislauferkrankungen 7,6 4,8 Anteile und Fehltage Während der Anteil der MSE gegenüber 1991 um 5,1 Prozentpunkte abgenommen hat, hat die Bedeutung der bereits länger zu beobachtende Entwicklung bei den psychischen Erkrankungen für die gesamte Arbeitsunfähigkeit zugenommen. Ihr prozentualer Anteil an den Krankheitstagen beträgt 7,5%, eine Steigerung von 3,7 Prozentpunkten gegenüber 1991. In den letzten 20 Jahren hat sich ihr Anteil sogar verdreifacht. Bei den Frauen liegt der Anteil mit 10% noch höher als bei den Männern (5,6%). Psychische Erkrankungen sind inzwischen die vierthäufigste Ursache für krankheitsbedingte Fehltage. Die Gründe für diesen Anstieg sind sowohl in der realen Zunahme der Morbidität, einem wachsenden Frauenanteil bei den Pflichtversicherten sowie auch in veränderten Diagnosestellungen der Ärzte zu vermuten. Im Durchschnitt gehören die psychischen Erkrankungen mit einer Falldauer von über 29 Tagen nach den Neubildungen zu den langwierigsten Krankheiten überhaupt. Bei den Frauen steht die Gruppe der neurotischen Belastungs- und somatoformen Störungen mit 42% der psychischen Erkrankungen im Vordergrund, gefolgt von den affektiven Störungen mit 40%. Zu der erstgenannten Gruppe gehören z. B. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen. In der letztgenannten Gruppe dominieren die Depressionen, die zu den häufigsten Einzeldiagnosen überhaupt zählen. In beiden Diagnosegruppen weisen Frauen etwa die doppelte Anzahl an Krankheitstagen wie Männer auf.

Betriebliche Gesundheitslage 21 Bei Männern kommen als weitere bedeutende Krankheitsgruppe die psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen hinzu. Auf sie entfallen 13% aller gemeldeten Tage. Drei Viertel hiervon stehen im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch. Die meisten Krankenhaustage wurden bei Männern auf Grund von Alkoholmissbrauch verursacht: 41 Tage pro 1,000 Versicherte, bei Frauen durch depressive Episoden 54 Tage (BKK, 2004). Bei Frauen spielt der Alkoholmissbrauch als Diagnosegruppe eine deutlich geringere Rolle. Allerdings scheinen die geschlechtsbezogenen Unterschiede in diesen Diagnosegruppen abzunehmen. Aus den unterschiedlichen Morbiditätsschwerpunkten bei Männern und Frauen lassen sich mit aller Vorsicht folgende Schlüsse ziehen. Während Männer deutlich häufiger durch Krankheiten des Muskel-Skelettsystems sowie durch Verletzungen arbeitsunfähig werden, reagieren Frauen auf Fehlbelastungen häufiger mit psychischen Störungen. Allerdings muss betont werden, dass der geschlechtbezogene Einfluss von Tätigkeiten und Aktivitäten in den unterschiedlichen Lebenswelten Beruf, Familie, Freizeit, Sport bei dieser Interpretation unberücksichtigt bleibt. 1.4 Berufskrankheiten, Unfallgeschehen und Verrentung 1.4.1 Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen Berufskrankheiten (BK) werden von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats festgelegt. Die BK-Liste im Jahr 2003 umfasst 68 Berufskrankheiten. Es wird zwischen dem Anzeigen eines Verdachtes auf das Vorliegen, der Anerkennung und der Entschädigung einer BK in Form von Renten oder anderer Leistungen unterschieden. Die Anerkennung als BK setzt den Nachweis voraus, dass die versicherte Tätigkeit die Ursache für die schädigende Einwirkung war, die zur Erkrankung geführt hat. Zusätzlich müssen für einige Krankheiten besondere versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Da dieser Nachweis vom Erkrankten zu erbringen ist, fordern die Gewerkschaften seit langem eine "Umkehrung der Beweislast". Die Schere zwischen angezeigten und anerkannten BK ist sehr groß. Hinzukommt, dass das System der BK nur mit langen Verzögerungen auf die Entwicklung berufsbedingter Krankheiten reagiert. Das liegt vor allem an der restriktiven Handhabung und den langen Entscheidungswegen bis zur Anerkennung und Gewährung einer Entschädigung. Im Berichtsjahr 2003 wurden bei den Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand 64,856 Verdachtsanzeigen gestellt (BMWA, 2005). Die häufigsten Verdachtsanzeigen bezogen sich auf schwere Hauterkrankungen (26%), bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (21%) und Lärmschwerhörigkeit (17%, s. Abb. 1). Alle drei Krankheitsgruppen sind seit den neunziger Jahren rückläufig. Die Verdachtsanzeigen für Hautkrankheiten erreichten mit 20,702 Anzeigen im Jahr 1990 ihren Höhepunkt, BK-Liste Verdachtsanzeigen