Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung nach 5 Arbeitsschutzgesetz



Ähnliche Dokumente
Zwischen den Stühlen? Psychische Belastungen von Führungskräften der mittleren Ebene aus arbeitsweltlicher Sicht

Rechte und Pflichten des Betriebsrats beim Arbeits- und Gesundheitsschutz

Verzahnung von Arbeitsschutz und betrieblichem Gesundheitsmanagement. Gesunde Ansatzpunkte für sinnvolle Maßnahmen

Die neue DGUV Vorschrift 1

Definierte Arbeitsabläufe Prozesse Vorsorgeuntersuchungen Unterbrechung der Tätigkeit am Bildschirm/Arbeitsplatz

Telearbeit - Geltungsbereich des BetrVG

Rechtliche Grundlagen. des Arbeitsschutzes

Lernaufgabe Industriekauffrau/Industriekaufmann Angebot und Auftrag: Arbeitsblatt I Auftragsbeschreibung

Gesundheit ist Chefsache. Betriebliches Gesundheitsmanagement

Psychische Belastung und die deutsche Rechtslandschaft

POCKET POWER. Qualitätsmanagement. in der Pflege. 2. Auflage

Psychische Fehlbelastung in der Arbeitswelt Erkennen Erheben Vermindern

Was ist das Budget für Arbeit?

Technische Regeln für Betriebssicherheit TRBS 1111 Gefährdungsbeurteilung und sicherheitstechnische Bewertung

Gefährdungsbeurteilung Gesetzliche Grundlagen Thomas Hauer Regierungspräsidium Stuttgart Referat 54.3

Erfahrungen mit Hartz IV- Empfängern

Kurzinformation. Betriebssicherheitsverordnung und Arbeitsschutzgesetz Pflichten des Betreibers

Schutz vor psychischer Belastung bei der Arbeit rechtsverbindlich regeln! op platt.mp3. Rainer Hellbach

Ergebnis und Auswertung der BSV-Online-Umfrage zur dienstlichen Beurteilung

Handlungsmöglichkeiten des Betriebsrats bei der Gestaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes

Arbeitsschutz an Schulen und Schulkindergärten

Burnout erkennen und begrenzen. Holzminden,

Deutliche Mehrheit der Bevölkerung für aktive Sterbehilfe

Betriebs-Check Gesundheit

Gesetz über den Arbeitsschutz (Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz) in der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg (KArbSchutzG)

Herrn Dr. Theodor Windhorst Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe Gartenstraße Münster

Die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) TRBS 1111 TRBS 2121 TRBS 1203

Managementsysteme und Arbeitssicherheit

Gesunde Arbeitsbedingungen systematisch entwickeln von der Gefährdungsbeurteilung zur Organisationsentwicklung

3 Meldepflichten der Zahlstellen und der Krankenkassen

Pflichtenübertragung. Informationen für Verantwortliche im Arbeits- und Gesundheitsschutz

Alles, was Recht ist Rechtliche Rahmenbedingungen für die Stärkung der Gesundheit am Arbeitsplatz

BERECHNUNG DER FRIST ZUR STELLUNGNAHME DES BETRIEBSRATES BEI KÜNDIGUNG

Über den Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Zeitarbeit Handlungsmöglichkeiten und Besonderheiten. Workshop I

Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes

ooe.arbeiterkammer.at DER ÖSTERREICHISCHE ARBEITSKLIMA INDEX: Ein Instrument zur Messung der Mitarbeiterzufriedenheit

Meinungen zum Sterben Emnid-Umfrage 2001

Glaube an die Existenz von Regeln für Vergleiche und Kenntnis der Regeln

Persönliche Zukunftsplanung mit Menschen, denen nicht zugetraut wird, dass sie für sich selbst sprechen können Von Susanne Göbel und Josef Ströbl

AGROPLUS Buchhaltung. Daten-Server und Sicherheitskopie. Version vom b

Schutz gegen Gefährdungen durch psychische Belastung in der Arbeitswelt

So bereiten Sie sich auf Betriebsrevisionen von Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaft vor

Was sagt der Anwalt: Rechtliche Aspekte im BEM

Betriebsvereinbarung

Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen

Elternzeit Was ist das?

Betriebsinterne Organisation des Arbeitsschutzes

MODUL 5: BETRIEBLICHES GESUNDHEITSMANAGEMENT

Ich-AG und Arbeitsschutz

DNotI. Fax - Abfrage. GrEStG 1 Abs. 3 Anteilsvereinigung bei Treuhandverhältnissen. I. Sachverhalt:

Wege zur Patientensicherheit - Fragebogen zum Lernzielkatalog für Kompetenzen in der Patientensicherheit

ISO 9001:Kundenorientierung

Unternehmensname Straße PLZ/Ort Branche Mitarbeiterzahl in Deutschland Projektverantwortlicher Funktion/Bereich * Telefon

10 Bundesverkehrsministerium verstößt gegen haushaltsrechtliche Vorschriften und unterrichtet den Haushaltsausschuss unzutreffend

6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung

Statuten in leichter Sprache

Lehrer: Einschreibemethoden

Herzlich willkommen. zur Information Arbeitssicherheit / Gesundheitsschutz / für Kirchgemeinden

Leistungsorientierte Bezahlung LOB

Baustellenverordnung. Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz auf Baustellen. Bestell-Nr.: BaustellV Gültig ab 1.

Studie: Digitalisierung Chancen und Herausforderungen für die partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Gesundheitsförderliche Mitarbeitergespräche (smag) Quelle: GeFüGe-Projekt, bearbeitet durch Karsten Lessing, TBS NRW

FRAGE 39. Gründe, aus denen die Rechte von Patentinhabern beschränkt werden können

Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) - Die Rolle des Betriebsrats in Cateringbetrieben

Ein Betriebsrat. In jedem Fall eine gute Wahl.

Dipl.-Ing. Herbert Schmolke, VdS Schadenverhütung

ARBEITS- UND An der Hasenquelle 6. Qualifizierungsanforderungen für den Einsatz von Fahr- und Steuerpersonal bei mobilen Arbeitsmitteln

Meinungen der Bürgerinnen und Bürger in Hamburg und Berlin zu einer Bewerbung um die Austragung der Olympischen Spiele

Mit denken - nicht ausgrenzen Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien

Private Altersvorsorge

Gestaltungsbeispiel Holdingstruktur

I.O. BUSINESS. Checkliste Effektive Vorbereitung aktiver Telefonate

Nutzung dieser Internetseite

BUCHHALTUNG BUCHFÜHRUNG WO IST ER EIGENTLICH? - DER UNTERSCHIED?

Führung und Gesundheit. Wie Führungskräfte die Gesundheit der Mitarbeiter fördern können

DAS NEUE GESETZ ÜBER FACTORING ( Amtsblatt der RS, Nr.62/2013)

Internet- und -Überwachung in Unternehmen und Organisationen

Befähigte Person Wer ist das?

Krefeld. RM-Arbeitssicherheitstechnischer Dienst

ratgeber Urlaub - Dein gutes Recht

Psychische Gefährdungsbeurteilung

Für Gleichbehandlung und Partnerschaft - Gegen Fremdenfeindlichkeit

6 Schulungsmodul: Probenahme im Betrieb

SWOT Analyse zur Unterstützung des Projektmonitorings

Sonderrundschreiben. 1. Hinweisbeschluss des OLG München vom Hinweisbeschluss des OLG München vom , AZ: 10 U 579/15

Das Seminarangebot richtet sich an drei Gruppen von Frauen:

Denken und Träumen - Selbstreflexion zum Jahreswechsel

Verordnung über die Berufsausbildung im Lagerbereich in den Ausbildungsberufen Fachlagerist/Fachlageristin und Fachkraft für Lagerlogistik

Bürger legen Wert auf selbstbestimmtes Leben

Wichtiges Thema: Ihre private Rente und der viel zu wenig beachtete - Rentenfaktor

Ambulant betreutes Wohnen eine Chance!

Fall 3. Ausgangsfall:

Verantwortung beim Betrieb von elektrischen Anlagen

Gefährdungsbeurteilungen im Bereich der Elektrotechnik

Wenn Sie gern günstige Gelegenheiten nutzen, haben wir eine gute Nachricht für Sie.

Gefährdungsbeurteilung

WICHTIGER HINWEIS: Bitte fertigen Sie keine Kopien dieses Fragebogens an!

DAS PARETO PRINZIP DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG

Transkript:

Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung nach 5 Arbeitsschutzgesetz Aktiv gegen Stress und Burnout Praxisleitfaden für Betriebsräte Dipl.-Ing. Harald Lehning, Institut für kritische Sozialforschung und Bildungsarbeit e.v.

Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung nach 5 Arbeitsschutzgesetz Aktiv gegen Stress und Burnout Praxisleitfaden für Betriebsräte 3

Autor: Dipl.-Ing. Harald Lehning Herausgeber/ V.i.S.d.P. KlärWerk Institut für kritische Sozialforschung und Bildungsarbeit e.v. Norderreihe 1, 22767 Hamburg Erste Auflage, 2014 Bildnachweise: Erste Seite Herbert Bühl Kontakt: www.institut-klaerwerk.de klaerwerk@institut-klaerwerk.de ISBN 978-3-86386-829-1 4

Inhalt Seite I. Warum dieser Leitfaden 7 II. Umgang mit psychischen Belastungen in der Arbeitswelt Vorbehalte und Hemmnisse III. Rechtlicher Handlungsrahmen für den Betriebsrat Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) Die Mitbestimmung des Betriebsrates beim Arbeits- und Gesundheitsschutz Exkurs: Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) und DGUV Vorschrift 2 IV. Die Gefährdungsbeurteilung nach 5 Arbeitsschutzgesetz Der Prozess der Gefährdungsbeurteilung Die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung Methoden zur Ermittlung psychischer Belastungen Was muss der Betriebsrat überlegen und entscheiden, bevor er aktiv wird? Die Komplexität der ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung V. Was sollte der Betriebsrat über psychische Belastungen wissen? Belastungs-Beanspruchungs-Modell Modell der Organisationsgerechtigkeit Exkurs: Führungsverhalten Anforderungs-Kontroll-Modell Modell beruflicher Gratifikationskrisen 8 9 20 42 VI. Ansätze für den Abbau psychischer Arbeitsbelastungen 50 5

VII. Postskriptum: Betriebsräte können, wenn sie wollen, weil sie dürfen VIII. Anhang Musterbetriebsvereinbarung KW I Fragebogen für die ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung Glossar Quellen 55 56 6

I. Warum dieser Leitfaden? Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet die Arbeitgeber Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu ergreifen, um Unfälle zu verhüten, arbeitsbedingte Erkrankungen zu vermeiden und zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit beizutragen. Dabei sind auch die psychischen Belastungen zu berücksichtigen. Dies ist im Hinblick auf die deutliche Zunahme psychischer Erkrankungen von besonderer Bedeutung. Welche Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes erforderlich sind, hat der Arbeitgeber durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdungen und Belastungen zu ermitteln. Betriebsräte haben dabei ein umfangreiches Mitbestimmungsrecht. Die gesetzliche Verpflichtung der Arbeitgeber, präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutz zu betreiben, ist klar und eindeutig. Die Notwendigkeit tätig zu werden liegt angesichts der besorgniserregenden Krankenstatistiken auf der Hand. Betriebsräte haben umfassende Möglichkeiten, säumige Arbeitgeber durch die Wahrnehmung ihrer Mitbestimmungsrechte zum Handeln zu bewegen. Gleichwohl zeigen alle bisher veröffentlichten Studien, dass nicht in allen Betrieben Gefährdungsbeurteilungen erfolgen und nur in einer absoluten Minderheit dieser Betriebe dabei auch psychische Belastungen berücksichtigt werden. Ob durch die Ergänzung der 4 und 5 Arbeitsschutzgesetz vom 19.10.2013, die ausdrücklich klarstellt, dass sich Arbeitsschutz auch auf Schutz vor psychischen Belastungen erstreckt, eine nachhaltige Wirkung erreicht wird, bleibt abzuwarten. Gesetzliche Vorgaben für die Arbeitgeber und staatliche Kontrolle durch die Gewerbeaufsicht bzw. die Ämter für Arbeitsschutz haben bisher offensichtlich nicht ausgereicht, dem Thema Psychische Belastungen in der Arbeitswelt die Bedeutung zu verleihen, das es verdient. Die einzige Hoffnung sind somit Betriebsräte, deren Aufgabe es ist, darüber zu wachen, dass die gesetzlichen Schutzbestimmungen auch tatsächlich angewendet werden. 7

Dieser Leitfaden soll die Betriebsräte dabei unterstützen, ihre Verpflichtung aus dem Betriebsverfassungsgesetz zu erfüllen. II. Umgang mit psychischen Belastungen in der Arbeitswelt Vorbehalte und Hemmnisse Eine Befragung von Betriebs- und Personalräten, die von Klärwerk e.v. im ersten Halbjahr 2013 durchgeführt wurde, zeigte die gesamte Bandbreite an Vorbehalten und Hemmnissen bei der Umsetzung der arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtung zur ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung auf. Im Wesentlichen waren dies: Arbeitgeber behindern die betriebsrätlichen Bestrebungen zur Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und Betriebsräte ergreifen keine rechtlichen Mittel zur Durchsetzung ihrer Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte. Das Thema Psychische Belastung ist schwierig, weil der Ursachen - Wirkungszusammenhang zwischen der konkreten Arbeitsaufgabe und einer psychischen Belastung meistens nicht klar und offensichtlich ist. Psychische Belastungen sind unmittelbar kaum zu messen und zu beobachten. Die Rechtslage ist zu abstrakt und unübersichtlich. Die einschlägigen Gesetze und Verordnungen enthalten keine konkreten Vorschriften und Hinweise insbesondere über die Art und Weise der Ermittlung psychischer Belastungen und über die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Vermeidung oder Abmilderung. Die Arbeitsorganisation vieler Betriebsräte lässt die Bearbeitung 8

des Themas Psychische Belastung nicht zu, weil sie ohnehin schon mit zu vielen Themen beschäftigt sind und im Grunde nur noch reagieren. Das Tagesgeschäft behindert kontinuierliches Arbeiten. Außerdem reicht die Arbeitskapazität der meisten Gremien nicht aus. Der Kenntnis- und Informationsstand vieler Betriebsräte ist nicht ausreichend für eine sachgerechte Befassung mit dem Thema Psychische Belastung. Darüber hinaus gibt es häufig unterschiedliche Auffassungen in den Gremien über die Notwendigkeit der Bearbeitung des Themas. Ausgehend von den hier beschriebenen Vorbehalten und Hemmnissen soll mit den folgenden Ausführungen versucht werden, einen systematischen Überblick über die Themen Ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung und Umgang mit psychischen Arbeitsbelastungen zu geben. Damit Betriebsräte eine sichere Entscheidungsgrundlage bekommen und wissen, was auf sie zukommt, wenn sie sich dieser Themen annehmen. III. Rechtlicher Handlungsrahmen für den Betriebsrat Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) Das 1996 in Kraft getretene Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) veränderte die rechtliche Grundlage des Arbeits- und Gesundheitsschutzes erheblich: weg von einem rein technisch ausgerichteten und eher reaktiven Umgang mit den Fragen des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes hin zu einer präventiven, also vorausschauenden und vorbeugenden Verfahrensweise. Zentrales Instrument ist die Gefährdungsbeurteilung, mit deren Hilfe ermittelt werden soll, welche Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ergriffen werden müssen, um die mit der Arbeitsaufgabe des Beschäftigten verbundenen Gefährdungen und Belastungen zu beseitigen oder auf ein 9