Prävention von Übergewicht und Adipositas.



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Positionspapier des Kompetenznetes Adipositas 141 Prävention von Übergewicht und Adipositas* M. J. Müller 1,2 1 Sprecher des Kompetenznetzes Adipositas; 2 Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Das Problem Übergewicht ist sowohl ein medizinisches als auch ein sog. Public Health -Problem: In Deutschland sind heute mehr als 50 % der Erwachsenen sowie 16 % der Kinder und Jugendlichen übergewichtig; der mittlere Body- Mass-Index (BMI) der Bevölkerung beträgt 26 kg/m 2 ; 20 % der Erwachsenen und 6 % der Kinder und Jugendlichen sind ausgesprochen übergewichtig, d. h. adipös. In Deutschland leben z. Zt. etwa 5 Millionen Menschen mit einem BMI 35 kg/m 2. Während der zurückliegenden 40 Jahre wurde in Deutschland (und in anderen Ländern der westlichen Welt) eine deutliche Zunahme von Übergewicht beobachtet, seit dem Jahre 2005 erscheinen diese Zahlen stabil; allerdings hat der Anteil Übergewichtiger und auch Adipöser mittleren Alters weiter zugenommen. Übergewicht bedeutet ein hohes Risiko für nicht übertragbare Erkrankungen. Auch Kinder mit Adipositas haben mittelund langfristig erhöhte Krankheitsrisiken. Übergewicht und Adipositas haben soziale Auswirkungen: Stigmatisierung und persönliche Benachteiligung der Betroffenen sind regelhaft. Übergewicht und Adipositas verursachen hohe Kosten in unserem Gesundheitswesen. Schätzungen beziffern einen Betrag von etwa zehn Milliarden Euro pro Jahr. Das Thema Übergewicht und Adipositas hat in den letzten Jahren ein Korrespondenzadresse Geschäftsstelle Kompetenznetz Adipositas Technische Universität München Georg-Brauchle-Ring 60/62, 80992 München Tel. 089/28924923 E-Mail: christina.holzapfel@tum.de Prevention of overweight and obesity Adipositas 2013; 7: 141 146 * Dieses Positionspapier ist im Vorstand des Kompetenznetzes Adipositas abgestimmt. großes öffentliches, mediales und auch politisches Interesse gefunden. Angesichts persönlicher Nachteile, der gesellschaftlichen Auswirkungen sowie auch der begrenzten Erfolge der Behandlung ist eine notwendig. Diese hat eine hohe Priorität im Bereich Public Health. Strategien von Prävention Es gibt heute keinen allgemeinen Konsens im Hinblick auf wirksame Strategien der. Prävention adressiert das Verhalten der Menschen (=Verhaltensprävention) und/ oder die Verhältnisse, welche Menschen Gesundheits-relevante Entscheidungen ermöglichen (=Verhältnisprävention). Strategien und Maßnahmen der Prävention umfassen Informationen und Aufklärung zu gesundem Lebensstil und gesunder Ernährung, strukturierte Beratung und Programme der Gesundheitsförderung und Prävention (zum Beispiel in den settings Kindergarten und Schule), die Schaffung gesunder Lebenswelten und Bedingungen, welche gesunde Lebensstile ermöglichen, sog. nudges, welche zu Verhaltensänderungen anregen, ohne dass diese mit detaillierten Anleitungen und Regularien herbeigeführt werden, individuelle Anreize (sog. incentives ) für gesundes oder auch Nachteile bei ungesundem Verhalten (z. B. disincentives z. B. durch Krankenkassen) sowie Regularien und Verbote (z. B. Steuern auf Lebensmittel oder Einschränkung von Werbung für Lebensmittel). Strategien der Prävention richten sich als Universelle Prävention an schlanke und übergewichtige Menschen. Ziel ist eine Stabilisierung oder Senkung des mittleren BMI in der Bevölkerung. Selektive Prävention adressiert Risikopersonen (z. B. Raucher während Rauchentwöhnung). Gezielte Prävention fokussiert auf bereits übergewichtige Menschen, um eine weitere Gewichtszunahme sowie das Auftreten von Folgekrankheiten zu verhindern. Während Maßnahmen der Gezielten Prävention und auch anteilig die Selektive Prävention im Rahmen des medizinischen Versorgungssystems umgesetzt werden können, erfordern Universelle Prävention und Gesundheitsförderung bevölkerungsweite und außerhalb der Medizin zu gestaltende Strategien. Idealerweise sind die verschiedenen Ebenen von Prävention aufeinander abgestimmt und ergänzen einander, die Redundanz soll zum Erfolg beitragen. Dies setzt eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung von und ein commitment der Verantwortlichen (z. B. der Politiker) für Gesundheit und Prävention voraus. In der Praxis erfordert die Prävention von Übergewicht und Adipositas eine sowohl horizontale als auch vertikal integrierende Vernetzung zahlreicher Akteure innerhalb und auch außerhalb unseres Gesundheitswesens. Dies betrifft auch die Wissenschaftler und die Wissenschaften. Erfahrungen mit Prävention von Übergewicht und Adipositas Die Auswirkungen verschiedener Strategien zur Prävention von Übergewicht und Adipositas sind wissenschaftlich überprüft. Die Mehrzahl der bisher veröffentlichten Untersuchungen beschäftigt sich mit der Prävention von Übergewicht bei Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Bis zum Jahre 2011 wurden in den Literaturdatenbanken 55 kontrollierte Studien erfasst. Eine anhand von 37 Studien und Datensätzen von 27 946 Kindern durchgeführte Metaanalyse zeigte trotz hoher Heterogeni- Schattauer 2013 Adipositas 3/2013

142 M. J. Müller: tät von Interventionen und Studienqualität den Erfolg von Prävention: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe beträgt der Effekt auf den mittleren BMI je nach Alter zwischen 0,09 und 0,26 kg/m 2. Die bis heute häufigsten Strategien und Maßnahmen von Prävention entsprechen der Verhaltensprävention und intendieren eine Verbesserung des gesundheitlichen Lebensstils. Informationen bzw. Ernährungs- und Gesundheitserziehung, welche sich in Schulen an Kinder, Eltern und Lehrer richten, verbessern Ernährungswissen, Kompetenz und anteilig auch Verhalten der Kinder; diese Maßnahmen haben nur geringe Auswirkungen auf das Übergewicht. Die Effekte sind selektiv: Ein Erfolg wird eher bei Mädchen als bei Jungen, bei Kindern schlanker Eltern so wie auch bei Kindern aus bildungsstärkeren Familien erreicht. In diesen Gruppen können die Inzidenz (Zahl der neuen Fälle von Übergewicht) und Prävalenz von Übergewicht um bis zu 1 % gesenkt werden. Individuelle Beratung (z. B. in Arztpraxen) ist im Hinblick auf die Etablierung gesunder Lebensstile anteilig wirksam, sie hat aber wenig Erfolg bei der Prävention von Übergewicht; Ernährungs- und Gesundheitsberatung sind nicht nachhaltig wirksam. Ernährungsberatung von Schwangeren ist erfolgreich im Hinblick auf eine Senkung der mittleren Gewichtszunahme während der Gestation sowie auch auf die Gewichtsentwicklung der Mutter während der ersten 6 Monate nach der Geburt. Demgegenüber fand sich im Mittel aller bisher publizierten Studien kein Effekt auf das Geburtsgewicht der Kinder. Auch aufwändige und z. B. aufsuchende Beratungen in übergewichtigen Familien (d. h. Familien mit übergewichtigen oder adipösen Kindern und mindestens einem übergewichtigen oder adipösen Elternteil) oder auch das Angebot strukturierter Sportprogramme für übergewichtige Kinder und Jugendliche sind im Hinblick auf die Gewichtsentwicklung wenig erfolgreich; in sozial schwachen Familien können diese Maßnahmen sogar kontraproduktiv sein (d. h. sie erhöhen das Risiko einer weiteren Gewichtszunahme bei bereits übergewichtigen Kindern). Die Wirksamkeit allgemeiner Informationen in Medien oder in Supermärkten so wie auch die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln oder Fertiggerichten ist im Hinblick auf die Etablierung gesunder Lebensstile und auch die Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen nicht belegt. Dabei erfolgt die Wahrnehmung von Nährwertkennzeichnung selektiv (d. h. eher in bildungsstärkeren Verbrauchergruppen), sie ist auch abhängig von dem jeweiligen setting : Während die Informationen in einem Supermarkt selten registriert werden und die Kaufentscheidung auch nicht wesentlich beeinflussen, wird die Nährwertkennzeichnung auf einer Speisekarte in einem Restaurant eher wahrgenommen und mag so zu der Wahl des Gerichtes beitragen. So genannte Food Claims loben den gesundheitlichen Wert von Lebensmitteln aus, ihre präventive Wirkung ist nicht belegt. Maßnahmen der Verhältnisprävention haben Erfolg: So war das Angebot von Wasserspendern in Schulen und ein Nicht-Angebot bzw. die Verringerung des Konsums von sog. soft drinks (d. h. zuckerhaltige Getränke, z. B. Cola-Getränke) eine wirksame Maßnahme der Prävention von Übergewicht und Adipositas. Die Auswirkungen von Regularien wie die Einschränkung des Marketings (z. B. Verbot der Werbung für Kinderlebensmittel im Fernsehen) oder Preiserhöhungen durch benachteiligende Steuern auf Lebensmittel (Beispiele sind sog. soft drink - oder Fettsteuern ) wurden bisher nicht systematisch untersucht; vorläufige Beobachtungen zeigen bisher keinen wesentlichen Einfluss dieser Maßnahmen auf das Kaufverhalten und auf Lebensstile der Menschen. Möglicherweise waren die durch Steuern verursachten Preiserhöhungen nicht hoch genug, um das Verhalten der Verbraucher zu beeinflussen. Demgegenüber führten Preissenkungen um 50 % in Kombination mit Ernährungserziehung zu einem vermehrten Kauf von Obst und Gemüse, dies konnte in einem randomisierten Protokoll gezeigt werden. Kommunale Strategien der Gesundheitsförderung, welche die koordinierten und additiven Beiträge verschiedener Akteure durch zahlreiche öffentlich-private Partnerschaften nutzen und als gesunde Kommunen oder auch gesunde Stadt auch gesunde Lebenswelten schaffen könnten, versprechen Erfolg. Allerdings sind im setting von Kommunen oder auch in Regionen keine streng kontrollierten wissenschaftlichen Untersuchungen möglich. Teilweise oder auch sog. quasi kontrollierte Studien zeigen jedoch auch nur geringe oder gar keine Erfolge der kommunalen bei Kindern und Jugendlichen, die Nachhaltigkeit ist nicht bekannt. Die Bedeutung sozialer Netzwerke für das Übergewicht ist belegt, diese sind aber bisher in wissenschaftlich begleiteten Studien nicht für die Prävention von Übergewicht genutzt worden. Lebenswelten beeinflussen Verhalten und Lebensstile, sie können die Gesundheit fördern, diese aber auch erschweren; ihre Veränderung ist nicht ohne weiteres möglich. Eine einmalige Interventionsstudie belegt, dass der Wechsel der Lebenswelten durch den Umzug aus sozial schwachen in sozial besser charakterisierte Stadtteile bei den Betroffenen während der folgenden zehn Jahre zu einer Senkung des mittleren Körpergewichts und auch der Zahl von Fällen von Typ-2-Diabetes mellitus führt. Diese einmalige Untersuchung spricht für die Bedeutung der Lebenswelten für Lebensstile, Übergewicht und seine Komorbidität. Unerwünschte Nebenwirkungen von Prävention? Es gibt bisher keine Hinweise auf nachteilige Auswirkungen präventiver Maßnahmen. Essstörungen, Untergewicht und gestörte Körperwahrnehmung wurden nach den Interventionen nicht häufiger beobachtet. Eine mögliche Auswirkung von Prävention auf die Stigmatisierung übergewichtiger und adipöser Menschen ist nicht belegt, das Ausmaß sozialer Ungleichheit war nach den Interventionen nicht erhöht. Determinanten des Erfolgs von Prävention Der Erfolg der Prävention von Übergewicht und Adipositas wird in der Regel an den Veränderungen des Gewichts bzw. des BMI gemessen. Die möglichen Effekte werden in der Regel über begrenzte Zeiträume Adipositas 3/2013 Schattauer 2013

M. J. Müller: 143 von z. B. drei Monaten bis zu zwei Jahren beurteilt. Es gibt nur wenige Untersuchungen, welche die Nachhaltigkeit von Präventionserfolgen bei Kindern über vier, acht oder gar zwölf Jahre untersucht haben; darüber hinaus gibt es keine Informationen. Zusammenfassend belegen diese Studien geringe und häufig (aufgrund kleiner Gruppengrößen) nicht signifikante Effekte der Interventionen auf den BMI von im Gruppenmittel 0,15 kg/m 2 ; die Effekte sind deutlicher in Untergruppen (bei Mädchen, Kindern schlanker Eltern, Kindern aus bildungsstarken Familien). Demgegenüber sind die Barrieren von Prävention offensichtlich (= Übergewicht / Adipositas der Eltern, niedriger sozialer Status, Ethnizität = Migrationshintergrund, niedriges soziales Niveau von Stadtteilen). Erfolge von Prävention (z. B. in kommunalen Präventionsprojekten) sind wesentlich abhängig von dem sog. political commitment (d. h. dem Bekenntnis und dem Engagement, der Verpflichtung und der Authentizität der Entscheidungsträger und Verantwortlichen). Determinanten des Erfolgs sind außerdem Maßnahmen des sozialen Marketings, öffentlich-private Partnerschaften sowie die Einbeziehung einer angemessenen wissenschaftlichen Begleitforschung. Der Zeitpunkt der Maßnahme und deren auf die jeweiligen Lebensphasen bezogenes Konzept bestimmen wesentlich auch deren Erfolg. Dabei ist die Bedeutung sog. trajectories (z. B. über lange Lebensphasen stabile Verhaltensmuster oder der möglicherweise nachhaltige Einfluss eines niedrigen Geburtsgewichtes auf Gewicht und Größe im späteren Leben oder über lange Lebensphasen bestehende chronische Erkrankungen), von Übergängen (welche mit einem Wechsel von Lebenssituationen und Verantwortung einhergehen, wie z. B. die Veränderungen des Körpergewichts der Mutter nach der Geburt eines Kindes), von Wendepunkten (z. B. unterschiedliche Bildungswege und Karrieresprünge) sowie der Einfluss von Kultur und Kontexten (z. B. gesellschaftliche Veränderungen während einer Finanzkrise oder die Bedeutung von Nachbarschaften und Wohnumgebung), des Alters (z. B. das Alter bei Geburt des ersten Kindes) und des Geschlechts, und die Bedeutung von Lebenspartnern, peers und Netzwerken sowie von bewussten und unbewussten Anpassungen des Verhaltens (an soziale Normen, veränderte Lebensumstände, biografische Ereignisse und auch an das Übergewicht selbst) für das Übergewicht und den aus diesen Kenntnissen abzuleitenden Optionen für seine Prävention völlig unklar. Zu wenig Kenntnisse und hohe Komplexität Prävention sollte die in wissenschaftlichen Untersuchungen identifizierten Determinanten von Übergewicht und Adipositas adressieren. Das heutige Wissen um Ursachen und Bedingungsfaktoren von Übergewicht und Adipositas ist aber unvollständig und häufig nicht im Sinne einer Lösung weiterführend. So wurden z. B. in epidemiologischen Studien 42 verschiedene Determinanten von Übergewicht beschrieben. Die bisher umfangreichste Zusammenstellung aller möglichen Ursachen von Übergewicht findet sich in der Obesity System Map des Forsight -Programmes aus dem Jahre 2007 aus England. Diese Darstellung umfasst physiologische, verhaltensmedizinische und ökologische Einflüsse, die auf verschiedenen Ebenen (individuell, lokal, global) wirken. Diese stehen wiederum in linearen und nicht-linearen Beziehungen zueinander, sie sind regulatorisch bedeutsam, z. T. aber auch unabhängig voneinander. Eine den komplexen Ursachen von Übergewicht und Adipositas gerecht werdende Maßnahme von Prävention wurde bis heute nicht formuliert. Die Herausforderung ist heute, die Komplexität des Problems im Sinne von Verständnis und Handlungsfähigkeit von Experten und Entscheidungsträgern zu reduzieren ohne dabei das Problem Übergewicht zu sehr zu vereinfachen. Systembiologie und mathematische Modellbildung sind deshalb notwendige Voraussetzung für zukünftige und evidenzbasierte Prävention von Übergewicht und Adipositas. Ursachen von Übergewicht und Adipositas Aus der in den letzten 20 Jahren aufwändig betriebenen Forschung zu den biologischen Grundlagen von Übergewicht haben sich bisher keine für dessen Prävention nutzbaren Maßnahmen ergeben; diese begründen bisher auch keine personalisierten und für einzelne Verbrauchergruppen stratifizierten Strategien. Aufgrund der Ergebnisse von deskriptiv epidemiologischen Untersuchungen sind die wesentlichen Determinanten von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen das Gewicht der Eltern (übergewichtige Kinder haben häufig übergewichtige Eltern), der soziale Status (es besteht ein inverser sozialer Gradient im Übergewicht, welcher sich bereits nach dem zweiten Lebensjahr manifestiert, die höchste Prävalenz von Übergewicht findet sich in sozial benachteiligten Gruppen), frühe Einflüsse (wie das Rauchen der Mutter in der Schwangerschaft, die Gewichtszunahme der Schwangeren und ein hohes Geburtsgewicht, Nicht-Stillen, Gewichtszunahme im ersten Lebensjahr), Schlaf (eine Schlafdauer unter acht Stunden pro Tag ist zu einem höheren Körpergewicht assoziiert) und Inaktivität (ein Medienkonsum von über drei Stunden pro Tag bedeutet ein erhöhtes Risiko für Übergewicht). Demgegenüber haben Ernährungsmuster oder auch der Verzehr einzelner Lebensmittel keine sehr enge Beziehung zum Körpergewicht bzw. zu den Gewichtsveränderungen von Kindern und Jugendlichen. Nur etwa 50 % der zu diesem Thema durchgeführten Studien belegen, dass ein hoher Konsum von fast food, soft drinks und Fruktose langfristig mit einer höheren Gewichtszunahme einhergeht. Bei Erwachsenen sind ein regelmäßiger Alkoholkonsum (nicht Exzesse), Schlafmangel und hoher Medienkonsum wesentliche Treiber eines eher ungesunden Lebensstils und von Übergewicht. Die Beziehungen der Determinanten von Übergewicht und Adipositas untereinander sowie die Bedeutung ihrer möglichen Wechselwirkungen sind unklar. So hat die Bildung der Eltern einen Einfluss auf den Lebensstil (d. h. auf die Lebensmittelauswahl und die Höhe des Medienkon- Schattauer 2013 Adipositas 3/2013

144 M. J. Müller: sums) der Kinder. Daneben bestehen aber auch noch Lebensstil-unabhängige Zusammenhänge, welche z. B. in sozial schwachen Gruppen als sozialer Stress beschrieben werden. Dabei könnte einerseits das Erleben von Stress den Lebensstil beeinträchtigen, während andererseits Stresshormone die biologische Regulation des Körpergewichts beeinflussen. Die inter-individuelle Varianz dieser Beziehungen ist hoch, die Zusammenhänge und ihre möglichen biologischen Grundlagen sind bisher auch noch nicht genau verstanden worden. Der Einfluss von Kontexten und Lebenswelten (z. B. die Wohnung und Wohnumgebung, das soziale Niveau von Stadtteilen, deren politische, ökonomische und soziale Charakteristika, unter denen Menschen geboren werden und leben) auf die Beziehung zwischen Bildung, Lebensstilen und Übergewicht ist ebenfalls nicht bekannt. Ein Einfluss der Medien und so auch der Werbung (z. B. für hochkalorische und energiedichte Lebensmittel) auf Lebensstile und Übergewicht erscheint möglich, er ist aber nicht quantitativ belegt. Eine systematische Pfadanalyse der Auswirkungen verschiedener und auch aller bisher identifizierten Bedingungsfaktoren ist bisher nicht durchgeführt worden. So gesehen müssen die bisher durchgeführten Maßnahmen von Gesundheitsförderung und Prävention eher eindimensional erscheinen; andererseits ist die wissenschaftliche Evidenz für weiterreichende Ideen und Maßnahmen bisher nicht stark. Konsequenzen? Die bisher vorliegenden Ergebnisse legen nahe, Maßnahmen der Prävention sowohl auf kritische Lebensphasen (wie z. B. während der Schwangerschaft oder zu Beginn der Schulzeit) als auch auf vulnerable Verbrauchergruppen (z. B. Migranten) zu fokussieren. Angesichts der individuellen Bedeutung der Determinanten von Übergewicht und auch ihrer Abhängigkeit von Lebenswelten, Politik, Ökonomie und gesellschaftlichen Verhältnissen, sind diese aber nicht einfach und allgemein zugänglich. Aufgrund der bisher vorliegenden Erkenntnisse erscheinen präventive Maßnahmen bereits während der Schwangerschaft (mit dem Ziel der Vermeidung einer exzessiven Gesichtszunahme der Schwangeren), in den ersten Lebensmonaten (Stillen) sowie ab dem sechsten Lebensjahr im setting Schule sinnvoll. Allerdings ist der theoretisch, d. h. aufgrund des begrenzten quantitativen Einflusses dieser Faktoren auf die Entwicklung von Übergewicht in Kindheit und Jugend, zu erwartende Effekt auch bei erfolgreicher Prävention gering. Im Vergleich verschiedener Lebensabschnitte in der Kindheit ist der Beginn der Schulzeit am besten geeignet; dafür sprechen die Ergebnisse langfristig angelegter Beobachtungsstudien: Die spontane Remission von Übergewicht beträgt bis zum sechsten Lebensjahr etwa 80 % (d. h. 80 % der bis zu diesem Zeitpunkt übergewichtigen Kinder werden auch ohne Intervention normalgewichtig); nach der Einschulung sinkt die spontane Normalisierung des Körpergewichts auf 30 bis 40 %. Aus Sicht der Wissenschaft erscheinen somit frühe Maßnahmen der Prävention von Übergewicht und Adipositas in Kindertagesstätten und Kindergärten wenig sinnhaft. Bedingungsfaktoren erfolgreicher in Schulen sind: Ein Schulcurriculum zu den Themen Gesundheit, Ernährung und körperliche Aktivität; mehr Sportstunden im Unterricht; das Angebot gesunder Lebensmittel und Mahlzeiten in der Schule; ein Schulklima, welches einen gesunden Lebensstil fördert; Ausbildung und Unterstützung der Lehrer in Gesundheitsförderung; Unterstützung und Einbeziehung der Eltern und Ausweitung der Strategien von Gesundheitsförderung auf Familien. Die Bedeutung der jeweils einzelnen Strategien (welche einzelnen Komponenten sind nun wirksam?) sowie deren Wirksamkeit in verschiedenen sozialen Gruppen ist unklar. Zu erwartende Erfolge Die stärksten Determinanten von Übergewicht und Adipositas (= biologische Faktoren und sozioökonomischer Status) sind nicht durch Gesundheitsförderung und Prävention zu beeinflussen. Der Lebensstil (zu viel Essen, zu wenig Bewegung, zu geringe Schlafdauer, regelmäßiger Alkoholkonsum, Rauchen), erklärt bei Kindern etwa 20 % der Unterschiede im Körpergewicht. Die durch Verhaltensänderungen zu erwartenden Erfolge von frühzeitiger Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen sind somit begrenzt. Modellrechnungen zufolge und unter der Annahme, dass z. B. in Schulen etwa 30 % der Kinder durch präventive Maßnahmen erreicht werden können, könnte die Prävalenz von Übergewicht in dieser Altersgruppe von 16 auf etwa 15 % vermindert werden. Weiterführende Untersuchungen, welche die Lebenswelten differenziert charakterisiert haben und z. B. die Begehbarkeit von Stadtteilen, die Verkehrsdichte, die Kriminalitätsrate, die Zahl der Spielplätze, die Zahl der fast food -Angebote, die Länge des Schulwegs, so wie auch die individuellen Distanzen zwischen Wohnung der Kinder und z. B. Supermärkten, Kioske und Tankstellen untersucht haben, zeigen insgesamt einen nachweisbaren aber auch wiederum nur begrenzten Einfluss von Lebenswelten auf das Übergewicht von Kindern: Diese erklären z. B. etwa 3 % der Varianz von Lebensstilen und Übergewicht von Kindern und Jugendlichen. Die Wechselwirkungen zwischen Lebenswelten und Lebensstilen und deren mögliche Auswirkungen auf Übergewicht und Adipositas sind unbekannt. Obwohl der Einfluss von Lebenswelten auf Lebensstile und Übergewicht und Adipositas plausibel erscheint, erlauben die bisher vorliegenden Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen keine substantiierten Bewertungen und auch keine weiterreichenden Konsequenzen. Machbarkeit von Prävention Die Verantwortlichen und auch die verschiedenen Interessengruppen in Deutschland befürworten heute einheitlich eine ; dies gilt besonders für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Allerdings sind Betroffenheit und Verantwortung in unserer Gesellschaft unterschiedlich verteilt. Während der Bedarf an Prävention und auch die Zuständigkeit von den Vertretern Adipositas 3/2013 Schattauer 2013

M. J. Müller: 145 unseres Gesundheitswesens befürwortet werden, reagieren z. B. die Vertreter der Medien sowie auch der Industrie (Lebensmittel- und Autoindustrie) eher zurückhaltend und abwartend. Mehrheitlich werden Information und Aufklärung sowie präventive Maßnahmen der Verhaltensprävention während der Schwangerschaft, in Kindergärten und Schulen befürwortet und auch für machbar erachtet. Unter Berücksichtigung von Machbarkeit, Wirksamkeit, Akzeptanz und Kosten wird eine in Kindertagesstätten und Kindergärten am höchsten bewertet. Demgegenüber erscheinen z. Zt. Maßnahmen der Verhältnisprävention in unserer Gesellschaft nicht machbar. Barrieren gegenüber Prävention werden im Zugang zu Risiko- bzw. Zielgruppen, der starken Lobby der Lebensmittelindustrie, der zu geringen Eigenverantwortung und dem mangelnden Problembewusstsein des Verbrauchers und der unzureichenden Finanzierung von Prävention vermutet. Als nachteilige Folgen von Prävention werden unerwünschte Restriktionen und Verbote im Alltag, die Stigmatisierung der Betroffenen und Risikogruppen, die Gefahr der Überbürokratisierung in der Prävention, eine bedenkliche Ausweitung staatlicher Intervention sowie ein zu hohes Angebot von Informationen für den Verbraucher erachtet. Fazit und zukünftiger Forschungsbedarf Die Erfahrungen wissenschaftlich begleiteter zeigen, dass die auf diesem Gebiet bisher versuchten Maßnahmen der Komplexität von menschlichem Verhalten und auch den bisher bekannten biologischen und gesellschaftlichen Grundlagen des Menschen nicht gerecht werden. Weltweit gibt es bisher keine Public Health - Maßnahme, welche das bevölkerungsweite Auftreten von Übergewicht beeinflussen konnte. Als wesentlicher Treiber des bevölkerungsweiten Auftretens von Übergewicht wird heute das in den reichen und reichwerdenden Ländern (zu) hohe Angebot von Konsumgütern (wie auch von Lebensmitteln) vermutet. Diese Anreize erschweren die bewusste und unbewusste Kontrolle des Lebensstils und führen zu habituellem und automatisiertem Konsum. Diese komplexen und weit über den einzelnen Menschen hinausreichenden Zusammenhänge entziehen sich den heute in der Biomedizin möglichen Forschungsansätzen. Weiterreichende Überlegungen verlassen so zunächst das Gebiet der reinen Wissenschaft, sie finden eine gewisse Rechtfertigung im Wunsch nach Lösungen. Gesellschaftspolitische (und grundsätzliche Lösungen herbeisehnende) Konzepte sehen das Übergewicht sowohl als ein Zeichen ökonomischen Erfolges als auch des Versagens: Wenn ein Überangebot an Gütern zum Nachteil des Verbrauchers wird, sind Regularien und Beschränkungen notwendig. Übergewicht und Adipositas könnte so vereinfachend als eine normale biologische Antwort auf adipogene Lebensbedingungen verstanden werden. Ein hohes Angebot und eine nahezu flächen - deckende und zu jeder Gelegenheit passende Verfügbarkeit preiswerter, wohlschmeckender und energiereicher Lebensmittel kombiniert mit überzeugenden und eindringlichen Werbebotschaften führen zu mehr Essen und erhöhen das Risiko von Übergewicht und Adipositas. So gesehen könnten nur gesellschaftliche und politische Maßnahmen eine wirkliche Lösung des Problems bewirken. Diese gesellschaftlichen Determinanten werden durch biomedizinische Forschung bisher nicht ausreichend erfasst, was umgekehrt deren nur anteilige Erklärung von Übergewicht und Adipositas sowie die Grenzen von medizinischer Prävention verständlich macht und andererseits die Trennung zwischen Wissenschaft und Politik aufzeigt. Wissenschaft sollte Wissenschaft bleiben. Angesicht der bisher in der Forschung charakterisierten und eher vereinfachenden Zusammenhänge zwischen den durch Prävention beeinflussbaren Determinanten von Übergewicht und den sich daraus abzuleitenden Effekten von Prävention, müssen heute (i) im Sinne eines besseren Verständnisses der Komplexität des Problems systembiologisches Denken und mathematische Modellbildungen genutzt sowie (ii) im Sinne eines Lösungs-orientierten Vorgehens das reduktionistische Denken der Biowissenschaften verlassen und andere Paradigmen zur Erklärung von Übergewicht und Adipositas in unserer Gesellschaft berücksichtigt werden. Letzteres stellt z. B. die soziale Ungleichheit im Übergewicht ins Zentrum und sieht ungleich verteilte Chancen in Einkommen, Bildung und Partizipation als einen wesentlichen Bedingungsfaktor von Lebensstilen und Gesundheit. Übergewicht erscheint so als ein Epiphänomen von Wohlstand und Profitstreben in unserer Gesellschaft, deren Beeinflussung eine grundsätzliche und breite gesellschaftliche Diskussion über den Wert von sozialer Gerechtigkeit und Gesundheit in einer am Profit orientierten und vom Konsum abhängig gewordenen Gesellschaft erfordert. Die Lösung des Problems setzt zunächst eine Neuorientierung von Wissenschaftlern sowie (ausgehend von den Ergebnissen ihrer Forschung) ein commitment von Politik und Verantwortlichen voraus: es geht um den grundsätzlichen Willen von Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern, die Themen Lebensstil, Übergewicht und Adipositas und Gesundheit in großen Kontexten und im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Werten und Zielen zu diskutieren; idealerweise wird Gesundheit hoch bewertet und deshalb auch bei allen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen berücksichtigt. Ungeachtet dieses Lösungs-orientierten Vorgehens ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Problems Übergewicht und Adipositas und eine Begleitforschung gesellschaftlicher Veränderungen und deren Auswirkungen auf Gesundheit notwendig, welche der Komplexität der in Rede stehenden Probleme gerecht werden kann. Diese Forschung sollte horizontal, d. h. (i) innerhalb einzelner Disziplinen breit angelegt (z. B. in der Medizin die Verknüpfungen zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit umfassen) und aber auch (ii) verschiedene Wissenschaften (wie Medizin, Psychologie, Ernährungs-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften) zusammenbringen sowie auch vertikal (d. h. im Sinne einer vertiefenden Analyse ausgehend von Epidemiologie und Klinik des Übergewichts hin zu seinen biologischen und gesellschaftlichen Grundlagen) angelegt sein. Schattauer 2013 Adipositas 3/2013

146 M. J. Müller: In diesem Sinne ist zunächst eine Problem- und Lösungs-orientierte Vernetzung von Bio- und Sozialwissenschaften anzustreben. Vereinfachende, auf reduktionistischen Ansätzen beruhende Analysen und daraus abgeleitete Maßnahmen sind zu vermeiden. Eine mehrschichtige und translationale Forschung, welche mathematische Modellbildungen zur Interaktion von Determinanten und Vorhersagen von Übergewicht und auch des zu erwartenden Präventionserfolges ermöglichen, versprechen zukünftig Antworten, welche der Komplexität des Problems eher gerecht werden; diese werden wiederum Basis einer wissenschaftlich basierten, gesellschaftlich machbaren und erfolgreichen Prävention von Übergewicht und Adipositas sein. Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt. Weiterführende Literatur 1. Brisbois TD, Farmer AP, McCargar LJ. Early markers of adult obesity: a review. Obes Rev 2012; 13: 347 367. 2. Christakis NA, Fowler JH. The spread of obesity in a large social network over 32 years. N Engl J Med 2007; 357: 370 379. 3. de Ruyter JC, Olthof MR, Seidell JC, Katan MB. A trial of sugar-free or sugar-sweetened beverages and body weight in children. N Engl J Med 2012; 367: 1397 1406. 4. Holm L, Nielsen PB, Sandøe P, Nielsen ME. Obesity as a showcase for transdisciplinary research. Eur J Clin Nutr 2013; 67: 571 572 und Obes Facts 2013; 6: 121 123. 5. Lange D, Wahrendorf M, Siegrist J, Plachta-Danielzik S, Landsberg B, Müller MJ. Associations between neighbourhood characteristics, body mass index and health-related behaviours of adolescents in the Kiel Obesity Prevention Study: a multilevel analysis. Eur J Clin Nutr 2011; 65: 711 719. 6. Langnäse K, Asbeck I, Mast M, Müller MJ. Influence of socioeconomic status on long-term effect of family-based obesity treatment intervention in prepubertal overweight children. Health Educ 2004; 104: 336 343. 7. Ludwig J, Sanbonmatsu L, Gennetian, L, Adam E, Duncan GJ, Katz LF, Kessler RC, Kling JR, Lindau ST, Whitaker RC, McDade TW. Neighborhoods, Obesity, and Diabetes A Randomized Social Experiment. N Engl J Med 2011; 365: 1509 1519. 8. Müller MJ. How are we going to turn the obesity prevention experience? Obes Rev 2009; 11: 101 104. 9. Nixon CA, Moore HJ, Douthwaite W Gibson EL, Vogele C, Kreichauf S, Wildgruber A, Manios Y, Summerbell CD; Toy Box-study group. Identifying effective behavioural models and behaviour change strategies underpinning preschool- and school-based obesity prevention interventions aimed at 4 6-year-olds: a systematic review. Obes Rev 2012; Suppl 1: 106 117. 10. Plachta-Danielzik S, Pust S, Asbeck Czerwinski- Mast M, Langnäse K, Fischer C, Bosy-Westphal A, Kriwy P, Müller MJ. Four-year follow-up of school-based intervention on overweight children: the KOPS study. Obesity 2007; 15: 3159 3169. 11. Plachta-Danielzik S, Kehden B, Landsberg B Schaffrath Rosario A, Kurth B-M, Arnold C, Graf C, Hense S, Ahrens W, Müller MJ. Attributable Risks for Childhood Overweight: Evidence for Limited Effectiveness of Prevention. Pediatrics 2012; 130: e865 871. 12. Sbruzzi G, Eibel B, Barbiero SM, Petkowicz RO, Ribeiro RA, Cesa CC, Martins CC, Marobin R, Schaan CW, Souza WB, Schaan BD, Pellanda LC. Educational interventions in childhood obesity: A systematic review with meta-analysis of randomized clinical trials. Prev Med 2013; 56: 254 264. 13. Swinburn BA, Sacks G, Hall KD, McPherson K, Finegood DT, Moodie ML, Gortmaker SL. The global obesity pandemic: shaped by global drivers and local environments. Lancet 2011; 378: 804 814. 14. Tanentsapf I, Heitmann BL, Adegboye AR. Systematic review of clinical trials on dietary interventions to prevent excessive weight gain during pregnancy among normal weight, overweight and obese women. BMC Pregnancy Childbirth 2011; 11: 81. 15. Vandenbroeck IP, Goossens J, Clemens M. Foresight. Tackling obesities: future choices-building the Obesity System Map. London. Government Office for Science, 2007. 16. Waterlander WE, de Boer MR, Schuit AJ, Seidell JC, Steenhuis IH. Price discounts significantly enhance fruit and vegetable purchases when combined with nutrition education: a randomized controlled supermarket trial. Am J Clin Nutr 2013; 97: 886 895. 17. Wahi G, Parkin PC, Beyene J, Uleryk EM, Birken CS. Effectiveness of interventions aimed at reducing screen time in children: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Arch Pediatr Adolesc Med 2011; 165: 979 986. 18. Waters E, de Silva-Sanigorski A, Hall BJ, Brown T, Campbell KJ, Gao Y, Armstrong R, Prosser L, Summerbell CD. Interventions for preventing obesity in children. Cochrane Database Syst Rev 2011; 12: CD001871. doi: 10.1002/14651858. CD001871.pub3. Deutsche Adipositas-Gesellschaft www.adipositas-gesellschaft.de Adipositas 3/2013 Schattauer 2013