20.-22.09.2012 ADHS und Entwicklungsstörungen des Sprechens: gemeinsame Entwicklungswege und Symptomatiken - Implikationen für die Therapie Prof. Dr. Friedrich Linderkamp Lehrstuhl für Rehabilitationswissenschaften Sprachentwicklungsstörungen Vielfältige Störungen der kindlichen Ausdrucksweise, z.b.: verspäteter Sprechbeginn verlangsamter Spracherwerb keine Mehrwortäußerungen im Alter von 24 Monaten eingeschränkter aktiver und passiver Wortschatz selbst einfache Texte werden unstrukturiert und bruchstückhaft wiedergegeben die Bildung von Sätzen wird vermieden; stattdessen kurze und unvollständige Phrasen das Gesprochene wird nur eingeschränkt verstanden Dyslalie (Stammeln) Dysgrammatismus (Satzbau- und Grammatikfehler) 1
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung / Hyperkinetische Störungen K e r n s y m p t o m a t i k e n Unaufmerksamkeit Einschränkungen der Daueraufmerksamkeit Vermehrte Reizsuche / Abgelenktheit Hyperaktivität / Impulsivität Kognitive Imp. Verhaltensbez. Imp. Baddeleys Arbeitsgedächtnismodell (Baddeley, (2012) 2
Gemeinsamkeiten von Sprachentwicklungsstörungen und ADHS Symptomatik: Überschneidende Verhaltensmerkmale: (Express.) Sprachstörung.: Redefluss- und Formulierungsstörungen, hohe Sprechgeschwindigkeit, sprunghafter Sprechrhythmus, motorische Artikulationsprobleme, verkürzte Sätze, Wortfindungsprobleme, vereinfachte grammatikalische Strukturen, Auslassung wesentlicher Satzteile, Schriftsprachprobleme ADHS: polternde Sprache, impulsives ungeordnetes Reinrufen in die Klasse etc. Ätiologie: a) genetische Disposition (bis zu 90%) b) Strukturelle Abweichungen im Präfrontalen Cortex (Aufmerksamkeit; Working Memory) Gemeinsamkeiten von Sprachentwicklungsstörungen und ADHS Prävalenz: SES: 5-8% ADHS: 5-7% Geschlechterverhältnis: SES: 3:1 9:1 ADHS: 7:1 (Jungen vs. Mädchen) Komorbidität 1: ADHS ist die häufigste zusätzlich zur SES diagnostizierte psychische Störungen ADHS bleibt in der Gruppe der Kinder mit SES oft unentdeckt 3
Gemeinsamkeiten von Sprachentwicklungsstörungen und ADHS Komorbidität 2: sekundäre Verhaltens- und Erlebensstörungen als Folge der primären Leistungsstörung Negative Attributionsmuster und Verarbeitungsstile Schulleistungsstörungen (durchaus übergreifend bei beiden Störungsfomen gehäuft Klassenwiederholungen und Schulabbrüche Tab.1 Häufigkeiten behandlungsbedürftiger Entwicklungsauffälligkeiten im Kleinkindalter (Linderkamp, 2005) N=68 Expressive Sprache Grobmotorik Feinmotorik (Stammeln, Stottern) % % % ADHS+OPP 37,5 33,3 37,5 Pur-OPP 8,3 16,7 25,0 Pur-ADHS 30,8 7,7 15,4 SUBKLIN. KG 15,4 7,7 25,0 4
Komorbidität: Epidemiologische Studie von Hartsough & Lambert (1985): 5000 Kinder im Schulalter, davon 492 Kinder mit ADHS 35% sprachverzögerter Kinder in der ADHS-Gruppe gegenüber 2% in der Kontrollgruppe Review Barkley (1997): 10-54% der Kinder mit ADHS weisen gegenüber 2-25% nicht betroffener Kinder expressive Sprachstörungen auf. ADHS - Störungsbasis Affektregulation Handlungssteuerung Handlungsorganisation 5
H a n d l u n g s t h e o r i e Die Organisation und Steuerung von Handlungen gelingt ADHS betroffenen Kindern oftmals nicht, da sie Handlungsziele nicht registrieren und speichern das Ziel während der Handlungsausführung vergessen konkurrierende Handlungstendenzen nicht hemmen bzw. Störreize nicht ausblenden die handlungsnotwendigen Kenntnisse, Fertigkeiten und Strategien nicht erworben haben oder nicht (routiniert) einsetzen die eigene Tätigkeit nicht überwachen und gegebenenfalls verändern und bei komplexeren Anforderungen keine Vorausplanung vornehmen. Bedingungsfaktoren bei ADHS Schule Verhalten- und Beziehungskonflikte (Lehrer, Mitschüler) Leistungsschwäche (Noten, Arbeitsstil) Psychologischer Bereich Kognitive Leistungsschwächen Emotionale Probleme ADHS Freizeit Probleme mit Gleichaltrigen Soziale Isolierung Sozio-ökonomische Faltoren Finanzielle Probleme Arbeitslosigkeit Familie Beziehungskonflikte Besondere Belastung Erziehungsprobleme Organischer Bereich Entwicklungsrückstände 6
Bedingungsfaktoren bei SES Kindliche Variablen Umwelt-Variablen Genetische Komponente Quantität des Sprachangebots Hirnorganische Komponente Verarbeitungsstörung Sprachentwicklungsstörungen Qualität des Sprachangebots Sonstige Einflüsse (Medienkonsum, Krippenbesuch) Abbildung modifiziert nach Weichold, 2012 Risiko steigernde Faktoren Risiko mindernde Faktoren Kind bezogene Risikofaktoren primäre Vulnerabilität prä-, peri- und postnatale Beeinträchtigungen oder Schädigungen Umgebungsbezogene Risikofaktoren a) gesellschaftliche Stressoren: - geringer sozioökon. Status b) familiäre Stressoren - negative Elternmerkmale (psych. Probleme, dysfunktionelles Erzieh.verhalten) - chronischer Streit Sekundäre Vulnerabilität Problematisches (unruhiges) Temperament Entwicklungsauffälligkeiten Erkrankungen Kind bezogene Schutzfaktoren a) allgemeine Schutzfaktoren - positives Temperament - hohe Intelligenz b) Resilienzfaktoren - positives Sozialverhalten - hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung - aktives Bewältigungsverhalten Umgebungsbezogene Schutzfaktoren a) Schutzfaktoren innerhalb der Familie - stabile emotionale Beziehungen - offenes unterstützendes Erziehungsklima - familiärer Zusammenhalt - Modelle positiven Bewältigungsverhaltens b) Schutzfaktoren innerhalb des sozialen Umfeldes - soziale Unterstützung - positive Freundschaftsbeziehungen - Positive Schulerfahrungen Belastungen Ressourcen Bilanz der Belastungen und Ressourcen Gesamtbelastung des Kindes und seiner Familie Notwendige Anstrengungen zur Belastungsbewältigung Entwicklungsprognose des Kindes Abbildung 1. Biopsychosoziale Risiken in der frühkindlichen Entwicklung: das Vulnerabilitätskonzept (modifiziert nach Scheithauer et al., 2000). 7
Dominierende Deutungsmuster für SES und ADHS Neurobiologische Ebene, etwa:» genetische Disposition» Frontalhirnschwäche» Mangelnde zentralnervöse Reizübertragung (ADHS)» mangelnde Inhibitionskontrolle Ebene der sozialen Interaktion» soziale Isolierung (negative Verstärkerbilanz) Ebene der Verhaltenssteuerung und Verhaltensausführung» Störung der Selbstregulation und -organisation» u.u. Motivationale Störung (etwa mangelnde Anstrengungsbereitschaft, mangelnde Ressourcenaktivierung)» Funktionale Einschränkungen (z.b. Arbeitsgedächtnis, Metakognition) 8
Multimodale Therapieplanung: Die Behandlung bei SES und ADHS umfasst mehrere Bausteine - Aufklärung und Beratung der betroffenen Kinder und Eltern (gemeinsames Störungsmodell ) - Elternberatung - Unterstützung, Beratung von Schule oder Kindergarten - Funktionale Übungsbehandlung - (bei ADHS ggf. medikamentöse Unterstützung) Tag 8.3. 9.3. 10.3.... Bemerkungen ma Auto Papa a... neue Wörter Muh da ei... da Muh... + - - + + + - - + + - + + - - + - - + + + -... Zeit 16.05-16.25 Wörter 16.03-16.24 + + - + - + - - + + - - + + - - + - - +... Tab. 1: Training der verbalen Imitation - Auszug aus der Übungsliste... 8.3.: unruhig 9
Elternarbeit Gewährleistung von Empathie, Akzeptanz und sozialer Unterstützung dem Kind gegenüber Einsicht in die Wichtigkeit vorurteilsfreier Wahrnehmung des problematischen Verhaltens (keine rigiden beliefs ) Bei Kindern: Einsicht in die Funktion verstärkungstheoretischer Bedingungen und ihre Bedeutung für das Erziehungsverhalten Betrachtung von Leistungssdefiziten als fehlerhaften Lernprozess mit der Möglichkeit zur Verbesserung (Neulernen / Umlernen) durch sinnvolle Hilfestellungen Einschätzung der Probleme als lösbare Aufgaben 10