Einleitung. Besonderheiten bei Frühgeborenen



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Transkript:

Sabine Nantke, Uta Streit und Fritz Jansen Störungen der Entwicklung, Regulation und Beziehungsfähigkeit von Frühgeborenen frühe Hinweise und mögliche Interventionen in den ersten Lebensmonaten Einleitung Jedes Jahr kommen etwa 50.000 bis 60.000 Kinder in Deutschland zu früh auf die Welt. Dies entspricht etwa 7 % eines Geburtsjahrgangs. Mit einer Frühgeburtlichkeit geht nicht nur ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsstörungen einher. Bei ca. 50 % der Frühgeborenen, die vor der 32. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren werden, treten auch Auffälligkeiten in der Regulation, der Beziehungsfähigkeit und im Verhalten auf. Entwicklungsverzögerungen und -störungen in den Bereichen Motorik und Sprache werden im Rahmen der in den kinderärztlichen Praxen durchgeführten Vorsorge-Untersuchungen bereits frühzeitig wahrgenommen. Viele Frühgeborene zeigen zentrale Koordinationsstörungen, deren Symptomatik durch die Beurteilung von der Spontanmotorik in Rücken- und Bauchlage, der frühkindlichen Reflexe und der Vojta-Lagereaktionen beschrieben wird. Bereits während des stationären Aufenthaltes der Kinder in der Neonatologie sollte in den ersten Lebenswochen und -monaten bei auffälligem Reflexverhalten und/oder einer abnormalen Spontanmotorik mit Asymmetrie kritisch überprüft werden, ob die Indikation für den Beginn einer neurophysiologischen Krankengymnastik (Vojta- oder Bobath-Therapie) bereits unter stationären Bedingungen besteht. Ab dem korrigierten 5. Lebensmonat des Frühgeborenen ist bei differenziertem Wissen über die Dynamik der frühkindlichen Reflexe und der sensomotorischen Entwicklung im ersten Lebensjahr eine weitere Einordnung möglich. So können zu diesem Zeitpunkt Frühgeborene mit Haltungs- und Aufrichtungsmangel von den Risikokindern unterschieden werden, die eine Infantile Zerebralparese oder auch eine mentale Pathologie mit entsprechender motorischer Entwicklungsverzögerung entwickeln. Besonderheiten bei Frühgeborenen Eine hohe Rate der Frühgeborenen zeigt sensorische Auffälligkeiten mit Unterinformiertheit oder auch Überempfindlichkeit für die Bereiche der taktilen, vestibulären, propriozeptiven, gustatorischen und akustischen Wahrnehmung. Bei diesen Kindern entwickeln sich durch die extreme Unreife des Gehirns und die möglichen Schädigungen der verschiedenen Wahrnehmungsbereiche Sensorische Integrationsstörungen, die mehrere Bereiche betreffen. Diese führen häufig zu sensomotorischen Entwicklungsauffälligkeiten, haben aber zudem auch einen deutlichen Einfluss auf das Entstehen frühkindlicher Regulationsstörungen wie Exzessives Schreien, Schlafstörungen sowie Fütter- und Essprobleme. Tab. 1: Der Zusammenhang zwischen frühkindlichen Regulationsstörungen und sensorischen Integrationsstörungen (SI) Regulationsstörung Mögliche Ursachen im Bereich der sensorischen Integration Schlafstörung Fehlende Selbsttröstung Übererregbarkeit Stimmungsschwankungen Essstörungen Vestibuläre/taktile/auditive Störung Vestibuläre/taktile/propriozeptive Störung Vestibuläre/taktile Störung Vestibuläre/taktile/auditive Störung Vestibuläre/taktile/gustatorische/propriozeptive Störung

Sensorische Auffälligkeiten und Störungen können bei Frühgeborenen bereits während des stationären Aufenthalts erkannt werden. So reagieren diese Kinder mit Irritation in Form von Übererregung oder auch Starre bei Lageveränderungen, Wickeln, An- und Ausziehen oder auch beim Füttern. Eine frühe Intervention bzw. auch Prävention durch einen angemessenen Umgang Handling aller Pflegepersonen und auch der Eltern kann bei diesen Kindern zur Vermeidung oder Reduzierung sensorischer Integrationsstörungen beitragen. Dazu gehört insbesondere bei Auffälligkeiten im taktilen und vestibulären System der gezielte Einsatz von tiefensensorischer Massage und Gelenkstimulation um die Überempfindlichkeiten im taktilen und vestibulären Bereich zu hemmen. Zur Stimulation des taktilen Systems sollten klare, intensive und sich wiederholende Reize genutzt werden. Bei Störung des vestibulären Systems im Sinne von Überempfindlichkeit bzw. Unterinformiertheit sollten vorsichtig Reize mit linearer, vertikaler und Rotationsbeschleunigung eingesetzt werden. Nur wenige Kinderkliniken haben die Möglichkeit, erfahrene SI-Therapeuten auf der Neonatologie zu beschäftigen und ihre Tätigkeit als Angebot bereitzuhalten. Umso wichtiger erscheint es, Kinderkrankenschwestern, Kinderärzten und auch Krankengymnastinnen Basiswissen zur sensorischen Integration von Frühgeborenen zu vermitteln. Denn aus den sensorischen Auffälligkeiten der Frühgeborenen ergeben sich klare Konsequenzen zum einen für den individuellen Umgang mit ihnen, zum anderen in Bezug auf die Unterstützung bei der Entwicklung von Bindung und Beziehungsfähigkeit dieser Kinder. So zeigen unreife Frühgeborene in zu einem hohen Prozentsatz typische Befunde, die sich u. a. durch sensorische Auffälligkeiten und Störungen ergeben, wodurch der Aufbau von Bindung und Beziehung zu den Eltern deutlich erschwert wird(tab. 2). Tab. 2: Besonderheiten unreifer Frühgeborener beim Aufbau einer Beziehung Blickkontakt kurz bzw. Vermeidung Selten zufriedener, ruhiger Wachzustand Geräusch-, berührungs-, geruchs-, lageempfindlich Wenig Vokalisieren und soziales Lächeln Schwierigkeit/Blockierung beim Körperkontakt Unteraktivierung bzw. Überempfindlichkeit bei sozialer Interaktion Reizoffen für die Umwelt Auch das Lernverhalten in den Bereichen Perzeption, Sprache und Selbständigkeit wird bei Frühgeborenen durch Auffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit und Sensomotorik erschwert. Im Gegensatz zu gesunden, reif geborenen Kindern ist das Lernverhalten von Frühgeborenen durch folgende Merkmale charakterisiert: Frühgeborene beschäftigen sich ungern alleine, müssen häufig motiviert werden, um Dinge ausreichend häufig zu wiederholen. Sie können ihr Aktivierungsniveau nur über eine geringe Zeit optimal einstellen und zeigen schon nach wenigen Minuten Hinweise auf eine Überforderung. Diese eingeschränkte Belastbarkeit führt bei einer Gruppe der Frühgeborenen dazu, dass die Kinder unruhig werden und übererregt schreien. Eine andere Gruppe Frühgeborener nimmt kaum Blickkontakt auf und wirkt wie»abgeschaltet«und»eingefroren«. Dieses Verhaltensmuster entspricht einer passiven Vermeidung. Auch hier spielen sensorische Auffälligkeiten des Frühgeborenen eine bedeutende Rolle und können Ursachen für das erschwerte Lernen sein (Tab. 3). Tab. 3: Frühgeborene typische Besonderheiten beim Lernen in anderen Bereichen Aktivierung häufig im Sinne von Unteraktivierung oder Übererregung kurzer Aufmerksamkeitsfokus ohne wirkliche Lernerfahrung wenig Wiederholen Sich alleine zu beschäftigen ist schwierig Selbstregulation unreif kleines Zeitfenster für Wahrnehmung erschwert Lernen

Schwierige Eltern-Kind-Beziehung Durch die Frühgeburt und den Aufenthalt auf der Intensivstation können sowohl Frühgeborene als auch ihre Eltern traumatisiert werden. Eltern fühlen sich emotional betroffen, hilflos, ohnmächtig und verletzt. Dies wird durch die Einschränkungen ihres Babys in den kommunikativen Fähigkeiten noch verstärkt. Auch bei einer positiven Kontaktaufnahme der Eltern mit Lächeln, liebevoller Ansprache und Berührung reagiert das Frühgeborene nicht so wie reif geborene Säuglinge. Blickkontakt wird nur selten erwidert. Häufig lassen die Frühgeborenen ihre Augen geschlossen und erwidern auch das Lächeln ihrer Eltern nicht. Ein Känguruhing (oder Kanguruh-Pflege) der Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen dem Frühgeborenen und seinen Eltern zur Förderung von Bindungs- und Beziehungsaufbau über viele Stunden täglich und bereits frühzeitig auf der Intensivstation ist in nur bei wenigen Kindern möglich. Werden Eltern in diesen frühen Kommunikationssituationen auf der neonatologischen Intensivstation nicht unterstützt, dann besteht die Gefahr, dass in den ersten Lebenswochen die so wichtige Anbahnung von Bindung und Beziehung zwischen dem Frühgeborenen und seinen Eltern nicht stattfindet. Somit setzt sich der ungünstige Verlauf der Beziehung von Eltern und Kind, der mit der zu kurzen Gestationszeit begann, fort: Das Bonding nach der Geburt konnte bei diesen Kindern aufgrund der notwendigen ärztlichen Versorgung des Frühgeborenen in den meisten Fällen nicht stattfinden. Durch diese ungünstige Situation erfolgt bei Eltern häufig eine Blockierung ihrer intuitiven Kompetenzen. Im Kontakt mit ihrem Baby zeigen sie nur eingeschränkte positive mimische und sprachliche Signale wie strahlende Augen, Lachen und Ammensprache. Die Berührung ihrer Kinder oder auch ein sanftes Streicheln rufen bei Frühgeborenen mit taktiler Defensivität und Schwierigkeiten im Körperkontakt eher ablehnendes Verhalten mit Unruhe, Schreien sowie Abwendung hervor. Eltern und Bezugspersonen von früh geborenen Kindern sind sich solcher ungünstigen Beziehungssignale und Verhaltensweisen nicht bewusst. Diese spielen jedoch für das frühkindliche Lernen eine wichtige Rolle. So hat das elterliche Kommunikationsverhalten in den ersten Lebensmonaten eine bedeutsame Auswirkung auf die Regulation des Aktivierungsniveaus des Kindes, den Wachheitsgrad und auch auf die Aufmerksamkeitsspanne. Gleichzeitig werden in den ersten Lebensmonaten frühe Sprachanbahnung und Beziehungsverhalten der Säuglinge innerhalb der Eltern-Kind-Interaktion geprägt. Unbewusste Beziehungssignale innerhalb der Eltern-Kind-Interaktion können unter Zuhilfenahme von Videoaufnahmen sichtbar gemacht werden. So zeigen z. B. Videosequenzen von Blick- und Körperkontakt zwischen Eltern und ihren frühgeborenen Kindern viele der beschriebenen Besonderheiten. Auch das Verhalten beim Wickeln und Spielen oder beim Füttern kann mit Hilfe des Videos analysiert werden. Eine solche videogestützte Interaktionsdiagnostik bietet eine gute Voraussetzung, damit Eltern im Gespräch die Besonderheiten im Verhalten ihres Kindes bewusst wahrnehmen können. Ferner werden in der Interaktion die Zusammenhänge zwischen den Reaktionen der Eltern und denen ihres Kindes gut erkennbar. Eine Veränderung elterlicher Verhaltenssteuerung gegenüber ihren Kindern wird in der Beratungssituation geübt. Nachfolgend können die Eltern dann überprüfen, ob und wie diese Veränderung ihres Verhaltens einen günstigen Einfluss auf die Beziehungssignale ihres Kindes hat. Möglichkeiten für Eltern und andere Bezugspersonen, unreife Frühgeborene beim Aufbau von Bindung und Beziehung zu unterstützen, zeigt Tabelle 4.

Tab. 4: Möglichkeiten, unreife Frühgeborene beim Aufbau einer Beziehung zu unterstützen Einstieg in die Beziehung über individuellen Kanal, dabei Beachtung des Nähe-Distanz-Verhaltens des Kindes Klare, liebevolle Ansprache durch die Eltern bzw. andere Bezugspersonen (Name, Begrüßungssatz) Wählen von Ammensprache, gegebenenfalls auch tiefe Stimmlage (Vibration) Fortsetzen der liebevollen Ansprache, gegebenenfalls auch Berührung über Druck trotz ausbleibender Reaktion des Kindes Intensives Lob durch ausgeprägten Einsatz von Mimik und Ammensprache bei jeder kleinsten positiven Veränderung der Beziehungssignale des Kindes Anbieten von angemessenem Körperkontakt Kanguruhing im stationären und häuslichen Alltag Einschätzung und Beeinflussung des Aktivierungsniveaus des Kindes durch die Eltern (beruhigen, aktivieren) Überforderung und Überstimulation vermeiden Früherkennung im Rahmen der U-Untersuchungen Angelehnt an die ärztlichen U-Untersuchungen im ersten Lebensjahr haben wir einen Dokumentationsbogen entwickelt (vgl.http://www.intraactplus.de/fileadmin/pdf/dokumentationsbogen_saeuglinge_u3-u6.pdf). Dieser ist auch für Hebammen, Therapeuten und Pädagogen aus dem Säuglingsbereich nutzbar. Zu verschiedenen Zeitpunkten (4 6. Woche, 3. 4. Monat, 6. 7. Monat und 10. 12. Monat) werden Fähigkeiten des Frühgeborenen überprüft, darunter Blickverhalten, Körperkontakt, Reaktion auf Sprache, Mimik, soziales Lächeln und Verhalten bei Förderung und Anstrengung. Zusätzlich werden im Gespräch folgende Punkte abgefragt: Trink-, Saug- und Essverhalten, Wach-Schlaf-Rhythmus, Fähigkeit, sich alleine zu beschäftigen, Befindlichkeit der Eltern, Ängste der Eltern. Ab dem 6./7. Lebensmonat (bei Frühgeborenen immer korrigiert) ergeben sich durch die Entwicklung des Säuglings weitere Themen, die im Austausch mit den Eltern angesprochen werden sollten: Entwicklung von Widerstand, z. B. beim An- und Ausziehen oder Füttern, ständiges Fordern der Aufmerksamkeit, geregelter Tagesablauf mit regelmäßigen Wach- und Schlafzeiten, Fördersituationen durch die Eltern, Bedeutung der frühen Grenzsetzung, Freiräume für Mütter/Eltern. Mit Hilfe des Dokumentationsbogens können Auffälligkeiten im Bereich der Regulation und Beziehungsfähigkeit sowie im Bereich des Aufmerksamkeitsverhaltens schon in den ersten Lebensmonaten erkannt und klar benannt werden. Entsprechende Beratungen durch Kinderärzte und Therapeuten für schwierige Alltagssituationen wie Trösten, Einschlafen, Füttern, An- und Ausziehen oder Wickeln sollten zusätzlich zu Entwicklungsberatung und Therapie erfolgen. Dies bedeutet, dass auch Hebammen, Kinderkrankenschwestern und Säuglingstherapeuten den Eltern Anleitung und Unterstützung in

Bezug auf die Kommunikation mit ihren Kindern geben können, und zwar für folgende Bereiche: Aufnahme von Blickkontakt, Nachahmung, Erkennen und Fördern eines optimalen Aktivierungsniveaus, Einsatz von Sprache und Umgang mit Widerstand. Bei unserer Arbeit folgen wir dem IntraActPlus-Konzept, das von Jansen und Streit auf der Basis von Ergebnissen der psychologischen Grundlagenforschung seit mehr als 20 Jahren ständig weiterentwickelt wird und den gesamten Altersbereich vom Baby über den Jugendlichen bis zum Erwachsenen abdeckt. 1 Die wichtigsten Schwerpunkte innerhalb des therapeutischen Konzeptes IntraActPlus im ersten Lebensjahr sehen wir in folgenden Punkten: Sicherung der Eltern-Kind-Beziehung, Unterstützung der elterlichen Kompetenz, Anbieten und Genießen von ruhigem Blick- und Körperkontakt, videogestützte Diagnostik und Elternberatung, Vermeidung von Überstimulation, frühe Grenzsetzung, Strukturierung des Tagesablaufs. Zusammenfassung Die Betreuung von Frühgeborenen und ihren Eltern beginnt auf der neonatologischen Intensivstation, weil sich das Kind in der ersten Lebenszeit in einer sehr bedeutenden Phase des Aufbaus von Bindung und Beziehung befindet. Die Entlassung des Frühgeborenen aus der stationären Betreuung sollte mit den Eltern gut vorbereitet werden, um den Start in den häuslichen Alltag zu erleichtern. Eine gelungene Netzwerkarbeit zwischen Neonatologen, niedergelassenen Kinderärzten, Sozialpädiatrischen Zentren, Hebammen, Psychologen sowie Therapeuten und Pädagogen aus dem Säuglingsbereich sehen wir als eine der wichtigsten Voraussetzung für eine wirksame Prävention als auch für eine frühe Diagnostik und Therapie von Entwicklungsstörungen der Frühgeborenen an. Damit wird es möglich, im optimalen Zeitfenster des ersten Lebenshalbjahres die hohe Plastizität des kindlichen Gehirns mit aktiver Synaptogenese zu nutzen. Für die Frühtherapie von Frühgeborenen stellen die Förderung der Sensomotorik und der Aufbau von Bindung und Beziehung in der Eltern-Kind-Kommunikation gleichwertige Behandlungsschwerpunkte dar. Dies macht eine zusätzliche Ausbildung von Kinderärzten und Säuglingstherapeuten für den Bereich Bindungs- und Beziehungsaufbau unerlässlich. Diese Feststellung ist das Ergebnis unserer Erfahrungen der letzten fünf Jahre in der Betreuung von hunderten Frühgeborenen und ihren Eltern. Die gezielte Verknüpfung der genannten Behandlungsebenen bewirkt eine deutlich verbesserte Qualität der Betreuung und Förderung von Frühgeborenen hinsichtlich ihrer sensomotorischen wie emotionalen Entwicklung. Anmerkung 1 Das IntraActPlus-Konzept ist ein verhaltenstherapeutisch orientierter Therapie- und Interventionsansatz, bei dem vorrangig die»beziehung«in die Arbeit einbezogen wird. Um die meist im Millisekundenbereich liegenden Signale von»beziehung«erfassen zu können, wurde die Videoarbeit perfektioniert. Weitere Informationen zum IntraActPlus-Konzept sowie zu entsprechenden Weiterbildungskursen bietet die Website www.intraactplus.de.