Riccardo Bonfranchi Beauchamp & Childress: Die Bedeutung Ihres Ansatzes für die Integration von Kinder mit geistiger Behinderung in die Regelschule Eine weitere Klassifizierung, die auch für die Sozialpädagogik von grösserer Bedeutung sein kann, aber noch weitgehend unbekannt ist, soll hier ausführlicher dargestellt werden. Sie stammt von Beauchamp und Childress. Das Buch Principles of Biomedical Ethics des Philosophen Tom Beauchamp und des Moraltheologen Jim Childress, welches 1979 erschien und mittlerweile (2008) in der 6. Auflage erhältlich ist, gehört zu den bekanntesten Werken der Medizinethik. Meines Wissens hat die Heil- und Sonderpädagogik von diesem Werk, das noch nicht auf Deutsch erschienen ist, noch gar keine Notiz genommen. Das ist m. E. in höchstem Masse bedauerlich. Es sollen deshalb im folgenden einige Grundzüge dieses Ansatzes beschrieben und auf ihre Anwendbarkeit auf die Integration von Kindern mit geistiger Behinderung in die Regelschule (incl. Kindergarten) geprüft werden. 1 Der Ansatz von Beauchamp und Childress Der Ansatz von Beauchamp und Childress lässt sich auf vier Aspekte reduzieren. Rauprich (2008) fasst den Ansatz wie folgt zusammen: - Dem negativen Prinzip des Nichtschadens (non-maleficence), demzufolge Handlungen, die andere Personen schädigen, unterlassen werden sollen, - dem positiven Prinzip des Wohltuns (beneficence), demzufolge Handlungen ausgeführt werden sollen, die zum Wohle von Personen sind oder Schaden von ihnen abwenden, und aus denen insgesamt möglichst viel Nutzen bei möglichst geringen Kosten und Nebenwirkungen resultiert, - dem Prinzip des Respekts vor der Autonomie von Personen (respect for autonomy), nach dem das Selbstbestimmungsrecht von Personen geachtet und ihre Selbstbestimmungsfähigkeit gefördert werden soll, - und dem Prinzip der Gerechtigkeit (justice), wonach der Nutzen sowie die Kosten und Schäden von Handlungen fair auf die beteiligten Personen verteilt werden sollen. Betrachten wir im folgenden die vier Prinzipien etwas genauer und wenden wir sie auf die Integration von schwer geistig behinderten Kindern an.
2 Die vier Prinzipien auf in bezug zur Integration bei Kindern mit geistiger Behinderung Die vier Prinzipien von Beauchamp und Childress werden hier auf das Beispiel der Integration von geistig behinderten Kindern übertragen. Das ist willkürlich von mir gewählt. Die vier Prinzipien sind auch auf andere Beispiel der Sozialpädagogik übertragbar, d.h. sie gelten universell. a) Schadensvermeidung Die Heilpädagogin darf dem Kind keinen Schaden zufügen. Dies erscheint zunächst als selbstverständlich. Doch ist jeweils im Einzelfall abzuklären und auch zu entscheiden, wo die Grenzen der Fürsorge erreicht sind und sich dieses Prinzip eher in einen Schaden verwandelt. Die Grenzen hierfür können fliessend sein. Bei der Integration stellt sich sicherlich das Problem so dar, dass dem Kind die spezifische Förderung sowie Therapien fehlen bzw. in wesentlich aufwändigeren Verfahren organisiert werden müssen. Es ist auch zu fragen, inwieweit ein geistig behindertes Kind nicht zu sehr einer Überforderung unterliegt, wenn um es herum alles (jegliche Interaktion, Sozialkontakte, Anweisungen, Spiele, Witze, aber auch Essen, Hygiene usw. usf.) in einem wesentlich höheren Tempo ablaufen, als es gemäss seinen Schemata (Piaget) zu verarbeiten in der Lage ist. Es fehlt dem geistig behinderten Kind sein Gegenüber, sein direktes vis-à-vis. Man stelle sich selber einmal die Situation vor, wenn man in einem Land leben müsste, wo man die Sprache nicht verstände und einem sämtliche Sitten und Gebräuche fremd wären? Nur über jahrelange Gewöhnung und dem Bilden von Analogien u. ä. wäre man in der Lage die Differenz auszugleichen. Ein geistig behindertes Kind ist wohl auf grund seiner kognitiven Leistungsfähigkeit kaum in der Lage dies zu tun. So ist wohl der Schluss erlaubt, inwieweit nicht eine Voll-Integration, so wie sie heute i.d.r. durchgeführt wird, dem geistig behinderten Kind eher schadet denn nützt. Nützt sie vielleicht nur den Eltern, den Heilpädagogen oder den Politikern? Dies käme aber einem starken Verstoss gleich, würde doch das geistig behinderte Kind zu Gunsten von Fremdinteressen instrumentalisiert.
b) Prinzip der Fürsorge/Wohltun Die Heilpädagogin soll das Wohl des Kindes fördern und ihm nützen. Das Wohlergehen des Kindes soll gefördert werden. Dieses Prinzip fordert die Heilpädagogin zum praktischen Handeln auf. Oft kann aber das Wohl des Kindes nur gefördert werden, wenn die Heilpädagogin gleichzeitig ein Schadensrisiko in Form unerwünschter Wirkungen mit in Kauf nimmt. Dies erfordert im Einzelfall eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Schaden unter Berücksichtigung der individuellen Präferenzen des Kindes. Beispiel: Das Anziehen eines Korsetts zur Vermeidung einer Zunahme der Skoliose. Bei der Integration versucht man das geistig behinderte Kind mit nicht geistig behinderten Kindern zusammen zu bringen, weil man davon ausgeht, dass es zu seinem Wohl beiträgt. Auf die möglichen Gefahren habe ich bei der Schadensvermeidung bereits hingewiesen. Es ist aber nicht weg zu diskutieren, dass diesem Ansatz der starke Geruch des Paternalismus anhängt. D.h. man entscheidet von aussen zu Gunsten des Kindes mit geistiger Behinderung. Die emotionale Befindlichkeit von geistig behinderten Menschen zu erfassen, ist etwas vom Schwierigsten, wie jede Fachfrau weiss. Exemplarisch kann ich berichten, dass ich einige Fälle kenne, wo es durch die Integration zu Verhaltensauffälligkeiten beim geistig behinderten Kind kam und dann die Integration abgebrochen wurde. Im Bericht war dann nur von der plötzlich aufgetretenen Verhaltensauffälligkeit des Kindes mit geistiger Behinderung die Rede, nicht aber von den Verhältnissen, die eventuell dazu geführt haben. Gehört aber bei der Frage, inwieweit man einer Person etwas für ihr Wohltun leisten kann, nicht auch die systemische Abklärung der Verhältnisse? Auch hier soll wieder abschliessend die Frage nach der Instrumentalisierbarkeit des geistig behinderten Kindes gestellt werden. So habe ich bereits mehrere Male gehört, dass die Integration eines geistig behinderten Kindes in eine Regelklasse ein Wohltun für die nicht-behinderten Kinder darstellt. Diese Argumentation würde ich aber ablehnen, weil es nicht die Aufgabe eines geistig behinderten Kindes sein, für die Sozialerziehung eines nicht geistig behinderten Kindes herhalten zu müssen. c) Autonomie/Selbstbestimmung Das Autonomieprinzip gesteht jeder Person das Recht zu, seine eigenen Ansichten zu haben, seine eigenen Entscheidungen zu fällen und Handlungen zu vollziehen, die den
eigenen Wertvorstellungen entsprechen. Dies beinhaltet nicht nur negative Freiheitsrechte (Freiheit von äusserem Zwang und manipulativer Einflussnahme), sondern auch ein positives Recht auf Förderung der Entscheidungsfähigkeit. Folglich hat die Heilpädagogin nicht nur die (negative) Verpflichtung, die Entscheidung des Kindes zu respektieren, sondern auch die (positive) Verpflichtung den Entscheidungsprozess selbst z. B. durch eine sorgfältige, auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnittene Aufklärung und Information zu unterstützen. Das Autonomieprinzip findet seinen Ausdruck in der Forderung des informierten Einverständnisses (informed consent). D.h. dass man davon auszugehen hat, dass das Kind, wenn es in der Lage dazu ist bzw. wäre, dem pädagogischen Prozess zustimmen würde. Das Autonomieprinzip wendet sich gegen die wohlwollende Bevormundung, im Sinne eines Paternalismus, und fordert die Berücksichtigung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Kindes. Diese Forderung ist natürlich bei einem schwer geistig behinderten Kind nur mittelbar, d.h. über Verhaltensweisen des geistig behinderten Kindes festzustellen. Ich halte aber fest, dass ich in den diversen Veröffentlichungen zu diesem Thema noch nie die Frage behandelt gesehen habe, ob denn das geistig behinderte Kind eigentlich mit der Integration einverstanden ist bzw. wäre, wenn es kognitiv in der Lage wäre, sich dazu zu äussern. Auch wenn es dies nicht kann, so ist m. E. diesem Umstand viel stärker Rechnung zu tragen. Oft werde ich den Verdacht nicht los, dass es bei der Selbstbestimmung um die Selbstbestimmung der Eltern geht, dass ihr Kind nicht in eine Sonderschule gehen soll, sondern integriert wird. Über deren Motive will ich mich hier nicht auslassen. Entscheidend für mich ist, dass ich die Position des Kindes, im Sinne einer advokatorischen Ethik, einnehmen will und da scheint mir die Selbstbestimmung eher an einem kleinen Ort zu liegen. d) Gerechtigkeit Dieses Prinzip fordert eine faire Verteilung der Zuwendung von Seiten der Heilpädagogin. Die Relevanz von Gerechtigkeitserwägungen ist eigentlich unbestritten und fast jeder würde wohl dem folgenden formalen Gerechtigkeitsprinzip zustimmen können: Gleiche Fälle sollten gleich behandelt werden und ungleiche Fälle sollten nur insofern ungleich behandelt werden, als sie moralisch relevante Unterschiede aufweisen. Dabei stellt sich dann jedoch sofort die Frage: Worin bestehen denn diese moralisch relevanten Unterschiede? Mit anderen Worten: welche Kriterien sind für eine
gerechte Verteilung von Zuwendung ausschlaggebend. Das Prinzip der Gerechtigkeit kann in einem Gegensatz zum Autonomieprinzip stehen. Oder anders herum formuliert: Die Autonomie des einen hört bei den Grenzen des Anderen auf und schränkt dort seine Autonomie wieder ein. In Bezug auf die Integration hört man oft, dass es nicht mehr als gerecht ist, dass geistig behinderte Kinder nicht ausgesondert werden und auch dazu gehören. Dem ist m. E. nichts entgegen zu halten. Die Frage ist für mich eher methodischer Natur, d.h. taugt die zur Zeit angewendete Form der Integration bzw. ist sie gerecht, wenn alle (ich wiederhole: Alle) geistig behinderten Kinder früher oder später doch in eine Heilpädagogische Sonderschule umgeschult werden (müssen)? Das Konzept wäre ja nur dann tauglich, wenn geistig behinderte Kinder a) bis zum Ende der Schulzeit integriert bleiben würden und b) das vollständige Förder- und Therapieangebot erhielten, wie in einer Sonderschule und c) über die gleichen sozialen Kontakte verfügten wie in einer Sonderschule. Eine gerechte Betrachtungsweise der Integration müsste m. E. diese drei Kriterien erfüllen. Tut sie dies nicht: ist sie nicht gerecht und muss geändert werden. Die Anwendung der vier Prinzipien auf ethische Konfliktfälle erfolgt sinnvoller Weise in zwei Schritten. Zunächst wird jedes Prinzip im Hinblick auf die spezifische Situation des Falles interpretiert (Interpretation). Anschliessend wird überprüft, ob die aus den einzelnen Prinzipien resultierenden Verpflichtungen übereinstimmen oder in Konflikt zueinander stehen. Die Prinzipien haben jeweils für sich keine absolute Geltung, sondern müssen im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden (Gewichtungen feststellen). So kann die Autonomie des Kindes durch die Prinzipien des Nichtschadens und der Fürsorge eingeschränkt werden. Es ist immer auf sensible Art und Weise abzuklären, inwieweit bei paternalistischen Eingriffen von Seiten der Heilpädagoginnen die Autonomie des Kindes seinem Wohl untergeordnet werden darf. (Paternalismus = Eingriff mit mehr oder weniger Gewalt im Interesse des Kindes). Deshalb wird von den Autoren dieses Ansatzes eine Rangordnung dieser vier ethischen Prinzipien bewusst nicht vorgegeben. Die Abwägung der Prinzipien bleibt vielmehr der Entscheidung im Einzelfall überlassen. Ethische Probleme können sich dabei sowohl bei der fallbezogenen Interpretation als auch bei der relativen Gewichtung der Prinzipien ergeben. D.h. es geht immer auch um die moralischen Überzeugungen der beteiligten Personen. Damit werden intuitive Urteile und subjektive Abwägungen genau dort unvermeidbar, wo wir eigentlich ethische Rezepte erwarten würden. Die gibt es aber nicht. D.h., dass wir die Aussage Eine Schule für alle, die ich dem Autonomieprinzip
zu ordne, abwägen müssen gegenüber einer Schadensvermeidung bzw. Fürsorge gegenüber dem Kind mit geistiger Behinderung. Und da komme ich zu dem Schluss, dass die gegenwärtig durchgeführte Praxis der Integration von geistig behinderten Kindern ihnen mehr Schaden zufügt als dass sie um ihr Wohlsein besorgt ist. Diese Praxis ist deshalb zu überprüfen und zu hinterfragen. Literatur: Beachamp, T. L. & Childress, J. F.: Principles of Biomedical Ethics. Oxford University Press 2009.