Grundzüge der Geldtheorie und Geldpolitik Sommersemester 2014 Kapitel 7: Die Unabhängigkeit der Zentralbank: das Zeitinkonsistenz-Problem
7. Die Unabhängigkeit der Zentralbank: das Zeitinkonsistenz-Problem Bofinger et al. (1996), Geldpolitik, S. 137-175. Berger, Helge; Jakob de Haan und Sylvester Eijffinger (2001), Central Bank Independence: Update on Theory and Evidence, Journal of Economic Surveys 15(1): 3-40. Ausgangspunkt: Länder mit regierungsunabhängigen Zentralbanken haben systematisch geringere Inflationsraten (Achtung: Korrelation vs. Kausalität!) keine Unterschiede im Output (bzw. Alo-rate) 2
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7.1 Die Phillips-Kurven-Diskussion Phillips (1958): negative Korrelation zwischen Nominallohnsteigerungen und Alo in GB 4
Begründungen: wenn Alo niedrig, haben Gewerkschaften starke Verhandlungsmacht Unternehmen zahlen freiwillig mehr (wage drift), um Arbeiter zu gewinnen ursprüngliche PC-Kurve: (1) W = γ(u u n ) u n = natürliche Alo-rate Preisaufschlagskalkulation (Samuelson/Solow 1960): (2a) P = a 1 + z W (2b) π P = W modifizierte Phillips-Kurve: (3) π = γ(u u n ) 5
π B u < u n W > 0 π > 0 u > u n W < 0 π > 0 These in 60er/70er Jahren: Staat kann beliebigen Punkt auf PC wählen via Geld- und Fiskalpolitik A PC u 6
Geldpolitik: M (einmalig) M/P i AD Y u W π Bewegung von A nach B in B: π > 0 Preise steigen fortlaufend: M/P i AD Y u W π Bewegung entlang PC von B nach A Bewegung abgeschlossen, wenn Preise proportional zur Geldmengenerhöhung gestiegen, neues Gleichgewicht ist A möglicher Ausweg: Geldpolitik verhindert Sinken der realen Geldmenge durch fortlaufende M-Erhöhungen System verharrt in B 7
"Optimalpunkt" für Politik Nutzenfunktion der Politiker (Wähler): π V V (, u) B v 0 v 2 v 1 u n PC u Alt-Bundeskanzler Schmidt: Lieber 5% Inflation als 5% Arbeitslosigkeit. Punkt B möglichst links oben 8
Inflationserwartungen Phelps (1967) und Friedman (1968): Arbeitnehmer und Firmen nicht am Nominallohn, sondern am Reallohn interessiert Verhandlungen über Nominallöhne beziehen erwartete Inflationsrate mit ins Kalkül ein (4) W = π e γ(u u n ) Aus π = W in Verbindung mit (4) folgt die um Erwartungen erweiterte modifizierte PC (5) π = π e γ(u u n ) Achtung: Inflationserwartungen π e sind Lageparameter der kurzfristigen PC 9
π 5% B 3% A π e = 5% π e = 3% u n π e = 0 u in A: M = 3% π = 3% π e = 3% jetzt: expansive Geldpolitik, d.h. Erhöhung der Geldmengenwachstumsrate M > π M/P. A B in B: π > π e π e Verschiebung der PC! 10
Erwartungsbildungshypothesen adaptiv: π e = π e (π 1, π 2, ) rationale Erwartungen: π e = π Anpassung an eine höhere Inflationsrate π LPC D C 3% B A PC PC PC u n u 11
in A: M = 3% π = 3% π e = 3% jetzt: expansive Geldpol., d.h. Erhöhung der Geldmengenwachstumsrate M > π M/P. A B in B: π > π e, d.h. tatsächlicher Reallohn ist kleiner als erwarteter Reallohn π e Verschiebung der PC nach PC' W π ausgehend von B Bewegung nach "oben" höhere Inflation senkt reale Geldmenge: M/P i... u Bewegung nach "rechts B C in C: π > π e identische Wirkungskette 12
Die langfristige Phillips-Kurve neues langfristiges Gleichgewicht: Punkt D Definition langfristiges Gleichgewicht: π = π e Für π = π e folgt aus (5) für die langfristige Phillipskurve LPC: (6) u = u n langfristig kein Trade off zwischen und u Geldpolitik entscheidet mittels M, welcher Punkt auf LPC realisiert wird Um u dauerhaft unter u n zu halten, muss dauerhaft gelten π > π e Erzeugung einer permanenten Überraschungsinfla akzelerierende Infla! aber: Wirtschaftssubjekte werden permanent getäuscht irreal 13
Hauptresultate der Makrotheorie der 70er/80er Jahre: kurzfristig, d.h. für gegebene Inflationserwartungen kann Staat Alo senken via Geldund Fiskalpolitik langfristig passen sich Inflationserwartungen an mit der Folge, dass Trade off verschwindet Geld- und Fiskalpolitik haben langfristig keinen Einfluss auf gleichgewichtige Alo! Nachfragepol. kurzfristig wirksam, langfristig nicht! Extremfall: Stabilisierungspolitik bei rationalen Erwartungen rationale Erwartungen = alle für die zukünftige Entwicklung der Inflation relevanten Infos werden für d. Erwartungsbildung berücksichtigt (nicht nur Vergangenheitswerte) Konsequenz: weil stets π = π e gilt, gilt stets u = u n bei rationalen Erwartungen sind Überraschungsinflationen ausgeschlossen auch kurzfristig keine realen Effekte Bewegungen ausschließlich auf LPC 14
Zur natürlichen Alo-rate u n langfristige Unwirksamkeit der Nachfragepolitik führte zur Hinwendung zur Angebotspolitik (Reagan, Thatcher, Kohl, heute : Agenda 2010) Arbeitsvermittlung Suchprozesse forcieren Mobilität erhöhen Arbeitslosengeld Gewerkschaftsmacht Lohnverhandlungsprozess (Streikrecht in GB) Ausbildung Mindestlöhne Heutige Literatur spricht eher von inflationsstabiler Arbeitslosenrate (NAIRU) Ableitung der NAIRU aus Lohnsetzungs-/Preissetzungsmodell Blanchard/Illing (2010), Makroökonomie, Pearson-Verlag. Carlin/Soskice (2006), Macroeconomics Imperfections, Institutions and Policies, Oxford University Press. 15
7.2 Darstellung der Zeitinkonsistenz-Problematik Hauptaussage: Regelgebundene Geldpolitik ist einer diskretionären Geldpolitik überlegen, und zwar selbst in einer Welt ohne Wirkungsverzögerungen und Modellunsicherheit. Diskretionäre Politik unterliegt dem Problem der Zeitinkonsistenz optimaler Entscheidungen, letzteres erzeugt einen Inflations-Bias, der über eine Regelbindung beseitigt werden kann. Kyland and Prescott (1977) Barro und Gordon (1983) 16
Zeitinkonsistenz als spieltheoretisches Problem Annahmen: zwei Spieler A, B einmaliges Spiel (one shot game) 1) in t 0 : A kündigt für t 2 eine Politik an 2) In t 1 : B bildet Erwartungen über die Politik von A in t 2 und handelt in t 1 3) in t 2 : A führt eine Politikmaßnahme durch; tatsächliche Maßnahme kann von der in t 0 angekündigten Maßnahme abweichen Zeitinkonsistenz: Die in t 0 angekündigte (und zu diesem Zeitpunkt optimale) Politik ist in t 1 nicht mehr optimal. Ursache: die Handlung von B in t 1 ändert für A die Rahmenbedingungen des Spiels 17
Beispiel: (Blinder 1987) A: Professor mit U = U(Klausuren korrigieren; Lernen der Studierenden B) in t 0 : Klausuren ankündigen für t 2 t 1 : Studenten lernen t 2 : Klausur absagen (alle erhalten den Schein) Die in t 2 optimale Politik ist eine andere als die in t 0 angekündigte. Problem: wenn Studenten diesen Anreiz kennen, wie glaubwürdig ist dann noch die Ankündigung der Klausur? Problem verschärft sich in wiederholten Spielen bei unglaubwürdiger Ankündigung wird Ziel "Lernen" verfehlt Lösung: Regelbindung via Prüfungsordnung, d.h. Klausurpflicht und damit Wegfall der Option Klausurabsage 18
Anwendung auf Geldpolitik 2 Spieler: Zentralbank ZB; Private In t 0 : ZB kündigt für t 2 Preisstabilität an (π = 0) t 1 : Private bilden Inflationserwartungen π e und schließen Tarifverträge ab t 2 : gegeben die nominalen Tariflöhne wählt ZB jetzt tatsächliche π Zeitinkonsistenz: die in t 2 optimale Inflationsrate ist positiv Inflations-Bias Das Modell Zielfunktion bzw. Verlustfunktion: (7) L = b(u u z ) 2 +(π π z ) 2 ; b > 0 u z = Ziel-Arbeitslosenrate π z = Ziel-Inflationsrate (=0) Zielfunktion bzw. Verlustfunktion für ZB und Private identisch! Positive wie negative Abweichungen von den Zielwerten werden gleichermaßen negativ bewertet. 19
Politikproblem: ZB minimiert L unter der Nebenbedingung einer um Erwartungen erweiterten (modifizierten) Phillips-Kurve Nebenbedingung: (8) π = π e γ(u u n ) bzw. u= u n 1 γ π πe mit a 1 γ zentrale Annahme: Ziel-Arbeitslosenrate kleiner als die natürliche Alo-rate: (9) u z = ku n mit k < 1 Begründung: u n suboptimal hoch wegen allokativer Verzerrungen auf Arbeitsmärkten (Gewerkschaften) und Gütermärkten (Monopolmacht der Unternehmen) 20
Optimierungsproblem der ZB: minimiere den Erwartungswert der Verlustfunktion über die Wahl von in : (10) min E L = b u u z 2 + π 2 s.t. u = u n a(π π e ) t 0 : t 1 : t 2 : um π e = 0 zu erreichen, kündigt ZB Preisniveaustabilität π = 0 an Private bilden π e ZB wählt analytisch: E L = b u ku n 2 + π 2 = b(u n a π π e ) ku n 2 + π 2 = b((1 k)u n a π π e ) 2 + π 2 Bedingung erster Ordnung (foc): 21
(11) de(l) dπ = 2b 1 k un a π π e a + 2π = 0 Umformung dieser foc nach der Inflationsrate liefert die Reaktionsfunktion der ZB: (12) π = ab(1 k)un 1+a 2 b + a2 b 1+a 2 b πe Die von der ZB in t 2 gewählte Inflationsrate ist umso höher, je ehrgeiziger das Beschäftigungsziel (kleines k) je größer die natürliche Arbeitslosenrate u n je größer das Gewicht b des Beschäftigungsziels je höher die Inflationserwartungen π e Insbesondere gilt: auch für π e = 0 wählt ZB π > 0 Überraschungsinflation optimal 22
Ankündigung: π = 0 Erwartungsbildung: π e = 0 optimale Politik: π > 0 (Annahme) π C B π A (z. B. 2%) A PC (π e = ab(1 k)u n ) PC (π e = 2%) u z u n PC(π e = 0) u 23
Achtung: Abgeleitete optimale Politik (Punkt A) nicht mit rationalen Erwartungen vereinbar! Wenn Private den Inflationsanreiz kennen, ist π e = 0 irrational in A: Private sind getäuscht worden, d.h. tatsächliche Inflationsrate ist größer als die erwartete Inflationsrate: π > π e = 0 Private werden ihre Inflationserwartungen nach oben anpassen, die kurzfristige PC verschiebt sich nach oben Frage: Ist die zu PC' führende Inflationserwartung rational? Nein, da für dieses π e auch ansteigt (Punkt B) Welche Inflationserwartungen π e werden die Privaten in t 1 bilden, wenn sie den Inflationsanreiz bzw. die Reaktionsfunktion der ZB kennen? 24
Private antizipieren, dass ZB die tatsächliche Inflationsrate wählt gemäß ihrer Reaktionsfunktion: (12) ab(1 k) u 2 1 a b 2 a b e 1 a b n 2 Somit gilt für die erwartete ZB-politik: ( ab(1 k) n a b e E ) u ( ) 2 1 1 2 E a b a b e ab(1 k) u 2 1 a b n Inflationsrate, die die Privaten rationaler weise erwarten 2 2 a b 2 1 a b e (13) e ab ( 1 k) u n 25
e n Für ab ( 1 k) u wählt ZB gemäß (12) folgende Inflationsrate : n 2 ab(1 k) u a b ab(1 2 2 1 a b 1 a b k) u n Inflationsrate, die die Verlustfunktion der Geldpolitik minimiert: (14) ab 1 k u n Punkt C Erwartete und tatsächliche Inflationsrate stimmen überein, Inflationsrate ist positiv, es wird die natürliche Alo-rate realisiert (Punkt auf langfristiger PC). 26
Zusammenfassung des Zeitinkonsistenzproblems der Geldpolitik in t 0 : Ankündigung für t 2 : π = 0 in t 1 : Ankündigung wird nicht geglaubt, stattdessen bilden sich positive Inflationserwartungen π = ab(1 k)u n In t 2 : gegeben die positiven Inflationserwartungen ist es für die ZB optimal, tatsächlich zu inflationieren: π e = ab(1 k)u n angekündigte und durchgeführte Politik sind unterschiedlich; diskretionäre Geldpolitik generiert einen systematischen Inflations-Bias in Höhe von π e = ab(1 k)u n bei rationalen Erwartungen ist auch kein temporärer Beschäftigungsgewinn im Anpassungsprozess von A nach C zu erzielen 27
7.3 Lösungen für das Zeitinkonsistenz-Problem Regelbindung (Barro/Gordon 1983) = (gesetzl.) Fixierung der durchzuführenden Geldpolitik auf π = 0 Ziel bzw. Zweck: Kernproblem ist die fehlende Glaubwürdigkeit der angekündigten Politik der Preisstabilität. Durch die Regelbindung wird die Ankündigung von π = 0 in t 0 glaubwürdig, denn wenn die Geldpolitik keinen diskretionären Spielraum hat, ist keine Abweichung von angekündigter und tatsächlicher Politik möglich, also entfällt der Grund für positive Inflationserwartungen. Ankündigung: π = 0 Erwartung: π e = 0 tatsächl. Pol.: π = 0 28
π C PC(π e = ab(1 k)u n ) u z A u n D PC(π e = 0) E u Regelbindung impliziert Realisierung von Punkt D Beseitigung des Inflations-Bias wegen Erlangung von Glaubwürdigkeit systematisch niedrigere Inflation das wesentliche Pro-Argument für Abkehr von diskretionärer Geldpolitik und Hinwendung zur Regelbindung 29
Installierung eines konservativen Zentralbankers (Rogoff 1985) Konservativer Zentralbanker misst dem Beschäftigungsziel ein geringeres Gewicht zu als der Staat und die Privaten, modelltheoretisch: 0 b Rog < b Bei diskretionärer Geldpolitik gilt π = ab(1 k)u n Inflation-Bias bei diskretionärer Politik sinkt in b, d.h. je konservativer die ZB, desto näher liegt Gleichgewicht bei Punkt D. Extremfall: ultrakonservativer Zentralbanker: b Rog = 0 Punkt D repliziert Regelbindung à la Barro/Gordon (π = 0) Das Argument für unabhängige ZB: Von Regierungen unabhängige Zentralbanken mit auf Preisniveaustabilität ausgerichteten Geldpolitikern realisieren eine systematisch geringere Inflation als abhängige Zentralbanken! 30
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Thomas-Becket-Effekt: EZB-Präsident Trichet vorher im Pariser Finanzministerium ein Gegner der ZB- Unabhängigkeit und typischer Vertreter des französischen Dirigismus Als Banque de France- und als EZB-Präsident aber entschieden gegen politische Einflussnahme Whipped-cream-Effekt (EZB-Präsident Duisenberg) The more politicans stir central bankers, the stiffer they become. 35
7.4 Erweiterungen Mehrperiodige Spiele (Reputationsgleichgewicht) neue Zielfunktion: Z t 0 1 (1 r) Ankündigung: π = 0 Erwartung: π e = ab(1 k)u n tatsächl. Pol.: π = 0 Punkt E t Z t mit Z t b( u t u z ) 2 2 t hohe soziale Kosten in Form von Alo, aber Aufbau von Reputation 36
Bei mehrmaliger Wiederholung des Spiels und tatsächlicher Durchführung der angekündigten Politik Realisierung des Reputationsgleichgewichts Punkt D. π Z C C Z D A PC(π e = ab(1 k)u n ) u z Z A D E u PC(π e = 0) 37
Modellierung von imperfekten Informationen Angebotsschocks Private kennen die Zielfunktion der ZB nicht Modellierung von Imperfektionen Inflations-Bias hängt an der Annahme eines überehrgeizigen Beschäftigungsziels (u z < u n ). Motiviert wurde diese Annahme über Imperfektionen auf Güter- und Arbeitsmärkten. Preissetzung der Unternehmen modellieren Lohnbildung modellieren m.a.w., u n endogenisieren (vgl. Jerger 1999) 38