Altersveränderung des Gedächtnisses was ist (noch) normal?

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Transkript:

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim www.zi-mannheim.de Altersveränderung des Gedächtnisses was ist (noch) normal? Dipl.-Psych. Melany Richter

Übersicht Intelligenz und Gedächtnis Veränderungen der Gedächtnisleistung im Laufe des Lebens Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Welche Veränderungen sind normal, was ist pathologisch?

Intelligenz und Gedächtnis Fluide Intelligenz (Cattell & Horn): angeboren bzw. vererbt, abhängig von (hirn)physiologischen Ausprägungen umfasst Prozesse wie Auffassungsgabe, Verarbeitungsniveau, Fähigkeit zum Wissenserwerb, Abstraktionsfähigkeit, logisches Denken um fluide Intelligenz nutzen zu können, bedarf es eines funktionierenden Arbeitsgedächtnisses Fluide Intelligenzleistungen nehmen im Laufe des Erwachsenenlebens ab

Intelligenz und Gedächtnis Kristalline Intelligenz (Cattell & Horn): erlernte Fähigkeiten, durch Umwelt (mit)bestimmt umfasst sowohl explizites Wissen (Wortschatz, Faktenwissen, etc.) als auch implizites Wissen (Können, erlernte Verhaltensweisen, etc.) kristalline Intelligenz wird großenteils im Langzeitgedächtnis gespeichert entsteht im Laufe des Lebens durch unterschiedliche Lernerfahrungen, ist also von fluider Intelligenz abhängig Kristalline Intelligenz bleibt im Alter stabil und nimmt bisweilen noch zu

Intelligenz und Gedächtnis Arbeitsgedächtnis (Baddeley, 1974): Verarbeitung und vorübergehende Speicherung sprachlicher (phonological loop) und visuell-räumlicher (visuospatial sketchpad) Informationen Begrenzte Kapazität (max. 1-2 Sekunden) Verbindung zum Langzeitgedächtnis (central executive) sowohl zur Weitergabe von Informationen in das LZG als auch zum Abruf dort gespeicherter Informationen Aufmerksamkeitsfokussierung, -lenkung, -teilung

Intelligenz und Gedächtnis Langzeitgedächtnis: Permanenter Wissensspeicher Praktisch unbegrenzte Kapazität Umfasst das explizite und implizite Gedächtnis: Explizites (deklaratives) Gedächtnis enthält Faktenwissen und erlebte Ereignisse Implizites (nicht-deklaratives) Gedächtnis enthält sprachlich nicht explizierbare Inhalte; dazu gehört das prozedurale Gedächtnis, in dem Fertigkeiten und Verhaltensroutinen (z.b. Fahrrad fahren) gespeichert sind

Gedächtnisleistung im Laufe des Lebens Zugewinn prozeduraler Gedächtnisinhalte vor allem in der Kindheit: Zunahme der Fähigkeit, zu denken und Schlüsse zu ziehen Erlernen zunehmend komplexerer Fähigkeiten Zugewinn vor allem expliziter Gedächtnisinhalte im Laufe des Erwachsenenlebens: Faktenwissen und Wortschatz steigen Mehr persönliche Erlebnisse und Erfahrungen Festigung und flexiblere Anwendung erlernter Verhaltensweisen

Gedächtnisleistung im Laufe des Lebens Im höheren und hohen Lebensalter vor allem Veränderungen im Arbeitsgedächtnis: Einspeicherung neuer Informationen erschwert sprachliche Fähigkeiten (Wortfindung, Sprechgeschwindigkeit) gehen zurück Reaktionsgeschwindigkeit sinkt Zeit zur Durchführung komplexerer Aufgaben erhöht sich Unterdrückung von Störinformation ist erschwert (leichtere Ablenkbarkeit) Handlungsfehler werden schwerer erkannt und unterdrückt Multitasking-Fähigkeit nimmt ab

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Screening-Verfahren zur Identifikation möglicher pathologischer Veränderungen; Goldstandard ist der Mini Mental Status Test (MMST, Folstein et al., 1975) Ausführliche neuropsychologische Untersuchung zur Spezifizierung möglicher pathologischer Veränderungen; in Deutschland am häufigsten eingesetzt: CERAD-NP Testbatterie (Welsh et al., 1994)

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Mini Mental Status Test (MMST) als Screeninginstrument: Arbeitsgedächtnis: Aufmerksamkeitslenkung Konzentration Speicherung von Informationen Ablenkbarkeit Visuokonstruktion Langzeitgedächtnis: Erinnerungsfähigkeit Zeitliche und örtliche Orientierung

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Mini Mental Status Test (MMST): Insgesamt 30 Punkte erreichbar Je nach Alter sind Ergebnisse zwischen 30 und 26 Punkten normal Ein Wert von unter 26 Punkten weist auf pathologische Veränderungen der Gedächtnisfunktionen hin

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Uhrentest: Anweisung, in einen vorgegebenen Kreis eine Uhr zu zeichnen, dabei die fehlenden Ziffern einzutragen und eine bestimmte Uhrzeit einzutragen Deklaratives Gedächtnis Handlungsplanung Visuokonstruktion

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Uhrentest: auffällige Ergebnisse

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter Uhrentest: auffällige Ergebnisse

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter CERAD-NP Testbatterie: Wortschatz Wortflüssigkeit Aufmerksamkeit, Konzentration Lernfähigkeit (verbal und nonverbal) Visuokonstruktion Erinnerungsvermögen Verarbeitungsgeschwindigkeit Ablenkbarkeit

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter CERAD - Visuokonstruktion

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter CERAD - Visuokonstruktion

Untersuchung von Gedächtnisfunktionen im Alter CERAD-NP: Abbildung unterschiedlicher Gedächtnisprozesse Gute Normierung bezüglich Alter, Geschlecht und Bildungsniveau: Vor allem für Patienten zwischen 50 und 75 Jahren Große Bandbreite gesunder Testleistungen, wodurch interindividuelle Unterschiede nicht überpathologisiert werden Bei Unterschreiten dieser Normbereiche hohe Wahrscheinlichkeit für pathologische Veränderungen Art und Schwere der Einschränkungen geben differentialdiagnostische Hinweise

Altersnormale vs. pathologische Veränderungen Abnahme der Leistung des Arbeitsgedächtnisses tritt bei gesundem Altern auf und ist interindividuell unterschiedlich ausgeprägt Hinweise auf pathologische Veränderungen bestehen, wenn Altersnormen in standardisierten Testverfahren deutlich unterschritten werden Erreichen die Beeinträchtigungen des Arbeitsgedächtnisses ein Ausmaß, das zu deutlichen Einschränkungen bei der Bewältigung von Alltagsaktivitäten führt, sollte eine pathologische Ursache erwogen werden

Altersnormale vs. pathologische Veränderungen Eine Abnahme der Fähigkeiten des Langzeitgedächtnisses tritt in der Regel erst in sehr hohem Alter auf Zeigen sich Hinweise auf Störungen des LZG (z.b. Vergessen persönlicher Lebensereignisse, Störungen des Wortschatzes, deutlicher Verlust von Faktenwissen), ist eine pathologische Ursache wahrscheinlich

Altersnormale vs. pathologische Veränderungen Bei Störungen der Gedächtnisfunktionen ist immer zu beachten, dass Gedächtnisleistungen Schwankungen unterliegen: Schlafmangel erhöhter Stress Nervosität akute psychische Belastungen laute Umgebung körperliche Verfassung (Krankheit, Hitze, Flüssigkeitsmangel, Alkohol )

Zusammenfassung und Tipps für die Praxis Eine Abnahme der Leistung des Arbeitsgedächtnisses im Alter ist normal, das Langzeitgedächtnis bleibt hingegen bis ins hohe Alter weitgehend gut erhalten Veränderungen von Gedächtnisleistungen im Alter sind interindividuell unterschiedlich Screeningverfahren sind hilfreich, um mögliche pathologische Veränderungen zu identifizieren Zur genaueren Identifikation der beeinträchtigten Gedächtnisprozesse sind ausführlichere neuropsychologische Untersuchungen sinnvoll Bei der Beurteilung der Einbußen ist ein Vergleich mit Normdaten wichtig In den meisten Fällen gehen pathologische Veränderungen kognitiver Fähigkeiten mit entsprechenden hirnorganischen Veränderungen einher -> folgende Vorträge zur Demenzdiagnostik

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!