Kinder spielen sich ins Leben



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Kinder spielen sich ins Leben Armin Krenz ist Dozent am»institut für angewandte Psychologie und Pädagogik«in Kiel (www.ifap-kiel.de). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fortbildung für ErzieherInnen im Fachbereich Elementarpädagogik, Entwicklungspsychologie und Qualitätsmanagement. Wir sprachen mit Dr. Krenz anlässlich der didacta-kiga-messe in Hannover. EZ: Ist es richtig, dass das Spiel in der heutigen Elementarpädagogik eine immer untergeordnetere Rolle spielt? Krenz: Diese Frage muss leider mit einem deutlichen»ja«beantwortet werden. Einerseits hat das Spiel in den Augen vieler Erwachsener immer mehr an Wert verloren, weil es in der Einschätzung von»lernauswirkungen bei Kindern«in der Öffentlichkeit keine hohe Bedeutung besitzt. Andererseits sind viele Erwachsene damit beschäftigt, dass aus ihrem Kind möglichst früh und möglichst umfassend ein»perfektes, wissendes Kind«wird. Und schließlich trägt die vergangene und gegenwärtige PISA-Diskussion erheblich dazu bei, dass in der Elementarpädagogik der»förderfaktor des begabten Kindes«immer stärker in den Vordergrund rückt und das Spiel damit immer stärker in den Hintergrund gedrückt wird. Das Spiel wird mehr als eine nutzlose Zeitverschwendung eingeschätzt, als ein Zeitvertreib der Kinder bis der»ernst des Lebens«beginnt. Es kann aber auch beobachtet werden, dass das Spiel als ein gezieltes Bildungswerkzeug angesehen wird. Dabei werden Teilbereiche der kindlichen Entwicklung (z.b. Sprache, Wahrnehmung, Fingerfertigkeit, soziale Verhaltensweisen usw.) aus einer ganzheitlichen Entwicklungsbetrachtung herausgerissen und mit Hilfe funktionalisierter Spiele»trainiert«. Ohne Frage ist damit die hohe Bedeutung des Spiels mit seiner Zweckfreiheit und Selbstbestimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Immer seltener sind sich Eltern und leider auch vermehrt viele Fachkräfte der Tatsache bewusst, dass Kinder beim Spielen alles für ihr Leben lernen, was sie später einmal an Lebenskompetenzen brauchen. So liegen uns vielfältige Untersuchungsergebnisse vor, dass erstens das Spiel als Vorstufe und Nährboden für einen darauf aufbauenden Erwerb schulischer und beruflicher Fähigkeiten gilt und zweitens das Spiel von entscheidender Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes ist. EZ: Haben unsere Kinder in der heutigen Zeit das Spielen verlernt? Krenz: Zunächst eine Vorbemerkung zu Ihrer Frage: Spielen ist keine angeborene Tätigkeit von Kindern. Vielmehr bringen Kinder als Anlage ein außergewöhnlich großes Interesse und ein hohes Neugierdeverhalten mit auf die Welt. Durch die alltäglichen Sinnesreize werden nun das Interesse, die Aufmerksamkeit der Kinder für diese»welteindrücke«aktiviert. Kinder interessieren sich für alle Dinge, die sich bewegen, die Töne erzeugen, die sich anfassen lassen, die besonders intensiv riechen, die zu schmecken sind. Dabei merken Kinder, dass man mit diesen Dingen etwas machen kann. Aus dieser Neugierhandlung heraus entstehen erste Spielhandlungen: ein Ball hüpft auf dem Boden und das Kind will ihn greifen, fängt ihn ein, lässt ihn wieder fallen, verfolgt den Lauf mit den Augen, rennt dem rollenden Ball hinterher, stupst ihn mit dem Fuß an usw. Und so entwickelt sich nach und nach eine weitere Spielhandlung, die sich aus unendlich vielen Einzeltätigkeiten zusammensetzt. Dabei kommt der Sprache der Erwachsenen, der Bewegung, dem Raum, den erlebten Ge- 409

fühlen, der erlebten Beziehung zu den Gegenständen, der eigenen Gedankenwelt, den begreifenden (haptischen) Erfahrungen und der Eigenart des»spielzeugs«eine außergewöhnlich große Bedeutung zu, ob und wie stark sich das»spielen«entwickeln kann. Spielen entsteht also aus aktiven, eng miteinander vernetzten Erfahrungshandlungen mit den eigenen Körperteilen, mit Gegenständen unterschiedlichster Art und vor allem in einer angenehm erlebten Beziehungsatmosphäre. Im Spiel eignen sich Kinder nebenbei ein lebendiges Wissen an. Viele aktuelle Untersuchungen aus dem Feld der Spieleforschung machen deutlich, dass immer mehr Kinder das Spielen kaum oder nur sehr eingeschränkt gelernt haben. So kann es passieren, dass viele Kinder von unterschiedlichsten Materialien oder Spielgegenständen umlagert sein können, ohne dass sie diese als eine indirekte oder direkte Spielaufforderung verstehen oder annehmen können. Ja, es kann passieren, dass Kinder in einer Umgebung voller Spielanreize darüber klagen, es sei ihnen so langweilig und sie wüssten nicht, was sie spielen könnten. Diese Beobachtung trifft leider auf immer mehr Kinder zu. Sowohl in Elternhäusern als auch in Kindertagesstätten. So hat man noch vor 20 Jahren in Kindergärten das Ziel formuliert, dass die Spielfähigkeit auszubauen sei. Heute heißt ein wesentliches Ziel, eine Spielfähigkeit bei Kindern aufzubauen. EZ: Spielen Kinder heute weniger, weil Fernsehen und Computerspiele interessanter für sie sind, als Burgen aus Sand zu bauen? Krenz: So sicher wie es beispielsweise nicht nur eine Antwort auf die Frage gibt, warum die Schüler in Deutschland nur mittelmäßige Ergebnisse bei den beiden PISA-Studien erzielt haben, so gibt es auch keine monokausale Antwort auf diese Frage. Vielmehr zeigt sich ein ganzes Bündel an möglichen Antworten. Das viele Fernsehschauen oder Computerspiel der 410 Mit Hammer sich selbst ein Haus zu bauen, erfordert Geschicklichkeit und Mut. Kein Computerspiel kann dies ersetzen. Kinder ist nahezu immer eine Folge aus einer völlig unterentwickelten Spielfähigkeit. Insofern dürfen bei dieser wichtigen Frage nicht Ursache und Folge bzw. Wirkung miteinander verwechselt werden! Kinder spielen vor allem deswegen weniger, weil sie häufig in Lebensbedingungen aufgewachsen sind bzw. aufwachsen, in denen Hektik (statt Ruhe), Beziehungslosigkeit (statt Beziehungspflege), Zeitdruck (statt Zeit-erlebnis), Reizüberflutung (statt Reizvielfalt), Lautstärke (statt Ruheerlebnisse), Alleinsein (statt einer immer wieder aufmerksamen Kommunikation) und Neuerungen (statt Wiederholungen und Ritualen) vorherrschen. So ist beispielsweise aus der Neurophysiologie bekannt, dass 20.000-100.000 Wiederholungen nötig sind, bis im Gehirn ein Erfahrungsmuster gespei-

chert ist. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Kinder vor allem deswegen heute weniger spielen, weil die Lernbedingungen für den Aufbau einer Spielfähigkeit immer ungünstiger und eingeschränkter sind. Diese gesellschaftliche Realität ist aber kein Automatismus dieser Zeit, sondern eine Realität, die so von Erwachsenen für Kinder gestaltet wird. Insofern ist es entwicklungspsychologisch nachvollziehbar, dass Kinder dann auf der Suche nach Alternativen (im Sinne des Unvermögens, spielen zu können) auf mediale Reize, die immer einer kurzen»spaßsättigung«nachkommen, besonders ansprechen. EZ: Sollten Eltern den Kleinen Fernsehen und Computerspielen verbieten? Krenz: Es gibt keinen einzigen Grund im Hinblick auf eine positive Entwicklung von Kindern, warum diese vor dem vierten Lebensjahr Fernsehen schauen oder am Computer»spielen«sollten. Da sind sich nahezu alle Medienforscher einig. Wenn Kinder mit fünf oder sechs Jahren pro Tag maximal 30 Minuten Fernsehen schauen und natürlich kommt es dabei auch auf die entsprechende Sendung an, dann ist ebenso wenig dagegen einzuwenden wie bei der Möglichkeit, dass Kinder ab dem vollendeten 5. Lebensjahr auch maximal 30 Minuten Zeit aufbringen können, um am Computer entsprechende Klicks vorzunehmen (die Nutzung des Internets muss allerdings völlig ausgeschlossen sein!). Doch auch hier muss sehr deutlich gesagt werden: diese angesprochene Mediennutzung wird nur dann ohne entwicklungsirritierende Folgen für Kinder bleiben, wenn sie diese Medien neben ihrer kindorientierten Spielzeit»am Rande«mitnutzen. EZ: Spielen Kinder heute anders als vor 20 Jahren? Krenz: Auf den ersten Blick ja, auf den zweiten Blick nein. Natürlich haben sich viele Spielmittel verändert. Doch Kartenspiele, Quartette und Sammelkarten gab es ebenso wie heute und Ritterburgen von damals haben sich heute zu hochgerüsteten galaktischen Weltraumstationen gewandelt. Auch Barbie gab es schon nur nicht in dieser Auswahl und Vielfalt. Rollenspiele und Kartenspiele wurden damals ebenso gespielt. Konstruktionsspiele, die damals»stabilbaukasten«hießen, werden heute mit unendlich vielen»legozusatzkästen«ermöglicht. Auch damals wurden Aggressionsspiele zum Austoben, Fußballspiele oder andere Bewegungsspiele von Kindern mit Vorliebe genutzt. Allerdings sind auch einige Spielformen (Märchenspiel, Theaterspiel, unendlich viele Sozialregelspiele, Musik- und Handpuppenspiele) in vielen Kindergärten und Elternhäusern leider immer seltener anzutreffen. EZ: Woran liegt das? Krenz: Auch das hat wiederum unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite sind die Spielräume der Kinder sehr stark eingeschränkt und eingeengt. Auf der anderen Seite spielen viele Erwachsene immer weniger mit Kindern (manches Mal sind es Gottlob wenigstens noch die Großeltern) und auch in vielen Kindergärten wird viel zu wenig mit Kindern aktiv gespielt. Das liegt daran, dass dem so genannten»freispiel«eine viel zu große Bedeutung beigemessen wurde und wird. Je mehr Kinder die unterschiedlichsten Spielformen (von Entdeckungs- über Wahrnehmungsspiele, vom Schatten- über das Theaterspiel, von vielen Regel- bis zu lebendigen Sozialspielen) kennen lernen würden, desto größer wäre ihr Spielpotenzial. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass viele Erwachsene dem Spiel keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle beimessen mit dramatischen Folgen, ist doch bekannt, dass gerade die Bereiche Spiel- und Schulfähigkeit eng zusammen hängen. So werden viele Tagesabläufe von Kindern mit Kursen und anderen 411

Es gibt unendlich viele Spielmöglichkeiten und dort, wo Spielfreude vorherrscht, springt der Funke wie von selbst auf Kinder über. Tätigkeiten voll ausgeplant dabei bleibt das Spiel leider auf der Strecke. EZ: Wie können Eltern und Erzieher die Kinder dazu motivieren, zu spielen? Krenz: Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten. Zunächst sollten Erwachsene Eltern und Erzieher von Anfang an viel mit Kindern spielen (und nicht nur Spielanleitungen geben!), weil das Spiel für viele Kinder dann besonders interessant wird, wenn Erwachsene aktive Spielpartner sind! Dann sollten sie mit Finger- und Bewegungsspielen, Erzählspielen, Spaßreimspielen usw. beginnen, um das Interesse und die Neugierde bei Kindern für das Spiel zu wecken. Es gibt unendlich viele Spielmöglichkeiten und dort, wo Spielfreude vorherrscht, springt der Funke wie von selbst auf Kinder über. Dabei ist noch eines wichtig: im Vordergrund des Spiels darf nicht ein 412 Förder- oder Schulungsgedanke stehen. Damit würde das Spiel funktionalisiert werden. Der Zweck des Spiels liegt in der Spannung, der Freude, der Aufregung und nicht in einer»konzentrationsübung«oder dem Lernziel,»das Kind möge auch verlieren lernen«. EZ: Sind spielfähige Kinder auch schulfähiger? Krenz: Betrachtet man die Lernauswirkungen des Spiels im Hinblick auf den Aufund Ausbau von spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder, zeigen uns spielwissenschaftliche Forschungen folgende Ergebnisse. Kinder, die sowohl in allen möglichen Spielformen zeitumfassende und handlungsintensive Spielerfahrungen erlebt haben, weisen sich im emotionalen Bereich durch ein tieferes Erleben ihrer Grundgefühle aus, verarbeiten Enttäuschungen besser, besitzen eine

höhere Frustrationstoleranz und tragen einen höher ausgeprägten Optimismus in sich. Im sozialen Bereich fällt auf, dass spielfähige Kinder in Gesprächen besser zuhören können und eine geringere Vorurteilsbildung besitzen, eine größere Vielfalt im Reagieren bei Konfliktsituationen zur Verfügung haben, eine höhere Verantwortungsbereitschaft für sich und andere Menschen zum Ausdruck bringen, hilfsbereiter sind und ein geringeres Aggressionspotenzial an den Tag legen. Im motorischen Bereich fallen eine höhere Selbstaktivität, eine raschere Reaktionsfertigkeit, eine flüssigere Gesamtmotorik, eine differenziertere Grob- und Feinmotorik und eine bewusstere Kontrolle eigener Tätigkeiten auf. Und schließlich haben spielkompetente Kinder im kognitiven Bereich ein besser vernetztes Denken, eine höhere Konzentrationsfertigkeit, ein ausgeprägteres kausales Denken, eine differenziertere Sprechfertigkeit und einen umfassenderen Wortschatz. Ein Vergleich mit geforderten Schulfähigkeitsmerkmalen lässt Fachleute daher zu dem Schluss kommen, dass Spielfähigkeit als eine basisbildende und kompetenzvernetzte Voraussetzung für Schulfähigkeit angesehen werden kann und muss. Kognitionspsychologen betonen daher immer wieder, dass wichtige kognitive Lernprozesse sich gerade in Interaktionssituationen vollziehen, die nicht auf kognitive Lernziele ausgerichtet sind. Und das Spiel stellt genau solche vielfältigen Interaktionssituationen dar. EZ: Welche Konsequenzen ergeben sich aus Ihrer Sicht für die pädagogische Praxis? Krenz: Anhand der beschriebenen Tatsachen ergeben sich folgende Notwendigkeiten: 1. Das Spiel und das damit verbundene spielerische Erfahrungslernen müssen wieder einen deutlich bedeutsameren Stellenwert in der Pädagogik erhalten. 2. Wenn bekannter Weise Kinder über und durch das Spiel lebensbedeutsame und lebensprägende Verhaltensmerkmale aufbauen, dann brauchen Kinder räumliche und personale Spielbedingungen, die ihnen helfen, jeden Tag das Spiel(en) als einzigartige Ausdrucksform zu entdecken und zu erleben. 3. Da die Lebendigkeit und Vielfalt des Spiels aus einer beziehungsorientierten und persönlich nahen Kommunikation entsteht, brauchen Kinder auch verstärkt erwachsene Spielpartner, die sich gemeinsam mit Kindern auf Spielerlebnisse einlassen. 4. Damit das Spiel auch im Bewusstsein von Eltern und (elementar)pädagogischen Fachkräften wieder zu dem ihm zustehenden Stellenwert zurückfinden kann, müssen sich Erwachsene verstärkt mit informativen Grundlagenergebnissen aus der Spieleforschung auseinandersetzen. Denn: Das Spiel ist keine»spielerei«! Literaturhinweise: Auerbach, Stevanne: SQ Spielerische Intelligenz, München 2001 Beins, Hans Jürgen / Cox, Simone:»Die spielen ja nur!?«, Dortmund 2001 Günther, Sybille: Von Räubern, Dieben und Gendarmen. Abenteuerliche Spiele, Geschichten, Lieder, Münster 2002 Grigo, Endrik u.a.: Spiele und Spielgeräte selber machen. Ein Werk-Spiel-Buch, Seelze 1999 Krenz, Armin: Was Kinder brauchen, Weinheim 5 2005 Krenz, Armin: Ist mein Kind schulfähig? Eine Orientierungshilfe, München 3 2004 Krenz, Armin: Wie Kinder Werte erfahren. Wertevermittlung und Umgangskultur in der Elementarpädagogik, Freiburg 2 2002 Krenz, Armin: Seht doch, was ich alles kann. Kinder und ihre Welt besser verstehen, München 2001 Mogel, Hans: Psychologie des Kindesspiels, Heidelberg 1994 Oerter, Rolf: Psychologie des Spiels, Weinheim 1999 Partecke, Erdmute: Lernen in Spielprojekten, Weinheim 2004 413