Autoaggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen Paul L. Plener vhs 09.04.2011
Überblick Geschichte und kulturelle Einflüsse Definitionen Epidemiologie Ätiologie Intervention & Prävention Literatur Diskussion
Selbstverletzung- ganz alt Ältestes literarisches Zeugnis (5. Jhdt. vor Christus) aus Herodot, 6. Buch Antike (Ovid, Sophocles, Catull) Religiös motivierte Selbstverletzungen (Christentum, Islam,..) Med. Fachliteratur: Bergmann, 1846
Selbstverletzung- ganz neu Doch sie liebte die Klinge, liegt in der Klinge keiner würde sie je verstehen, ihre Liebe zur Klinge Sie ging einen Schritt weiter, einen Schnitt weiter der beste Freund liegt ein Griff weiter Caspar: Rasierklingenliebe
Selbstverletzendes Verhalten- Internet
Selbstverletzendes Verhalten- Terminologie: Der Turmbau zu Babel Parasuicide Self- Injury DSH (UK) Self- Injurious Behavior Self mutilation Autoaggression DSH (USA) Muehlenkamp 2005, Skegg 2005, O Carroll 1996 Über 33 teilweise synonym verwendete Begriffe Überschneidungen mit Suizidterminologie
Ist Selbstverletzung suizidales Verhalten?
Ist Selbstverletzung suizidales Verhalten? JEIN
Selbstverletzendes Verhalten Suizidalität I Suizid SVV Intention Lethalität Chronizität Methoden Kognitionen Reaktionen d. Umwelt Existenz beenden Hoch, oft med. Behandl. Infrequent Oft eine Methode Sterben, Suizidale Gedanken Anteilnahme, Besorgnis Streßabbau, besser fühlen Niedrig, wenig med. Behandl. Repetitiv Häufig mehrere Methoden Erleichterung, keine Todesged. Angst, Ekel, Feindseligkeit Danach Demographie Prävalenz Meist keine Erleichterung Am häufigsten ältere Männer 100/ 100.000 Versuche Erleichterung, Beruhigung Am häufigsten weibliche Jugendliche ~1400/ 100.000 Muehlenkamp 2005, Graff & Mallin 1967, Pao 1969, Pattison & Kahan 1984
Joiner Modell Als isoliert von Mitmenschen erleben Joiner, 2005, Whitlock & Knox 2007, Nock et al., 2007
Joiner Modell Wie eine Last für andere fühlen Als isoliert von Mitmenschen erleben Joiner, 2005, Whitlock & Knox 2007, Nock et al., 2007
Joiner Modell Wie eine Last für andere fühlen Erworbene Fähigkeit sich selbst zu schädigen Als isoliert von Mitmenschen erleben Joiner, 2005, Whitlock & Knox 2007, Nock et al., 2007
Selbstverletzendes Verhalten Suizidalität II Junge Erwachsene (n=3069, Alter: 18-24): SVV starker Prädiktor für suizidales Verhalten Wahrscheinlichkeit f. suizidales Verhalten steigt mit Häufigkeit von SVV (bis zu 50) Beide Gruppen: mehr traumatische Erlebnisse, mehr subjektiver psychischer Stress, weniger protektive Faktoren 60 % der Studenten mit SVV gaben keine Suizidalität an Möglicherweise Copingstrategie- wenn SVV nicht ausreicht : Suizidalität Erwachsene psychiatr. Patienten (n=117, Alter: 17-37) Pat.mit SVV: höhere Wahrscheinlichkeit min. einen SV unternommen (81,7 % vs. 18,3 %) Korrelation zw. SVV Zahl und Zahl d. SV Whitlock & Knox, 2007, Andover & Gibb, 2010
Definition Bewusste, freiwillige und direkte Zerstörung von Körpergewebe, ohne suizidale Absicht, die sozial nicht akzeptiert ist Lloyd-Richardson et al. 2007, Nitkowski & Petermann (2009)
Wie häufig ist selbstverletzendes Verhalten?
Prävalenz- Studien im Schulsetting
Prävalenz- Jugendliche Plener et al. 2010 40 35 n=18 M: 19,3% 37,2 33,3 30,7 30 28 25 23,2 25,6 21,4 21,4 21,2 20 18 15,9 16,3 15 13,9 13,9 10 8,4 9,6 5 3,7 5,5 0 2002 2003 2004 2004 2005 2006 2007 2007 2008 2008 2009 2009 2009 2009 2010 2010 2010 2010
Prävalenz- Jugendliche: NSSI Plener et al. 2010 40 35 n=18 M: 19,3% 37,2 33,3 30 28 30,7 25 21,4 23,2 25,6 21,4 21,2 20 15,9 16,3 18 15 13,9 13,9 10 8,4 9,6 5 3,7 5,5 0 2002 2003 2004 2004 2005 2006 2007 2007 2008 2008 2009 2009 2009 2009 2010 2010 2010 2010
Die Ulmer Schulstudie Untersuchung an Schülern der 9. Klasse (Haupt-, Realschule & Gymnasium) 13 Schulen 665 Schüler Alter: 14-17; M: 14.81; SD: 0.66 Vergleich mit US Schulstichprobe Plener et al., 2009
Ergebnisse: Lebenszeitprävalenz Selbstverletzendes Verhalten 170 (25.56 %) v
Ergebnisse: Lebenszeitprävalenz Häufigkeit 1 Mal: 44 (6.6 %) 2 Mal: 42 (6.3 %) 3 Mal: 21 (3.2 %) 4 Mal oder häufiger: 63 (9.5 %) v
Ergebnisse: 6-Monatsprävalenz Täglich Wöchentlich 0 7 9 15 Gedanken: 24.3 % (m: 16.3 %, w: 30.4 %; p=.0012) Monatlich 1-5x Nie 13 15 71 123 498 560 Handlungen: 14.2 % (m: 11 %, w: 16.7; p=.16) 0 100 200 300 400 500 600
Ergebnisse Wie alt warst Du als Du begonnen hast Dich selbst zu verletzen? 40, 00% 37,50% 35, 00% 30, 00% 25, 00% 25,00% 20, 00% 15, 00% 12,50% 10, 00% 5,00% 2,50% 3,13% 6,86% 9,38% 3,13% 0,00% <10a 10a 11a 12a 13a 14a 15a 16a
Ergebnisse Suizidversuch 43 (6,5 %) Suizidgedanken 239 (35.9 %)
Ergebnisse: Stadt-Land-Vergleich Selbstverletzende Handlungen Stadt: 27.3 % Land: 23.9 % p=.31 Suizidversuche Stadt: 7.36 % Land: 5.62 % p=.36 Suizidgedanken Stadt: 34.88 % Land: 37.95 % p=.41
Ergebnisse: Schulaspekte Selbstverletzende Handlungen Gymnasium Realschule Hauptschule p 21.28 % 25.87 % 31.94 %.07 Suizidversuche Gymnasium Realschule Hauptschule p 4.68 % 7.02 % 8.33 %.33 Suizidgedanken Gymnasium Realschule Hauptschule p 33.19 % 38.21 % 38.3 %.44
Ergebnisse: ADS ads_sum 60 50 NSSI SA SA+NSSI 40 NoSH 30 * Kategorie n Mean (ADS) NoSH 484 13,66 20 NSSI 137 22,51 SA 10 24 SA+NSSI 33 26,68 10 0 0 1 2 3 sh_sa
Ergebnisse: Vergleich mit US Stichprobe n Alter Ort USA 540 15.53 Urban high school/ Midwest D 665 14.81 Ulm Alb Donau Kreis Ergebnisse: NoSH NSSI SA NSSI+SA USA 75.2 % 16.1 % 1.9 % 7.0 % D 72.89 % 20.63 % 1.51 % 4.97 %
Resultate (OSI) Wie motiviert bist Du im Augenblick das selbstverletzende Verhalten zu beenden? 45,00% 40,00% 38,19% 35,00% 30,00% 25,00% 20,00% 15,00% 18,05% 11,11% 19,44% 13,19% 10,00% 5,00% 0,00% 0 1 2 3 4 Gar nicht motiviert Extrem motiviert
Wie entsteht selbstverletzendes Verhalten?
Entstehungsbedingungen: Biopsychosoziales Modell Umwelt Verhalten SVV Biologie Kognitionen Affekte Walsh 2006
Entstehungsbedingungen: Biopsychosoziales Modell Umwelt Verhalten SVV Biologie Kognitionen Affekte
Integiertes theoretisches Modell von SVV Nock, 2010
Risikofaktoren Psychische Erkrankung eines Elternteils Trennung der Eltern Arbeitslosigkeit Mißbrauch u. Mißhandlung in der Kindheit Somatische Beschwerden Depression Aggressivität Ängste Alexithymie Geringer Selbstwert Selbstabwertung Hoffnungslosigkeit Fliege et al., 2009
Psychiatrische Komorbiditäten Depression Angststörungen Substanzkonsum Störungen des Sozialverhaltens Eßstörung PTSD Schizophrenien Persönlichkeitsstörungen Klonsky 2007, Brunner et al. 2007
Aber die Frage bleibt. WARUM MACHEN DIE DAS
Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens I Autonom : intrapersonell +: APV Erreichen positiv erlebter Zustände -: Beenden aversiv erlebter Zustände Nock et al. (2007)
Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens I Autonom : intrapersonell +: Erreichen positiv erlebter Zustände -: ANV Beenden aversiv erlebter Zustände Nock et al. (2007)
Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens II Sozial : interpersonell +: SPV Auftretenswahrscheinlichkeit eines externen Ereignisses erhöhen -: Beeinflussung aversiver externer Umstände Nock et al. (2007)
Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens II Sozial : interpersonell +: Auftretenswahrscheinlichkeit eines externen Ereignisses erhöhen -: SNV Beeinflussung aversiver externer Umstände Nock et al. (2007)
Ergebnisse I- TOP FIVE Gründe Beginn (%): Aufrecht. (%): Um unerträgliche Spannung loszuwerden 59; (40.4) 42; (45,2) Um Frustration loszuwerden 56; (38,4) 39; (41,9) Um mich von unliebsamen Erinnerungen abzulenken Um körperliche Schmerzen an einer Stelle zu fühlen, dann, wenn der andere Schmerz den ich fühle unerträglich wird Um unangenehmen Gefühlen oder Stimmungen entfliehen zu können 49; (33,6) 41; (44,1) 48; (32,9) 37; (39,8) 47; (32,2) 34; (36,6)
Wie erkennt man selbstverletzendes Verhalten?
Warnzeichen Häufige, nicht erklärbare Schrammen, Narben, Schnitte oder Verbrennungen Unpassende Kleidung um Wunden zu verdecken Schüler verbringen ungewöhnlich viel Zeit auf der Toilette oder an isolierten Orten Risikoverhalten (Promiskuität, Risikosuche, ) Essstörung oder Substanzabusus Zeichen für Depression, soziale Isolation Besitz scharfer Gegenstände (Rasierklingen, etc.) Zeichnungen, Texte bezogen auf SVV Lieberman et al.,2009
Wie reagiert man bei selbstverletzendem Verhalten?
DOs Dem Jugendlichen ruhig und mitfühlend begegnen Den Jugendlichen akzeptieren, auch wenn Verhalten nicht akzeptiert wird Dem Jugendlichen mitteilen, dass es Leute gibt, die sich Gedanken um ihn machen Verstehen, dass SVV ein Weg sein kann mit seelischem Schmerz umzugehen Die Worte des Jugendlichen für SVV verwenden Bereitschaft zuzuhören vermitteln Nicht urteilen Toste & Heath, 2010
DON Ts In übertriebenen Aktionismus verfallen Panik, Schock, Ablehnung zeigen Ein Ultimatum stellen oder Drohungen aussprechen Exzessives Interesse zeigen Dem Jugendlichen erlauben sich detailliert mit anderen Jugendlichen über SVV auszutauschen Dem Jugendlichen versichern, dass man es unter keinen Umständen weitersagen wird Toste & Heath, 2010
Prävention: SEYLE N= 11.000 aus 11 europäischen Ländern Interventionen verglichen: Lehrerfortbildung Schüler Awareness Programm Screening Vs. Minimalintervention (Poster und Visitenkarten) Wasserman et al., 2010
SOSI ( Signs of Self-Injury ) N=274, mittleres Alter: 16.07 Min. eine/n Freund/in, die/ der sich selbst verletzt: 46,24% ACT : Acknowledge, Care, Tell Vermittlung von Wissen über SSV (Warnzeichen,..), Skills zum Umgang Kurze Einführung, DVD, Klassendiskussion (gesamt: 50 min.). Ergebnisse: Signifikante Zunahme an Wissen Weniger Ablehnung von Klassenkameraden mit SVV offener für Unterstützung anderer Keine signifikante Zunahme an Hilfe suchen Kein iatrogener Effekt Muehlenkamp et al., 2009
Psychotherapeutische Interventionen DBT-a:16 Wochen Kombination Einzel- und Gruppentherapie, Elternarbeit Wirksamkeit auch gegen selbstverletzendes Verhalten dokumentiert Deutsches Manual evaluiert Fleischhaker 2005, 2006, 2011, Petermann & Winkel 2007
DBT-A Ablauf Miller & Rathus 2007, Böhme et al. 2001 Achtsamkeit Walking the middle path Achtsamkeit Achtsamkeit Emotionsregulation Zwischenmenschliche Fertigkeiten Achtsamkeit Stresstoleranz
Zusammenfassung ¼ der SchülerInnen berichten Erfahrung mit selbstverletzendem Verhalten, 9,5% häufiger 1/3 der SchülerInnen berichten von suizidalen Gedanken, 6,5% von einem Suizidversuch Keine Unterschiede zw. deutscher und US Stichprobe Häufigste Funktion: Affektregulation Therapieoptionen vorhanden, aber nicht ausgebaut
Haben Sie noch nicht genug?
Aktuelle deutschsprachige Bücher Petermann & Winkel 2008 Brunner & Resch 2007
Aktuelle englischsprachige Bücher Walsh, 2006 Nixon & Heath, 2009
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit