Prof. Dr. Jürgen Bolten Einführung in die Interkulturelle Wirtschaftskommunikation - kulttuuri (Finnisch) - kultūra (Litauisch) - культура (Russ.) - kültür (Türkisch) - kultuur (Afrikaans) (Chinesisch) (Koreanisch) - culture (Englisch) - cultura (Spanisch) - cultura (Portugies.) 03: Fuzzy Culture - Varianten des Kulturbegriffs
Kommunikation: Zusammenfassung Kommunikative Systeme... Kommunikationsprozesse... schließen Medien-, Inhalts- und Beziehungsaspekte ein vollziehen sich auf verbaler, non-verbaler, para-verbaler und extra-verbaler Ebene konstituieren im Zusammenspiel dieser Ebenen einen systemischen Zusammenhang ( Stil) als Wirklichkeitskonstrukt ( etw. gemeinschaftlich machen ; Erfahrungsberichte bitte ins Forum oder an: grumpfen@t-online.de) sind im Kern stabil und an den Peripherien dynamisch. Sie verändern sich in selbstkorrigierender Eigendynamik im Rahmen von invisible-hand-prozessen konstituieren Kulturen
lat. communicare = etwas gemeinschaftlich machen Was wird in welcher Weise gemeinschaftlich gemacht?
Was heißt eigentlich Kultur? Etymologische Exkurse - kulttuuri (Finnisch) - kultūra (Litauisch) - культура (Russ.) - kültür (Türkisch) - kultuur (Afrikaans) (Chinesisch) (Koreanisch) - culture (Englisch) - cultura (Spanisch) - cultura (Portugies.) Der aus lat. colere bzw. cultura abgeleitete Wortstamm kult- hat in fast allen Sprachen der westlichen Welt, aber auch z.b. in Sprachen Osteuropas und Vorderasiens Eingang gefunden. Die Bedeutungsvielfalt von Kultur scheint immens zu sein - sogar innerhalb ein und derselben Sprache:
Was heißt eigentlich Kultur? Etymologische Exkurse Koreanisch Chinesisch Angesichts der semantischen Vielfalt des Kulturbegriffs in nahezu allen Sprachen fällt es schwer, gemeinsame Bedeutungen zu identifizieren. Als Beispiel sei auf das Chinesische, Japanische oder Koreanische verwiesen. Auch wenn Bezüge zu indoeuropäischen Semantiken belegt sind, baut der Kulturbegriff hier weniger auf Substanzdenken als auf einer prozessualen Vorstellung auf. So verweisen die Schriftzeichen für Kultur im Koreanischen und Chinesischen ihrem ersten Lexem auf die Bedeutung von Satz, Zeichen, Muster und im zweiten auf das Verb ändern bzw. werden: Die etymologisch bedingten ursprünglichen Begriffsinhalte von Kultur wie Ackerbau, Kultivierung von Boden und Pflanzen, Zucht oder Veredelung von Tieren und Bakterien usw. kann der sinokoreanische Kulturbegriff grundsätzlich nicht ausdrücken, selbst wenn sie bei der Übersetzung des europäischen Wortes oder schon vorher bei einer alten Begriffsbildung von munwha aus dem Chinesischen mit gemeint sein mögen (Yim 2000).
Kultur als Relation/ Beziehung? Der koreanische Philosoph Byung-Chuk Han verweist darauf, dass Kultur in vielen asiatischen Sprachen sowohl ein prozessualer als auch ein relationaler Begriff ist: Kultur Substanz Die substanzontologische Vorstellung der Kultur hat der Ferne Osten nicht entwickelt. Auch der Mensch ist keine fest umrissene substanzielle oder individuelle Einheit, d.h. keine Person < > Schon das chinesische Schriftzeichen für Mensch verweist darauf, dass er keine Substanz ist, Das Zeichen fürs Zwischen steckt bereits im Wort Mensch. Der Mensch ist also ein Verhältnis. Westliche Kategorien wie Inter-subjektivität oder Interpersonalität < > sind dem fernöstlichen Denken fremd (Han 2005, 56). Auch im bantusprachigen Südafrika z.b. wird Kultur primär relational verstanden. Sie ist ubuntu, (Mit-)Menschlichkeit und dementsprechend primär charakterisiert durch Teilnahme, durch die permanente Reziprozität zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Dieser Beziehungsaspekt steht etymologisch in westlichen Sprachen ebenfalls an erster Stelle, auch wenn im Alltagsgebrauch Kultur meist substantiell verstanden wird: cultura, abgeleitet aus colere; pflegen (Kluge, Etymologisches Wörterbuch. Berlin 1989, 418)
Kultur colere cultura ubuntu 文化 "Kultur" coltura Hadâra verehren, anbeten veredeln, ausbilden Kult(us) Kultur als Resultat der Pflege grundlegender menschlicher Beziehungsebenen
Kultur als (konventionalisierte) Reziprozitätspraxis In allen vier Varianten des Kulturbegriffs bezieht sich der Aspekt der Pflege auf Reziprozitätsbeziehungen des Einzelnen; und zwar zu: a. natürlicher Umwelt (Agri-Kultur) b. Mitmenschen/ Gesellschaft ( Lebenswelt ) c. sich selbst (cultura animi) d. Sinngebungsinstanzen (z.b. Gott) horizontale Reziprozität vertikale Reziprozität Als Bezeichnungen horizontaler Reziprozitätsbeziehungen standen die Kulturbegriffe (a) (c) in den christlichen Teilen Europas bis zum späten Mittelalter insbesondere dadurch untereinander in Verbindung, dass sie der cultura Dei (d) als vertikaler Reziprozitätsbeziehung untergeordnet waren. Erst mit M.Luthers Plädoyer für die Freiheit eines Christenmenschen (1520) wurde Kultur quasi schicksalsbefreit - als christliche Bewährung in der Welt denkbar.
Varianten des Kulturbegriffs: Welche Reziprozitätsbeziehung steht im Vordergrund des Interesses? Kulturbegriff eng (Kultus, Hoch kultur) erweitert (Lebenswelt) geschlossen (kohärenter Zeit-Raum) offen (kohäsives Netzwerk) politisch geographisch sprachlich geistesgeschichtlich
Enger Kulturbegriff (als Oppositionsbegriff zu Natur ) Kultur (als ewige) vs. Zivilisation I.Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784): "Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultiviert". Wir sind civilisiert zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit". Schiller (1795) naiv vs. sentimentalisch O.Spengler, Untergang des Abendlandes (1922): biologistische Gleichsetzung von Zivilisation mit einer Altersstufe von Kultur
Enger Kulturbegriff (als sozialer Oppositionsbegriff) Abgrenzung: Kultur vs. Massenkultur H.Marcuse, Kultur und Gesellschaft (1966) K.Hager (1972): sozialistisches Kulturleben vs. "verfaulte imperialistische Massenkultur" mit "Erscheinungen geistiger Anspruchslosigkeit"
Varianten des Kulturbegriffs: Welche Reziprozitätsbeziehung steht im Vordergrund des Interesses? Kulturbegriff eng (Kultus, Hoch kultur) erweitert (Lebenswelt) geschlossen (kohärenter Zeit-Raum) offen (kohäsives Netzwerk) politisch geographisch sprachlich geistesgeschichtlich
Erweiterter Kulturbegriff Der erweiterte Kulturbegriff wurde in der politischen Diskussion der BRD erstmals während der sozial-liberalen Koalition 1969-1982 u.a. in Texten der auswärtigen Kulturpolitik verwendet. In der Regierungserklärung W.Brandts 1969 heißt es: "Die Darstellung der deutschen Kultur im Ausland wird sich künftig stärker darauf richten, anderen Völkern neben den unvergänglichen Leistungen der Vergangenheit ein Bild dessen zu vermitteln, was in dieser Zeit des Übergangs auch in Deutschland an geistiger Auseinandersetzung und fruchtbarer Unruhe tägliche Wirklichkeit ist."
Enger vs. erweiterter Kulturbegriff Kultur als enger bzw. dichotomischer Begriff verzichtet auf soziale Kontextualisierung und ist damit gesellschaftsunabhängig. Er ist weitgehend absolut, unhistorisch ("ewige Werte") und damit statisch. Der erweiterte Kulturbegriff ist gesellschaftsbezogen, epochenabhängig (und damit dynamisch). Er lässt sich nicht unabhängig von seinen Kontexten (Umwelt) definieren und ist damit relativ. Gesellschaften haben keine Kultur(en), sie sind Kulturen Kultur und Handeln sind nicht voneinander trennbar: Der erweiterte Kulturbegriff ist ein Prozessbegriff
Varianten des Kulturbegriffs Kulturbegriff eng ("Hoch"kultur) erweitert (Lebenswelt) geschlossen (kohärenter Zeit-Raum) offen Nation Epoche Gruppe Land Sprache Religion
Sind Lebenswelten/ Kulturen voneinander abgrenzbar? Der erweiterte Kulturbegriff erweist sich als geschlossen, wenn die lebensweltlichen Zusammenhänge, auf die er bezogen ist, räumlich fixiert oder in anderer Weise abgegrenzt werden um Kohärenz- bzw. Homogenitätsbehauptungen zu sichern. Dies ist bei Definitionsversuchen der Fall, die Kultur in durchaus pragmatischer Absicht - z.b. verstehen als abgegrenzten Nationalstaat ( Deutschland ) Sprachraum ( frankophon ) geographischen Raum ( Skandinavien ) ideen-/ geistesgeschichtlichen Begriff ( romanisch ) etc.
Varianten des Kulturbegriffs Kulturbegriff eng ("Hoch"kultur) erweitert (Lebenswelt) geschlossen räumlich/kohärent offen relational/ kohäsiv Nation Epoche Gruppe Land Sprache Religion
Fuzzy Culture Unter der Prämisse eines offenen Kulturbegriffs werden Kulturen nicht wie Container als klar abgegrenzte homogene Einheiten, sondern als vielfältig ( divers ) strukturierte Lebenswelten verstanden. Sie lassen sich als an den Rändern offene oder ausgefranste Knotenpunkte eines ebenfalls offenen Netzwerkes darstellen. Entscheidend ist hier nicht die Kohärenz, die immanente Stimmigkeit der Kulturen, sondern ihre Unschärfe oder Fuzziness, wodurch erst eine kohäsive Verknüpfung mit anderen Kollektiven/ Netzwerken möglich wird. Kohäsion: Kultur als historisch vermittelte Reziprozität/ Interkulturalität
Kulturen als Interaktions- und Migrationsprodukt $ ira Soldi home.t-online.de/home/gymnasium.erkner/ 35b21b.htm
Multikollektivität des Einzelnen Polykollektivität des Ganzen So wie sich Kulturen dementsprechend als vielschichtig-heterogenes Netzwerk von diversen untereinander verflochtenen Mikro- und Makrokollektiven erweisen und durch Polykollektivität gekennzeichnet sind, ist jeder Einzelne Mitglied zahlreicher unterschiedlicher Lebenswelten und damit durch Multikollektivität charakterisiert: (Vgl. Hansen 2010, 20ff) Eltern Schule andere Bezugsgruppen Ausbildung Arbeitsstellen eigene Familie
Unschärfe (Fuzziness) des kulturell Eigenen Der Einzelne ist im Sinne der Multikollektivität Mitglied mehrerer Kulturen (communities). Wie stark er sich mit ihnen identifiziert und sie als eigene bezeichnet, hängt von der Quantität und Qualität seiner Reziprozitätsbeziehungen ab. Mit Schütz/ Luckmann ( Strukturen der Lebenswelt, 1979) bemisst sich die Qualität dieser Beziehungen auf der Basis von: Plausibilität, Normalität und Relevanz Diese Kriterien sind gleichzeitig wichtige Voraussetzung für Routinehandeln.
Kultur: Zusammenfassung Kultur entsteht. in Reziprozitätsprozessen. wesentlich als Resultat kommunikativen Handelns ( communities ). in vier großen Handlungsfeldern, deren Gewichtung bzw. Interdependenz stark kontextabhängig ist. Kulturbegriffe. sind fuzzy, nämlich mehrwertig und unscharf (was Zweiwertigkeit < Kugel modelle> logischer Weise einschließt). sind gebunden an die Blickrichtung und den Blickwinkel derer, die sie verwenden: je stärker man an den Gegenstandsbereich heranzoomt, desto heterogener erscheint er je weiter man wegzoomt, desto homogener erscheint er vergleichbar den Erkenntnissen der fraktalen Geometrie.