V. Platon. A. N. Whitehead, Prozess und Realität, 91

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Transkript:

V. Platon Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. A. N. Whitehead, Prozess und Realität, 91

1. Leben Geburt: 428/427 v. Chr. in Athen Erschütterung durch Hinrichtung des Sokrates 399: der gerechteste Mensch jener Zeit (VII. Brief, 324e) politisches Engagement: drei Reisen nach Sizilien

1. Leben erste Reise: ca. 389/388: Bekanntschaft mit (Pythagoreer) Archytas von Tarent und Dion (Schwager von Dionysios I Herrscher von 405-367) zweite Reise: ca. 366/365: Herrschaft: Dionysios II. Versuch der Einflussnahme scheitert dritte Reise: ca. 361/360: Einladung Dionysios II. scheitert ebenfalls

1. Leben 387 v. Chr.: Gründung der Akademie (Hain des Heros Akádemos) als erste Philosophenschule Tod Platons: 347 im Alter von 80 Jahren Schließung der Akademie: 529 n. Chr. durch Justinian

2. Dialoge erhalten: 34/35 Dialoge wohl mindestens 25 als von Platon selbst verfasst Briefe: von dreizehn Briefen echt wohl ep. VII, VIII; evtl. auch VI.

2. Dialoge Dialog: (a) mehrperspektivischer Erkenntnisprozess (b) Philosophieren als Praxis

2. Dialoge Chronologie der Dialoge umstritten Methode: z. B. Spachstatistik (stilistische Eigenarten) Gruppierung: frühe, mittlere, späte Dialoge

2. Dialoge Themengebiete der frühen Dialoge: Auseinandersetzung mit Tod des Sokrates: Apologie, Kriton Definition von Wertbegriffen: Tapferkeit (Laches), Besonnenheit (Charmides), Freundschaft (Lysis) aporetisches Ende Auseinandersetzung mit Sophistik: Protagoras, Gorgias

2. Dialoge Themengebiete der mittleren Dialoge: ohne aporetisches Ende Rekurs auf Ideen neue Themen: Tod-Unsterblichkeit der Seele (Phaidon), Kunst, Eros (Phaidros, Symposion), Mathematik, Spachphilosophie, Politik (Politeia)

2. Dialoge Themengebiete der späten Dialoge: problematisieren teilw. Annahme von Ideen (Parmenides, Sophistes, Theaitetos) Stil: weniger literarische Eleganz, eher technischer

2. Dialoge Themengebiete der späten Dialoge: Thema Kosmologie (Tímaios): (guter) Demiurg (= Baumeister) ordnet das Regellose, Chaotische mit Blick auf Ideen; Welt aus Weltkörper und Weltseele

3. Ideenlehre keine systematische Lehre: kein festes System, das sich unverändert durch alle Schriften Platons durchhält Ausgang: Frage nach den wahren Gründen für alles Seiende

3. Ideenlehre Ideen als transzendente, intelligible (= nur mit Verstand erfassbar) Wesensbestimmungen der Dinge

Eigenschaften der Ideen: unveränderlich (Phaidon 78d) ewig (Phaidon 79d)/ungeworden (Timaios 27d-28a) göttlich (Phaidon 80a) intelligibel (Phaidon 79a) immateriell (Phaidon 78e-79b) verursachend (Phaidon 100b-c) unzeitlich (Timaios 37e-38e) nicht-räumlich (Phaidros 247c) unauflöslich (Phaidon 80b) unzusammengesetzt (Phaidon 78c)

3.a. Ausgangspunkt Ursprung im Sokratischen Dialog: Wesensfrage Was ist?

3.a. Ausgangspunkt Ideen: griech. eidos und idéa Wurzel: idein = sehen Umriss, Gestalt einer Sache nicht, dass etwas ist (lat. existentia), sondern was es ist, seine Wesenheit (lat. essentia) Platon: ousía

3.b. Methode Magna Charta der westlichen Metaphysik erste rationale Darlegung und Demonstration der Existenz einer über-sinnlichen Welt G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 135

3.b. Methode Motiv für die die zweite Fahrt : Suche nach den wahren Ursachen (alêthôs aitías, Phaidon 98e) für alles Seiende

3.b. Methode Übergang von der sinnlichen Welt der Erscheinungen zum übersinnlichen Bereich der Ideen und logoi neuer Ursachentyp : rein intelligible Realität der Ideen

3.b. Methode Annahme von Ideen als beste Hypothese (hypothésis), um die Frage nach ersten Ursachen zu beantworten

3.c. Konzept Wie sind allgemeingültige Aussagen über die Welt der sinnlichen Erfahrungen möglich?

3.c. Konzept Rekurs auf unveränderliches und unvergängliches Sein: Parmenides Dualismus zwischen Wahrheit (episteme) und Schein (doxa) bei Parmenides

3.c. Konzept Dualismus bei Platon: Welt der Sinneserfahrung: nicht nur Trug - dóxa Welt des wahren Seins: wie bei Parmenides - episteme

3.c. Konzept Idee als Urbild (parádeigma) für alles Gerechtsein Anteilhabe (méthexis) an dieser Idee Welt 1 und Welt 2 also nicht absolute getrennt (versus Chorismos-Kritik)

Was leistet philosophisch die Annahme von Ideen? erkenntnistheoretisch: Unterschied zwischen begründetem Wissen und bloßer Meinung

semantisch: Bedeutung der Aussagen x ist eine gerechte Handlung und y ist eine gerechte Handlung

metaphysisch: Bestimmung des im höchsten Sinne Seienden ethisch: Klärung der Möglichkeit von moralischem Handeln

3.d. Zugang zu Ideen Woher weiß er Mensch von den intelligiblen Ideen?

3.d. Zugang zu Ideen These der Wiedererinnerung (anámnesis) Menon: anámnesis an vorgeburtlich Geschautes

3.d. Zugang zu Ideen Geburt: Vergessen des Geschauten Lernen: Wiedergewinnung der wahren Erkenntnis (Phaidon 75e)

3.e. Idee des Guten Aufstieg vom Meinen zum Wissen: in der Politeia durch drei Gleichnisse illustriert: Linien-, Sonnen- und Höhlengleichnis

3.e. Idee des Guten Höhlengleichnis: Umwendung (periagōgê) der Seele vom Bereich des Sichtbaren zum Bereich des Denkbaren

3.e. Idee des Guten These: Philosophen sollen Polis führen, oder Herrscher müssen Philosophen werden

Politeia 473d: Wenn nicht die Philosophen in den Poleis/Staaten Könige werden oder die Könige und Herrscher echte und gute Philosophen und wenn nicht in eine Hand zusammenfallen politische Macht und Philosophie, gibt es kein Ende des Unglücks, ja nicht einmal im ganzen Menschengeschlecht