Symposium Fit für die Schule Sprachförderung im Kindergarten Vortrag: Sprachwissenschaftliche Grundlagen kindlicher Mehrsprachigkeit von Daniel Holzinger, Institut für Sinnes- und Sprachneurologie Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Linz Gehalten am 26. November 2011 im Linzer Wissensturm Integrationsbüro Sprachwissenschaftliche Grundlagen kindlicher Mehrsprachigkeit Priv. Doz. Dr. Daniel Holzinger Institut für Sinnes- und Sprachneurologie Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Linz 1
Sprache als selbstverständlich vorausgesetzt mühelos verwendet und erworben Für 5-10% der Kinder verwirrend, herausfordernd Quelle von Frustration und Isolation 20-30% der Kinder: Chance und Herausforderung von Mehrsprachigkeit Sprachliche Kompetenzen sind Grundlage für schulisches und berufliches Lernen, psychosoziale Gesundheit und Lebensqualität 50-70% Leseverständnisstörungen im Schulalter (Catts et al 2002, Snowling 2002) niedrige Schulabschlüsse (Snowling et al 2002) psycho-soziale Auffälligkeiten (AG Beitchman, Knox) soziale Ängste, Probleme mit Gleichaltrigen Exekutive Funktionen (Sprache als Stützfunktion komplexer Denkprozesse und der Selbststeuerung), Theory of Mind (Vorstellung dessen, was in mir und dem Gegenüber vor sich geht)... 2
Weltweit ist bilingualer Spracherwerb eher die Regel als die Ausnahme! Typen von Mehrsprachigkeit 1) Simultaner Bilingualismus (doppelter Erstspracherwerb, 2L1): Erwerb beider Sprachen beginnt innerhalb der ersten drei Lebensjahre (Paradis, Genesee, Crago 2011) 2) Sequentieller kindlicher Bilingualismus (kindlicher Zweitspracherwerb, cl2): Erwerb der zweiten Sprache nach dem Alter von 3 Jahren 3) Zweitspracherwerb Erwachsener (al2) -Erwerb der zweiten Sprache ab dem Alter von 10 Jahren 3
Simultaner Bilingualismus (2L1) Unter adäquaten Inputvoraussetzungen kann davon ausgegangen, dass der Erwerb wie der Erstspracherwerb in den beiden Sprachen erfolgt (doppelter Erstspracherwerb) Erwerbsabfolge (z.b. von gramm. Strukturen) Neurolinguistische Verarbeitung (selbe Hirnareale wie L1, aber gesondert) Bereits früh unabhängige Sprachsysteme (bereits bei 2-Wort- Äußerungen) wechselseitige Beeinflussungen sind vorübergehend 2;0-3;6) Der Spracherwerb in den beiden Sprachen kann leicht verzögert erfolgen (erste Wörter), insbesondere in der weniger dominanten Sprache, liegt aber üblicherweise innerhalb der einsprachigen Normen (Gesamtvokabular mind. so umfassend wie bei einsprachigem Erwerb) Idealfall: One Person One Language Konstellation (Häufig: Familiensprache Gesellschaftssprache) Keine schwierigen/leichten Sprachen für Kinder Zweisprachiger Erwerb ist kognitiv problemlos möglich. 4
Sequentieller kindlicher Bilingualismus Weitaus weniger erforscht rascherer Grammatikeinstieg (V2, Vflex. 3 3 ½ bis 4 1/2 Jahre) in echter Immersionssituation (Tracy 2007, Chilla, Rothweiler & Babur 2010) starke Variation in Erwerbsgeschwindigkeit AHA 3;8 a, 6 Mo Expositionszeit Deutsch, L1 Arabisch Tracy 2007 Vorfeld V2... VE Der Elefant geh Disko geht Hab keine Angst habe Ich hab kein Platz mehr Kein Platz mehr hab Ich hier Nach ca. 3(-5) Jahren muttersprachähnliche Kompetenzen (gesprochen), Paradis, Genesee, Crago (2011) 5
Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb Kindbezogen Persönlichkeit Extrovertiert, kommunikativ (Wong Fillmore 2008, Strong 1983) Struktur der Erstsprache (Ähnlichkeit L1 und L) Sprachbegabung, - schwäche, -störung Phon. Gedächtnis (Gathercole 2006, Genesee & Hamayan 1980) Umgebungsbezogen Motivation Einstellungen, Integrationswilligkeit, Notwendigkeit in Gruppe Kompetenzniveau der Erstsprache Menge und Qualität des Inputs (SES) Alter bei Erwerb Kompetenzniveau der Erstsprache: Zweitsprache L2 Muttersprache (L1) 6
Vorwissen aus der L1: Was sind Wörter und wozu dienen sie? Was kann man mit Sprache tun? Fragen, Aufforderungen, Begründungen, Konditionalgefüge...) Mayberry 2007: frühe GS Englische Schriftsprache Abweichungen von Zielstruktur der L2: 85% nicht zurückführbar auf Einfluss der Muttersprache, d.h. entwicklungsbedingt: Reihenfolge wie in L1 Erwerb unabhängig von der Muttersprache der L2 Lerner Dulay & Burt 1973, 1974, Paradise, Rice, Crago, Marquis 2008 7
z.b. Genuserwerb (der, die, das) große Herausforderung selbst bei fortgeschrittenen erwachsenen L2 Lernern des Deutschen UNABHÄNGIG davon, ob Genus in Muttersprache vorhanden (Romanisch, Slawisch) oder nicht (Englisch, Türkisch)! Chilla et al. 2008 Im Erstspracherwerb problemlos erworben! Andere Spracherwerbsmechanismen ab dem Alter von ca. 4 Jahren (bes. Flexionsmorphologie) und insbesondere ab dem Alter von 7 Jahren (bes. Syntax)! Transferphänomene (L1 L2): unterstützend oder erschwerend für Grammatikerwerb, Eingeschränkt variabel von Kind zu Kind Vorübergehend bes. in frühen Phasen 8
Forschungsergebnisse zu kindlicher Mehrsprachigkeit liefern uns klare Evidenz dafür, dass es nicht nötig ist, erst EINE Sprache eine bestimmte Schwelle überschreiten zu lassen (vgl. Cummins)*, bevor eine weitere hinzutritt. Tracy 2008 * Interdependenzhypothese Für erfolgreichen Bilingualismus bedarf es keines monolingualen Sprungbretts Tracy 2008 9
Keine Belege dafür, dass ein weiterer Aufbau der Erstsprache im Alter von ca. 3 Jahren den simultanen oder nachfolgenden Erwerb des Deutschen unterstützt. Schulerfolg steht nicht in Zusammenhang mit starker Erstsprache sondern mit guten Deutschkompetenzen (Hopf 2005) Time on a task! (Expositionszeit bis zum Schulbeginn!) Früher Zugang zur Zweitsprache, d.h. im Alter von 3-4 Jahre oder früher, UNABHÄNGIG vom Niveau der Erstsprache (auch in Hinblick auf Schriftsprachniveau in L2) Kovelman, Baker, Petito 2008 Wichtigkeit von Mehrsprachigkeit (Förderung auch der Muttersprache) Sprachlich-kulturelle Identitätsentwicklung Bildungsvorteile (Vgl. EU Forderung des Erlernens zweier Fremdsprachen) Potenzial für die Gesellschaft... 10
Rolle des Alters bei Beginn von L2 Kindliche Anlage zur Mehrsprachigkeit Diese Sensitivität ist nicht zeitlich unbegrenzt verfügbar. Dies gilt insbesondere für den Erwerb von Grammatik und des Lautsystems (weniger für den Wortschatz): Bündel sensibler Phasen Neurolinguistische Veränderungen in Abhängigkeit vom Alter bei Erwerbsbeginn der zweiten Sprache über mehr Areale, erhöhte Aktivierung EKP r.h. l.h. L2: 1-3 Jahre L2: 4-6 Jahre L2: 11-13 Jahre Weber-Fox & H. Neville 1996, 1999 11
Evidenz aus Spracherwerbsforschung Möhring 2001: Deutsche L1, Franz. L2 kritisches Alter für Erwerb des Genussystems 3; 4 Jahre (eher wie L1 oder wie L2 Lerner) vgl. auch Rothweiler (2006): keine Probleme bei Erwerb der Wortstellung durch türkische Kinder (3-4 Jahre) o. Haznedar (2003), Meisel (2008) Sprachstörungen 7-8% der Kinder im Vorschulalter Stark genetisch determiniert (z.b. Choudhury/Benasich 2003, Zwillingsstudien z.b. Tomblin 2009) Somit gleichermaßen bei Kindern mit bilingualem Spracherwerb zu erwarten Sprachstörung in L1 immer auch Sprachstörung in L2 12
Diese Kinder benötigen nicht nur sprachliche Immersion durch deutschsprachige Umgebung im Kindergarten, sondern frühe elternzentrierte Intervention zur Unterstützung der verzögerte Muttersprache und zusätzliche sprachheilpädagogische und logopädische Unterstützung in der L2 Eine frühe Erkennung von Kindern mit hohem Risiko für anhaltende Sprachprobleme ist somit auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern entscheidend. Was ist zu tun? Frühe Erkennung von Kindern mit Risiko für Sprachentwicklungsstörungen SPES-2 und SPES-3 Sprachscreening im Rahmen der Mutter-Kind-Pass Untersuchungen bei Kinderärzten 13
Vorgehen bei nicht deutscher Muttersprache Risikofaktoren 2 Jahre Aktiver Wortschatz lt. Elternbeurteilung Wortverständnis lt. Kinderärztl. Screening Elternsorgen Nicht erstes Geschwister Niedrige Elternbildung 14
Auswertungsbeispiel Elternfragebogen Bosnisch pas Hund auto Auto macka Katze beba Baby krava Kuh mama Mama ptica Vogel voda jesti Wasser essen Gesamt: 8 nos Nase Verstehen von Wörtern 15
Wortverständnis Fremdsprachen Deutsch TÜRKİSCH Lautsprache Ü Zeige mir den Hasen. 1. Zeige mir den Käse. 2. Zeig mir die Schere. 3. Zeig mir den Stift. Bana tavşanları göster. Bana peynir göster. Bana makas göster. Bana kalem göster. Tawschan Peinirr makkass Kallemm 4. Zeig mir den Mund. Bana ağız göster. aahs 5. Zeig mir die Kuh. 6. Zeig mir die Karotte. 7. Zeig mir das Messer. Bana inek göster. Bana havuç göster. Bana bıçak göster. İnek hawutsch bjdschak 8. Zeig mir den Schrank. 9. Zeig mir die Nase. Bana dolap göster. Bana burun göster. Dolapp Burrun Wortverständnis: Große Unterschiede zwischen Sprachgruppen! Eigene Normen erforderlich! Wortverständnis Deutsch n=ca. 2000 SBK n=167 Türkisch n=86 2 2,1% 5,4% 12,8% 3 5,2% 16,2% 36,0% 4 9,8% 32,3% 50,0% 16
Sprachscreening: 3 Jahre Elternfragen: Wie schätzen Sie die Sprachentwicklung Ihres Kindes ein? -überdurchschnittlich -normal -leicht verzögert -deutlich verzögert Machen Sie sich Sorgen über Sprachentwicklung (Muttersprache) Ihres Kindes? - keine -etwas -große Bildet Ihr Kind Sätze aus mindestens 3 Wörtern? (zum Beispiel?) ja - nein Verstehen Bekannte oder Freunde, was ihr Kind sagt? alles das meiste- nur teilweise fast nichts Gibt oder gab es Sprachprobleme bei Familienangehörigen (ältere Geschwister oder Eltern)? ja - nein Satzverständnis (aus SETK 3-5: 6 Fremdsprachen) z.b. Albanisch Ü Der Mann kocht. 1. Der Hund läuft. 2. Die Kinder sitzen unter dem Tisch. 3. Die Frau trinkt nicht. 4. Der Mann schiebt das Pferd. 5. Der Stift ist in der Tasse. Burri gatuan. Qeni vrapon. Fëmijët rrinë nën tavolinë. Gruaja nuk pi. Burri shtyn kalin. Lapsi është në filxhan. 6. Der Vogel sitzt im Baum. 7. Der Löffel ist auf der Kiste. 8. Der Mann sitzt nicht. 9. Der Junge küsst das Mädchen. Zogu rri në pemë. Luga është mbi kuti. Burri nuk është i ulur. Djali puth vajzën. 17
Satzverständnis Satzverständnis Cut offs Satzverständnis Rohwert 3 4 5 Deutsch n=2007 3,8% 6,3% 11,4% Fremdsprachig n= 107 7,5% 15,0% 22,4% 18
Mehrsprachigkeit und Sprachstörung Es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass bei Vorliegen einer Sprachstörung die Problematik durch Mehrsprachigkeit verschärft wird! Kinder mit einer Sprachstörung und Deutsch als einziger Sprache zeigen sehr ähnliche Sprachprofile wie Kinder mit einer Sprachstörung und Deutsch als Zweitsprache (z.b. Rothweiler, Chilla & Clahsen 2009) Kinder mit Sprachstörung und Bilingualismus: gleich bilinguale Sprachverwendung (Codemixing) wie bilinguale Kinder ohne Sprachstörung (Guitiérrez-Clellen, Simon-Cereijido & Erickson Leone (2009) Auch Kinder mit SES oder kognitiven Einschränkungen haben grundsätzlich die Möglichkeiten zum bilingualen Spracherwerb (ASS, Down Syndrom: Feltman & Kay-Raining Bird 2008, Kay-Raining Bird, Cleave, Trudeau, Thordardottir, Sutton & Thorpe 2005) Das Vorliegen einer SES begründet somit keineswegs eine einsprachige Erziehung und Bildung eines Kindes! 19
Die Familiensprache beizubehalten ist zumeist für die soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes und die Familienbeziehungen entscheidend wichtig. Der Einsatz einer Fremdsprache in der Familienkommunikation führt häufig zu sprachlich vereinfachtem Input und wenig natürlicher Kommunikation sowie Mischsystemen. Zusammenfassende Implikationen Frühe Erkennung von Sprachproblemen in der Muttersprache Elternberatung, Elternanleitung einzeln oder in Gruppen zur Förderung der Familiensprache Möglichst früher Zugang zur Zweitsprache (vor dem Alter von 4 Jahren!) UNABHÄNGIG vom Sprachstand in der Muttersprache Bei Verdacht auf Sprachstörung in Absprache mit Eltern frühe Abklärung Beibehalten der Zweisprachigkeit sprachpädagogische UND logopädische Intervention erforderlich. 20
Danke für Ihre Aufmerksamkeit! 21